Kupido heißt ein neuer Verlag aus Köln, der seit 2020 Bücher aus Lateinamerika und der Iberischen Halbinsel, dem Maghreb sowie der Ukraine in deutscher Übersetzung herausgibt. Verlagsgründer Frank Henseleit war bislang als Übersetzer portugiesischer Literatur hervorgetreten. Neben dem Katalanen Blai Bonet (1926-1997), dem aus Sevilla stammenden Journalisten Manuel Chaves Nogales (1897-1944) und dem Portugiesen Mário de Sá-Carneiro (1890-1916) erscheint auch der Peruaner Jaime Begazo (Lima, 1957) im ersten Verlagsprogramm – alle Genannten mit jeweils einem Titel, die vom Verleger selbst übersetzt wurden. Für den Herbst 2021 sind zweisprachige Ausgaben von García Márquez‘ „Die Spur deines Blutes im Schnee“ (in neuer Übersetzung) und der Gedichtband „Weil ich schrieb“ des Chilenen Enrique Lihn (1929-1988) angekündigt, wofür Henseleit auf die Mitarbeit versierter Übersetzer*innen zurückgreift.
Jaime Begazos Roman „Die Zeugen“ ist vieles: Kriminalroman, Sozialroman, historischer Roman, zumindest weist er Elemente all dieser Genres auf. Am ehesten ist er ein Metaroman, ein Roman über die Erzählung „Emma Zunz“ (1948) von Jorge Luis Borges. Die spielt im Buenos Aires des Jahres 1923. Die Arbeiterin Emma kommt aus der Textilfabrik Loewenthal nach Hause und findet einen Brief aus Brasilien vor, der sie über den Selbstmord des Vaters informiert. Sie weiß, dass ihr Vater die „Qual der Schmach“ nicht mehr ausgehalten hat. Der hatte vor Jahren aus Buenos Aires fliehen müssen, weil er als Kassierer bei Loewenthal Gelder unterschlagen haben soll. Tatsächlich war Loewenthal selbst, damals Geschäftsführer, inzwischen alleiniger Eigentümer der Fabrik, der Missetäter gewesen.
Die zwanzigjährige Emma erkennt, dass sie von dem Mann abhängig ist, den sie für die Tragödie ihres Vaters verantwortlich macht. Sie trifft die Entscheidung, den Vater zu rächen und Loewenthal zu töten. Dafür heckt sie einen raffinierten Plan aus: Sie verabredet sich mit Loewenthal, um ihm Informationen über einen bevorstehenden Streik zu verraten. Zuvor sucht sie eine heruntergekommene Hafenkneipe auf und lässt sich mit einem skandinavischen Seemann ein, der sie vergewaltigt. Dann sucht sie Loewenthal in dessen Büro auf. Sie bittet ihn um ein Glas Wasser und nutzt seine kurze Abwesenheit, um dessen Pistole aus dem Schreibtisch zu entwenden. Als er zurückkommt, erschießt sie ihn. Sie ruft die Polizei und behauptet, sie habe ihren Chef erschossen, weil der sich an ihr vergangen habe. So nimmt sie Rache und geht dennoch straflos aus.
Wenige Wochen vor Borges‘ Tod, im Frühjahr 1986, besucht ein peruanischer Literaturprofessor (Begazos Alter Ego) den argentinischen Erzähler in Genf und konfrontiert ihn mit seinem Verdacht, manches in „Emma Zunz“ basiere auf wahren Begebenheiten, sei wohl nicht seiner Phantasie entsprungen. Begazos Verdacht fußt auf einer Figur, „die nur eine Sekunde lang in einer seiner bekanntesten Erzählungen auftaucht“. Er fragt Borges, wer dieser Milton Sills ist. Der überraschte Borges versinkt in Erinnerungen und nimmt Begazo mit auf eine Reise in das Buenos Aires der 1920er-Jahre. Er habe schon geglaubt, nie werde jemand ihn nach Milton fragen. Der habe natürlich existiert, 1922 habe er ihn in der Stadtbücherei, wo er eine Stelle angenommen hatte, kennengelernt. Milton habe nach Literatur zu gewerkschaftlicher Organisierung verlangt; sie seien bald Freunde geworden.
Als Borges erzählt, dass er auch Emma getroffen habe, Milton habe sie ihm vorgestellt, verändert dies Begazos Sicht auf Borges, den er immer als „Meister der Fiktion“ bewundert hat. Aus dem Genie wird ein einfacher Autor einer wahren Kriminalgeschichte, in der er offfenbar nur ein paar Adjektive hinzugefügt sowie Namen und Zeitangaben verfremdet hatte. Jetzt sieht er den Erzähler „auch als Menschen, einen blinden Alten mit schlechtsitzendem Krawattenknoten, der gleichwohl der Patriarch war, den ich seit meinem Studium so sehr bewundert hatte“.
Begazo greift in „Die Zeugen“ die Handlung aus Borges‘ Erzählung auf und reichert sie mit weiteren Figuren und spannenden Handlungssträngen an. Dazwischen erfahren wir Details aus der Welt der Literaturwissenschaft, vor allem aber vom Verlauf der Besuche und Gespräche Begazos mit dem Altmeister der kurzen Prosa und der fast 40 Jahre jüngeren María Kodama, die Borges noch in seinem Todesjahr heiratete.
Doch davon soll nicht viel verraten werden. Nur das: Wenn Borges mit Begazo in den Gesprächen Katz und Maus spielt, dann macht Begazo das Gleiche mit uns. Sein spannender Roman motiviert, nicht nur „Emma Zunz“, sondern das Gesamtwerk des argentinischen „Meisters der Fiktion“ (erneut) zu lesen.