Die im weltweiten Vergleich extrem geringen Steuereinnahmen in den Staaten Lateinamerikas und der Karibik haben eine ganze Reihe von Ursachen. Nicht dass generell die Steuern niedriger wären als hierzulande, es zahlen nur viel weniger Menschen Steuern. Dafür soll das Steueraufkommen vor allem von Unternehmen geleistet werden, aber das ist nur Theorie. Steuerhinterziehung, schwacher Zahlungsmoral, undurchsichtigen Steuergesetzen oder chronisch unterbesetzten oder ineffizienten Steuerbehörden ist’s gedankt.
Es liegt in der Natur der Sache, dass das Ausmaß an Steuerhinterziehung nur geschätzt werden kann, aber vermutlich müssten zwischen 30 und 60 Prozent mehr gezahlt werden, als es heute der Fall ist. Diese Dimension zeigt, dass sehr viele wirtschaftliche Aktivitäten, Umsätze und Gewinne nicht deklariert werden – was die Aussagekraft der meisten offiziellen Wirtschaftsstatistiken ebenfalls in Zweifel zieht. Dazu kommen oft komplizierte Steuergesetze mit zahlreichen Ausnahmeregelungen, Sonderfällen und hohen Freibeträgen. Dabei überrascht es nicht, dass besonders die BezieherInnen hoher Einkommen und Großunternehmer von den Sonderregeln und Freibeträgen profitieren.
In den in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zusammengeschlossenen Industrie- und Schwellenländern machen Steuern im Mittel 33,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus, in Lateinamerika und der Karibik sind es gerade einmal 19,4 Prozent (2010), und das, obwohl sie zwischen 1990 und 2008 kräftig gestiegen sind (danach kam es als Folge der globalen Krise zu einem leichten Knick). Zum Vergleich: Deutschland meldete 2010 36,1 Prozent, 2011 37,1. Mexiko war mit einem Prozentsatz von 18,8 im Jahr 2010 das Land, dessen Steueranteil am BIP unter allen OECD-Ländern das niedrigste war. Ähnlich niedrig liegt er in Chile, dem anderen OECD-Land in Lateinamerika. Niedrige Fiskaleinkünfte bedeuten wenig Spielraum für öffentliche Aufgaben wie Bildung, Transport, Gesundheitswesen, Grundversorgung. Zudem sind die meisten Einnahmen für die Finanzierung laufender Kosten fest verplant, für Investitionen in Infrastruktur, Energieversorgung und soziale Aufgaben bleiben kaum Mittel.
Natürlich gibt es regional in Lateinamerika und der Karibik große Unterschiede. Argentinien, dessen Steueraufkommen in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen ist, und Brasilien liegen mit weit über 30 Prozent fast im OECD-Mittel, während Kolumbien, El Salvador, Guatemala, Paraguay und Venezuela die geringsten Steuereinnahmen verzeichnen. Venezuela bildet das Schlusslicht mit einem Anteil von 11,4 Prozent (2010). Hier werden die Erdöleinnahmen für die Finanzierung öffentlicher Ausgaben herangezogen.
Eine weitere Besonderheit der Steuersysteme in Lateinamerika ist die vergleichsweise geringe Bedeutung von Einkommensteuern (ca. 25 Prozent des BIP), während sie im OECD-Mittel rund ein Drittel umfassen. Den Löwenanteil der Steuereinnahmen in Lateinamerika und der Karibik machen indirekte Steuern aus, Mehrwert- und andere Verbrauchssteuern. Fast sechzig Prozent der Steuereinnahmen werden durch sie erzielt und sie sind damit in fast allen Ländern dieser Region die wichtigste Einnahmequelle der Staaten. Mehrwert- und Verbrauchssteuern sind sozial ungerecht, weil Arme und Reiche die gleichen Steuern auf Waren und Produkte zahlen. Auch wenn rund 20 Prozent der Bevölkerung (die mit den höchsten Einnahmen) mehr als 50 Prozent aller Steuern zahlen, ist durch die hohen indirekten Steuern die effektive Steuerbelastung der armen Haushalte proportional viel höher.
