Die ins Deutsche übersetzte Auswahl ist keineswegs repräsentativ für die Kinder- und Jugendliteratur in Lateinamerika. Insgesamt existieren aber immerhin ungefähr 250 Titel in deutscher Übersetzung: Bücher einzelner AutorInnen sowie Anthologien. Übersetzt wurde aus dem Werk von rund 250 AutorInnen, hauptsächlich aus dem lateinamerikanischen Spanisch und brasilianischen Portugiesisch, aber auch aus den englisch- und französischsprachigen Ländern Lateinamerikas. Viele der verantwortlichen ÜbersetzerInnen sind keineswegs hauptberuflich als solche tätig, sondern RomanistInnen, SchullehrerInnen oder literatur- und kulturinteressierte, aber auch völlig fachfremde Einzelpersonen und in der Entwicklungshilfe – vor allem für Lebens- und Sozialstandards in südamerikanischen Ländern – engagierte Personen. Doch auch die Namen der meisten ÜbersetzerInnen, die für Übersetzungen aus der portugiesischen und spanischen Sprache bzw. für die Übersetzung lateinamerikanischer Literatur bekannt sind, finden im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur mehrfach Erwähnung, darunter Karin von Schweder-Schreiner, Ilse Layer, Inés Koebel, Curt Meyer-Clason oder Willi Zurbrüggen.

Die meisten dieser übersetzten Bücher sind in Deutschland relativ unbekannt. Eine der erfolgreicheren Ausnahmen sind die Abenteuerromane für Jugendliche von Isabel Allende, was auch daran liegen mag, dass die Autorin bereits durch ihre Romane für Erwachsene im deutschsprachigen Raum sehr bekannt ist. In vielen anderen Fällen wurden ebenfalls Kinderbücher bereits bekannter AutorInnen übersetzt, etwa von Gioconda Belli, deren von Wolf Erlbruch illustrierte Geschichte „Die Werkstatt der Schmetterlinge“ sehr erfolgreich war. Auch AutorInnen, die durch die Verleihung internationaler Literaturpreise Aufmerksamkeit erhielten, werden immer gern übersetzt. So wurden in den 1980er- und 1990er-Jahren neun Erzählungen von Lygia Bojunga Nunes im Dressler Verlag veröffentlicht, nachdem sie im Jahr 1982 den Hans-Christian-Andersen-Preis erhalten hatte. In den Jahren, in denen Länder Lateinamerikas Gastländer der Frankfurter Buchmesse waren, ließ sich ebenfalls ein Anstieg der Publikationen von Übersetzungen aus den jeweiligen Ländern verzeichnen (Brasilien 1994, Argentinien 2010, Brasilien 2013).

Doch marktwirtschaftliche Aspekte stehen nicht immer im Vordergrund. Es existiert eine Vielzahl von Einzelstücken und außergewöhnlichen Produktionen, die durch Eigeninitiative von AutorInnen, ÜbersetzerInnen und insbesondere engagierten Verlagen wie Baobab Books (siehe auch Interview auf S. 28) ihren Weg auf den deutschen Buchmarkt finden.

Bei einigen der übersetzten Bücher und Texte handelt es sich um von PädagogInnen ausgewählte Titel, bei denen das didaktische Anliegen im Vordergrund steht. Dieser Rubrik sind viele der Anthologien lateinamerikanischer Kinder- und Jugendliteratur zuzuordnen. Für so manche dieser Anthologien wurden zuweilen Texte ausgewählt, die ursprünglich nicht für Kinder geschrieben wurden. „Jedes Thema, das groß und bewegend ist, spannend und lustig, ist auch etwas für Kinder (…). Wer bei Kindern ankommen will, muss (…) besser schreiben können als einer, der für Erwachsene schreibt“, begründet Peter Schultze-Kraft, einer der Herausgeber dieser Anthologien, seine Auswahl. Damit schreibt er der Kinder- und Jugendliteratur eine qualitative Sonderstellung zu und rechtfertigt zugleich die Behandlung ernsterer Themen.

