Rodrigo Rey Rosa ist kein Freund vieler Worte. Die Texte des guatemaltekischen Autors, Jahrgang 1958, sind extrem sparsam in der Sprache, hangeln sich scheinbar an der Oberfläche der Dinge entlang, schweigen sich über Hintergründe aus. Und doch reißen sie tiefe Löcher. So auch in „Stallungen“, kürzlich im Wiener Septime Verlag erschienen. Auf gerade einmal 115 Seiten legt Rey Rosas einen Thriller, ein beißendes Gesellschaftsportrait und eine Reflexion über das Schreiben in einem vor. Eine „Novelle“ nennt der Septime Verlag denn auch treffend das Buch, das der Alfaguara Verlag 2013 als Teil einer Tetralogie mit dem Titel „Imitationen Guatemalas“ herausgebracht hatte. „Miniaturen“ oder „Verdichtungen Guatemalas“ hätte vielleicht noch besser gepasst.
Ein Ausrutscher löst in „Stallungen“ eine Katastrophe aus. Der Ich-Erzähler hatte vorgegeben, im Gebüsch kurz pinkeln zu gehen, stürzt im Schlamm und entdeckt ein Geheimnis. Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Der Erzähler indessen ahnt nicht einmal, was er da im wörtlichen Sinne losgetreten hat, Lesende ebensowenig. Wo im Film ein atonaler Aufschrei von Geigen Zuschauende gewarnt hätte, sind Lesende keinen Deut schlauer als der sich den Lehm abklopfende Ich-Erzähler. Und doch befinden wir uns am Wendepunkt, und zwar genau in der Mitte der Novelle, noch genauer im siebten Kapitel von insgesamt 14, auf Seite 57.
Der Erzähler, der übrigens Rey Rosas heißt und Schriftsteller ist, besucht zum zweiten Mal die Finca Palo Verde im Besitz der steinreichen guatemaltekischen Familie Carrión. Wenige Tage zuvor hatte er seinen Vater, der einst den ersten andalusischen Hengst nach Guatemala importiert hatte, zur Feier des 88. Geburtstags des Patriarchen Don Guido auf das Anwesen begleitet. Er langweilt sich, kommt sich vor wie in einem „Mikrokosmos der guatemaltekischen Gesellschaft“ (S. 8), mit Großgrundbesitzern, Industriellen, Ärzten usw. an der Spitze der Pyramide, waffenstrotzend, hinten und vorne bedient von den Teilen der Bevölkerung, die mit ihrer Arbeit die Privilegien einer feudalen und machistischen Elite unterstreichen. Frauen sind auf dem Fest unerwünscht, einzig als reichlich Drinks verteilende Hostessen zugelassen. Don Guido Carrión hält Hof, Gratulanten defilieren artigst und parlieren mit ihresgleichen. Für Unterhaltung sorgt eine „Show“ (sic), bei der prächtige Pferde ihr andressiertes Können zeigen, bis dass eins von ihnen, ausgerechnet der Hunderttausend-Dollar-Deckhengst Duro II, nach einer Explosion im Stall verbrennt. Das Fest ist aus. Die Zeitungen werden den immerhin erheblichen Vorfall nicht erwähnen.
„Über das hier sollen Sie schreiben“ (S.5), hatte jemand, der sich als Anwalt vorstellte, Rey Rosas noch auf dem Fest gesagt. Zunächst unsicher, was das Material literarisch hergibt, sucht Rey Rosas den Anwalt dennoch kurz nach dem Brand auf. Dieser erläutert ihm weitere Elemente einer potenziellen Erzählung, begleitet ihn zu möglichen Zeugen, dann auch auf die Finca selbst, wo besagter fataler Ausrutscher stattfindet und der Beobachter zunehmend in die Rolle des unschuldig-schuldigen Mit-Täters schliddert und von dort in die des möglichen Opfers gerät.
Am Ende löst sich ein Familiengeheimnis. Eine Familie der Elite ist in ihrer Korruptheit, Brutalität, Gesetzlosigkeit wie auch sexuellen Verklemmtheit zwar entlarvt, weitere ihrer Verbrechen werden tast- und sichtbar. Es gibt mehrere Tote, zugespitzte Spannung und eine Rettung. Doch die nächste Gefahr ist schon im Anzug. Denn die Regeln, nach denen die offen wie auch latent gewalttätige Gesellschaft funktioniert, blieben bei der Auflösung unangetastet.
Und so bleibt alles noch zu tun. Auch der Roman – oder die Novelle – ist noch nicht geschrieben. Der Ich-Erzähler hat im letzten Kapitel noch keinen Satz zu Papier gebracht und hört sich weitere Aufklärungen aus dem Mund des Anwalts an, der zwar eine Widmung im künftigen Roman erbittet, aber darin nicht wörtlich zitiert sein will. Wesentliche Elemente der in Entstehung begriffenen Geschichte stammen damit von jener Figur, die sich als Informant, ja fast Agitator zwischen Autor und eher unentschlossenen Ich-Erzähler schiebt. Die literarisch eingefahrenen Instanzen beginnen zu tanzen. Die Form der Novelle entpuppt sich als genauso wichtig wie deren Inhalt, ja bringt selbst Inhalt hervor und ist gleichzeitig Objekt des Zweifels. Wer ist letztlich Urheber der Geschichte und in welchem Moment fügt sie sich zusammen? Wer macht Macht?
Rodrigo Rey Rosa hat in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder aufwühlende Fragestellungen in äußerste Lakonie geschürzt, Sinngebung durch die Lesenden dadurch unterstützt, dass er Probleme freilegte, nicht mit vorgegebenen Bedeutungen überdeckte. Oft ist er selbst Romansubjekt und häufig sind die Orte die, an denen er selbst gelebt hat: New York und Tanger und natürlich Guatemala – wobei Rey Rosas auf strukturelle Gewalt, Moral, Schuld und Rache zielende Fragestellungen auch anderswo behandelt werden könnten, sofern dort Strukturen und Konstellationen vergleichbar sind.
Leider sind nur relativ wenige Romane Rey Rosas ins Deutsche übersetzt, zwei von Erich Hackl, „Der Henker des Friedens“ (dt. 2001) und „Die verlorene Rache“ (dt. 2002), sowie „Tanger“ (dt. 2004) von Arno Gimber. In „Stallungen“ stammt die Übertragung von Elisabeth López-Semeleder. In ihrem kurzen Glossar („Wissenswertes“) am Ende der Novelle scheint die Problematik der Entscheidung bei jeder Übersetzung auf: Im Original heißt der Sohn Don Guido Carrións „la Vieja“, wörtlich und zweifellos verstörend „die Alte“. Elisabeth López-Semeleder hat sich im Deutschen für „der Zarte“ entschieden. Gut, dass sie diesen ebenso deutungsschwangeren Eingriff offengelegt hat.
Rodrigo Rey Rosa: Stallungen – Novelle. Septime Verlag, Wien 2014, 117 Seiten, 16,40 Euro. Aus dem guatemaltekischen Spanisch von Elisabeth López-Semeleder