Alles muss schnell gehen. Wer rein will, muss sich beeilen. Einige bleiben draußen, denn wer einmal drinnen ist, muss zumindest damit rechnen, die nächsten 48 Stunden in dem seit Jahren oder gar Jahrzehnten leer stehenden Gebäude zu verweilen – denn das ist die Frist, in der die Polizei die Häuser ohne vorheriges Gerichtsverfahren „zurückerobern“ kann. Innen wird weiter gearbeitet. Die Rezeptionstheke im Eingangsbereich ist das erste Möbelstück, das als Barrikade von innen gegen die Tür geschoben wird. Jetzt gilt es, dicht zu machen, damit die Polizei nicht gleich wieder räumen kann. Aus den oberen Stockwerken werden sämtliche verbliebenen Möbelstücke gesammelt und Türen ausgehoben, um den Eingang zu verrammeln. Einige, vor allem die Älteren und Frauen mit Kindern, suchen sich einen Platz zum Hinsetzen und beobachten das hektische Treiben um sie herum.
Das elfstöckige Gebäude in der Rua Xavier Toledo ist nur eines von mehreren Häusern in São Paulo, das in der Nacht vom 12. auf den 13. April von Wohnungslosen besetzt wurde. Die Frente de Luta por Moradia (FLM), ein Bündnis verschiedener Wohnungslosenbewegungen, das zur zeitgleichen Besetzung in dieser Nacht aufgerufen hatte, spricht von insgesamt 16 Besetzungen, die meisten im historischen Zentrum der Stadt.
Im „roten April“ mobilisieren sich in Brasilien seit 1996 jährlich linke Bewegungen im Gedenken an ein Massaker an LandarbeiterInnen im Bundesstaat Pará. Die Wohnungslosen nahmen das in diesem Jahr zum Anlass, auf die kritische Wohnsituation in der Megastadt aufmerksam zu machen und politische Lösungen zu fordern. In Sao Paulo leben Tausende Familien in prekären Verhältnissen, in informellen Siedlungen ohne Zugang zu städtischer Infrastruktur wie Müllabfuhr, Wasserversorgung etc., während andere durch die steigenden Mietpreise immer weiter in die Peripherie verdrängt werden und so gleichzeitig den Zugang zum Arbeitsmarkt verlieren. Gleichzeitig stehen allein im Zentrum Hunderte von Gebäuden leer. Dabei ist gesetzlich vorgeschrieben, dass Gebäude eine soziale Funktion erfüllen müssen, ein Gesetz, das in der Praxis von den EigentümerInnen allerdings leicht umgangen werden kann. Für die Erfüllung dieses Rechts setzen sich die BesetzerInnen ein und bestehen auf bezahlbarem Wohnraum und würdigen Wohnverhältnissen.
Cristian ist 18 Jahre alt und lebt seit rund zwei Jahren in einem besetzten Haus in der Rua Marconi, gleich um die Ecke. Er ist in dieser Nacht dabei, um die neue Aneignung leer stehenden Wohnraums zu unterstützen. Bevor er die Bewegungen kennen lernte und mit seiner Mutter ins besetzte Haus zog, wohnte er in einem kleinen Zimmer im zentral gelegenen Viertel Bela Vista zur Miete: „Ich habe 750 Reais bezahlt, für ein Zimmer, halb so groß wie dieses. São Paulo ist teuer. Dabei gibt es so viele riesengroße Häuser, die leer stehen. Und dann so viele Familien, die eine Wohnung suchen.“
Die einzelnen Gruppen – allein in São Paulo gibt es mehr als dreißig verschiedene Initiativen – unterstützen sich bei den Besetzungen gegenseitig und arbeiten oft zusammen: „Die Gruppen kämpfen für die gleichen Ideale. Unser Slogan ist: ‚Wenn Wohnen ein Recht ist, ist Besetzen eine Pflicht‘. Deswegen sind wir hier. Das ist nicht nur für uns, wir helfen so vielen Leuten.“
Ob die Besetzungen aus dieser Nacht gehalten werden können, bleibt abzuwarten. Oft wird von den EigentümerInnen ein Prozess eingeleitet. Nach zwei bis drei Monaten, wenn die Entscheidung zugunsten der Eigentümer fällt, werden die besetzten Gebäude geräumt. Widerstand ist dann selten erfolgreich, da die Konfrontation mit der Militärpolizei vermieden werden soll, um Kinder, Schwangere, alte Menschen und Kranke nicht in Gefahr zu bringen.
In einer anderen Besetzung im Zentrum São Paulos kam es gleich zu Beginn zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Militärpolizei setzte Tränengasbomben und Gummigeschosse ein, um das Eindringen zu verhindern. Eine 64-Jährige wurde verletzt und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ein bis zwei weitere Besetzungen wurden in der Nacht durch die Polizei verhindert oder gleich geräumt.
Doch die BesetzerInnen verlieren auch bei solchen Niederlagen nicht die Motivation. Auch wenn die Gebäude später geräumt werden und Familien ihren eben erst eingerichteten Wohnraum wieder verlassen müssen, wurde zumindest Sichtbarkeit und Bewusstsein für die Anliegen der wohnungslosen Familien geschaffen und Druck für politische Lösungen des Wohnungsproblems aufgebaut.