Andere Bücher wurden, zum Teil zweisprachig, gezielt dafür konzipiert, im Rahmen von Fremdsprachenunterricht eingesetzt zu werden. Dazu zählt unter anderem das Buch „Hoppla Natascha“ des argentinischen Autors Luís María Pescetti, der im Jahr 2001 auf die Empfehlungsliste der Internationalen Jugendbibliothek Schloss Blutenburg aufgenommenen wurde.

Die in den übersetzten Büchern behandelten Themen sind vielseitig. Armut, Gewalt und Drogen gehören zum Alltag vieler lateinamerikanischer Kinder und spielen auch eine zentrale Rolle in den übersetzten Kinder- und Jugendbüchern. Jorge Amados „Herren des Strandes“ und Julio Emilio Braz‘ „Kinder im Dunkeln“ beschreiben den Alltag von Straßenkindern, der von Kriminalität und Ungerechtigkeit geprägt ist. Vor allem in der Zeit der lateinamerikanischen Diktaturen in Brasilien, Chile und Argentinien entstanden politisch motivierte Kinder- und Jugendbücher, als die Zensur KünstlerInnen und Intellektuellen die freie Meinungsäußerung und politische Stellungnahme verwehrte. Die Kinderliteratur mit ihren Parabeln, Analogien und Fabeln ermöglichte es ihnen, sich literarisch mit ihrem sozialen Umfeld zu befassen, Kritik an der politischen Situation zu üben und ihren Ansichten Ausdruck zu verleihen. Aber auch in anderen lateinamerikanischen Ländern entstanden auffallend viele politisch motivierte Texte, in denen die politische Repression und andere Missstände angeprangert und der Kampf gegen die Tyrannei und die Überwindung sozialer Ungerechtigkeit geschildert werden. Schöne Beispiele sind „Das Geheimnis des denkenden Hasen und andere Geschichten“ von Clarice Lispector, die Bilderbücher „Ich, Prinzessin Sophie“ von Triunfo Arciniegas, „Der Aufstand der Zauberhasen“ von Ariel Dorfman oder auch „Wie der Elefant die Freiheit fand“ und „Wie der König seinen Feind verlor“ von Jorge Bucay. Zu den politischen Romanen und Erzählungen für ältere Kinder bzw. Jugendliche gehören unter anderem Inés Garlands preisgekröntes „Wie ein unsichtbares Band“ und „Der Tag, an dem sie Vater holten“ von Luíz Cláudio Cardoso.

Bei einer ganzen Reihe von Büchern handelt es sich um Liebesgeschichten. Ein wunderbares Beispiel ist „Bola und der Torhüter“ von Jorge Amado, in dem sich ein erfolgreicher Fußball in den trotteligsten Torhüter von allen verliebt und fortan nur noch daran denkt, in dessen Arme anstatt ins Netz des gegnerischen Tores zu fliegen. Einige schildern den ganz normalen Alltag der lateinamerikanischen Mittelklasse. Diese Texte entsprechen – zumindest in ihren Übersetzungen – nicht unbedingt den klischeehaften Vorstellungen, die eine deutschsprachige Leserschaft von Lateinamerika hat. Es geht um Freundschaften, um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, um die Freuden und Leiden von Kindern in Schule und Alltag. Ein häufiges Thema ist dabei Fußball, wie in dem Comic „Pelezinho“ von Mauricio de Sousa oder dem Bilderbuch „Bené, schneller als das schnellste Huhn“ von Eymard Toledo (siehe auch Beitrag auf S. 30). Folklore in Form von Märchen, Mythen und Legenden der indigenen Bevölkerung spielt eine große Rolle in der lateinamerikanischen Kinder- und Jugendliteratur, so zum Beispiel in dem Bilderbuch „Der Feuerdieb / Ladrón del fuego“ von Ana Paula Ojeda und Juan Palomino, das in Bildern und Worten davon erzählt, wie das Licht zu den Menschen kam (siehe Rezension auf S. 32). Die Vermischung von Alltäglichem und Phantastischem ist ein typisches Stilelement in den Werken vieler lateinamerikanischer SchriftstellerInnen, etwa bei Lygia Bojunga Nunes oder auch in Rosalba Guzmán Sorianos „Märchenhexe“ (siehe Rezension in ila 363). Andere Bücher hingegen haben – abgesehen von ihrem/r AutorIn – keinen direkten Lateinamerika-Bezug mehr, sondern spielen, wie etwa „Im Garten der Pusteblumen“ von Noelia Blanco, in den phantastischen Welten ihrer AutorInnen.

Ein weiteres wichtiges Thema ist auch der Vergleich verschiedener Kulturen, der einerseits bei Reisen durch ferne Länder und andererseits beim Thema Auswanderung zur Sprache kommt. In Büchern wie „Pina reist nach Griechenland“ und „Pina reist zum Amazonas“ von Flávia Lins e Silva oder auch „Stefanos weite Reise“ von María Teresa Andruetto und dem von Pulitzer-Preisträger Oscar Hijuelos verfassten Roman „Runaway“ stehen diese Themen im Vordergrund.

Lateinamerikanische Gedichte für Kinder werden eher selten in die deutsche Sprache übersetzt. Ausgewählte einzelne Gedichte erschienen in Antholo­gien (darunter Gabriela Mistral) oder als illustrierte Bilderbücher (Jorge Luján: „Sonne im Winter“). Erwähnenswert ist der Versuch einer Neudichtung: Die Sammlung „Pin Uno, Pin Dos, Pin Tres. Das große Buch der Kinderlieder und Reimspiele aus Spanien und Lateinamerika“, herausgegeben von Michaela Schwermann.

Illustrationen sind das auffälligste äußere Kennzeichen der Kinder- und Jugendliteratur. Bei den ersten übersetzten Texten waren Illustrationen noch eine Seltenheit, mittler­weile werden Originalillustrationen immer öfter für die übersetzten Versionen übernommen. Verlage wie Baobab Books legen sogar gerade darauf ausgesprochenen Wert, in der Absicht, eine authentische Literatur aus den Ländern Lateinamerikas, Afrikas oder Asiens im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen. Ein empfehlenswertes Beispiel stellt das Buch „Als die Sonne ein Kind war“ von Ámbar Past dar (siehe Rezension auf S. 33). Bei Bilderbüchern von AutorInnen, die gleichzeitig schreiben und illustrieren und deren Texte und Bilder nur im Doppelpack funktionieren, entfällt die Frage nach Neuillustration. Dies trifft auf das Buch „Flicts“ des brasilianischen Autors Ziraldo oder die inzwischen fünf übersetzten Bilderbücher der im Jahr 2013 mit dem Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis ausgezeichneten argentinischen Künstlerin ISOL zu. Ein ganz anderer Fall sind die vom Schweizer Bajazzo Verlag veröffentlichten zwei Kurztexte sowie ein Gedicht der bekannten lateinamerikanischen Autoren Julio Cortázar („Rede des Bären“), Eduardo Galeano („Die Geschichte von der Auferstehung des Papageis“) und Pablo Neruda („Ode an einen Stern“). Aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und in Verbindung mit farbenprächtigen Illustrationen wurden aus den ursprünglich nicht für Kinder verfassten Texten außergewöhnliche Bilderbücher. Publikationen wie diese sind nur einer der Gründe, die es erschweren, eine Zuteilung nach Altersgruppen vorzunehmen.

Die Aufgabe und vielleicht größte Herausforderung der ÜbersetzerInnen ist es, Dinge zu erklären, die im deutschsprachigen Kulturraum nicht unbedingt bekannt sind und für die es in der deutschen Sprache womöglich (noch) gar keine Entsprechung gibt. Einerseits besteht gerade in Texten für Kinder und Jugendliche häufig die besondere Notwendigkeit, Fremdartiges zu erklären und um des besseren Verständnisses willen an die zielsprachliche Kultur anzupassen. Andererseits wird oftmals gerade auf die Vermittlung von „Fremdem“ großer Wert gelegt. „Andere“ Kulturen vorzustellen und zu erklären ist eine Absicht, die hinter vielen dieser Bücher steht. Und gerade dafür bieten sie natürlich eine wunderbare Möglichkeit. Dass das aber auch nicht ganz einfach ist, lässt sich an den „Botschaften“ der ÜbersetzerInnen, AutorInnen oder HerausgeberInnen an die LeserInnen erkennen, die in Form von Vor- und Nachworten, Aussprachehilfen, Erklärungen zu Namen, Gegenständen, Orten, politischen und historischen Ereignissen auffallend oft in übersetzten Büchern zu finden sind.

Dieses Verständlichmachen kultureller Differenzen ist beson­ders wichtig, da gerade noch unbekannte lateinamerikanische AutorInnen und deren Bücher eine schwierige Ausgangsposition auf dem deutschen Buchmarkt haben. Sie müssen mehr leisten, um auf sich aufmerksam zu machen, und womöglich auch mehr anbieten, um das Interesse potentieller KäuferInnen zu wecken.

Sicherlich ist dies mit einer der Gründe für das Phänomen der „All-Age-Literatur“. Bücher wie „Das Mädchen von Chimel“ von Rigoberta Menchú und „Die Blume und der Baum“ von Gioconda Belli werden vom Peter Hammer Verlag nicht in der Kategorie „Kinder-/Jugendbuch“, sondern in der Kategorie „Das besondere Buch“ geführt. Der in der Jugendbuchreihe „Fischer Schatzinsel“ erschienene Geschichtenband „Das Licht ist wie das Wasser“ von Gabriel García Márquez enthält Erzählungen aus den „Zwölf Geschichten aus der Fremde“, in denen Kinder die Hauptfiguren sind. Somit wird sichergestellt, dass die Publikationen sowohl das Zielpublikum Kinder als auch die erwachsenen KäuferInnen ansprechen. Und das gelingt ihnen durchaus. Gerade in jüngerer Vergangenheit wurde die Kinder- und Jugendliteratur von (Buch-)KünstlerInnen erobert, die Kunstwerke aus Wort und Bild erschaffen. Kunstvoll illustriert und mit philosophischen, auf verständliche und unterhaltsame Art und Weise präsentierten Inhalten kommt das Medium Kinderbuch inzwischen als Erlebnis für die ganze Familie daher.

Seit Beginn dieses Jahres sind bereits wieder sieben deutschsprachige Publikationen lateinamerikanischer Kinder- und Jugendliteratur erschienen. Jede davon ist bemerkenswert, nicht nur wegen des langen und oft komplizierten Wegs, den sie zurücklegen müssen, um bei ihrem deutschsprachigen Lesepublikum anzukommen, sondern auch wegen des persönlichen Einsatzes der AutorInnen, LektorInnen, ÜbersetzerInnen und Verlage. Hervorzuheben sind Luis Sepúlvedas Liebeserklärung an die Langsamkeit, „Der langsame Weg zum Glück. Ein Schneckenabenteuer“ und Marcelo Pimentels Bilderbuch „Eine Geschichte ohne Ende“, das den Betrachtenden einen Spaziergang durch den – in Anlehnung an indigene Motive dargestellten – Urwald ermöglicht. María Julia Díaz Garridos „Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein“ ist eine eindrucksvolle Anregung zum Nachdenken über uns selbst und die Gesellschaft, in der wir leben. Es sind Bücher, an die man gern zurückdenkt, wenn man sich aus der Geborgenheit des Lesesessels erneut der Welt stellt.

Der einleitend zitierte Jairo Aníbal Niño schrieb über Gedichte, die nach Erdbeereis schmecken, und eine Literatur, die uns bis in unsere Träume hinein begleitet. Etwas Ähnliches schwebte wohl der Künstlerin ISOL bei der Arbeit an ihrem jüngsten übersetzten Werk vor: In „Nachts leuchten alle Träume“ werden die Lesenden mit „5-Minuten-Rezepten für allerlei Träume“ und im Dunkeln leuchtenden Zeichnungen zum Träumen aufgefordert. Man darf darauf hoffen, dass unter den zukünftigen Übersetzungen weitere außergewöhnliche Geschichten sein werden, die uns zum Träumen veranlassen.