Dort, wo der Staat dann wieder mit Subventionen eingreift, um z.B. die Preise für Grundnahrungsmittel, Trinkwasserversorgung, Elektrizität, Benzin oder Gas niedrig zu halten, zahlen alle gleichermaßen (weil das Geld aus Steuereinnahmen stammt). Tatsächlich zahlen Länder wie Venezuela, Mexiko und Ecuador für solche Subventionen, vor allem für Treibstoffe, mehr als für Gesundheit und Bildung. Davon profitieren Mittelschicht und Reiche (z.B. die Autobesitzer) mehr als die Armen. So gibt es zum Beispiel Vorschläge, die Benzinpreise in Venezuela, die noch nicht einmal die Produktionskosten einbringen, nur für ärmere Bevölkerungsschichten zu subventionieren. Dies könnte z.B. dadurch erreicht werden, dass nur das Benzin für die im Nah und Fernverkehr eingesetzten Busse und für bestimmte LKWs vergünstigt abgegeben wird. Warum sollen die Wohlhabenden staatlich subventioniertes superbilliges Benzin haben, von dem sie wegen des niedrigen Preises auch noch mehr verbrauchen? Auch der Bezug von subventioniertem Strom und Gas könnte an ein niedriges Einkommen oder einen niedrigen Verbrauch gekoppelt werden, wie dies beispielsweise die FMLN-Regierung in El Salvador versucht. Die Umsetzung ist jedoch mehr als kompliziert (zu El Salvador vgl. den Beitrag „Die Zuschüsse denen, die sie benötigen“ von Helene Kapolnek in der ila 345).
Der hohe Anteil an indirekten Steuern erklärt sich aus der Geschichte des Subkontinents. Traditionell waren in Lateinamerika und der Karibik Einkommensteuern weniger wichtig als Steuern auf Importe und Exporte. Mit Beginn der Schuldenkrise Anfang der 80er-Jahre waren die Regierungen gezwungen, höhere Steuereinnahmequellen zu erschließen. Entsprechend den „Vorschlägen“ der Internationalen Finanzinstitutionen (Internationaler Währungsfonds, Weltbank, Interamerikanische Entwicklungsbank) waren das dann meist indirekte Steuern auf Konsumgüter aller Art. Gesellschaftspolitische Aspekte wie Umverteilung spielten dabei keine Rolle mehr. Außerdem mussten die Länder im Zuge der von den Internationalen Finanzinstitutionen verlangten Öffnung der Märkte „Import- und Exportzölle“ abbauen. Das setzt sich gegenwärtig mit regionalen Bündnissen und Freihandelsabkommen fort. Bis heute liegt der Anteil an Monopolsteuern und Steuern auf internationalen Handel mit 16,5 Prozent höher als im allgemeinen OECD-Mittel (10,8 Prozent), obwohl er seit Jahren kontinuierlich gesunken ist.
In den Ländern, die in erheblichem Maße Rohstoffe exportieren, sind die darauf erhobenen Abgaben und Steuern die wichtigste Quelle öffentlicher Einnahmen. Das bedeutet natürlich auch eine Abhängigkeit von den internationalen Rohstoffpreisen. In Chile machten die Abgaben auf die Rohstoffexporte 2006-2008 rund ein Drittel aller Steuereinnahmen aus. Vor allem durch den Einbruch bei den Kupferpreisen sank der ohnehin geringe Steueranteil am BIP in Chile (s.o.) von 2008 auf 2009 von 18,5 auf 14,6 Prozent. Auch in Kolumbien, Ecuador und Bolivien generieren Steuern auf und Einnahmen durch Rohstoffexporte einen großen Anteil der Steuereinnahmen. Der krasseste Fall ist hier Venezuela, das sechzig Prozent seiner öffentlichen Einnahmen durch den Export von Erdöl und seinen Derivaten erwirtschaftet. Generell ist die Schwankung der jährlichen Steuereinnahmen in Lateinamerika und der Karibik sehr groß (mehr als doppelt so groß wie in den Industriestaaten, wo sie bei rund fünf Prozent liegt). In den Staaten mit großer Abhängigkeit von Einnahmen aus dem Rohstoffexport liegt sie um ein Vielfaches höher. Am höchsten sind diese Schwankungen in den Petroökonomien Venezuela und Ecuador, wo sie um fast 25 Prozent variieren können. Wenn sich diese Länder ökonomisch und sozial weiter entwickeln wollen, brauchen sie eine andere Steuerpolitik.
Ein großer Anteil der Wirtschaft in Lateinamerika und der Karibik spielt sich im informellen Bereich ab. Das reicht vom Stand der ambulanten Straßenverkäuferin bis zum Palastbau für Reiche an idyllischen Küsten,wo natürlich keine Steuern bezahlt werden, weder Gewerbe- noch Einkommensteuern. Das ist ein weiterer Grund für das niedrige Steueraufkommen. Für die Regierungen, besonders für die Mitte-Links-Regierungen mit einem sozialen Anspruch, bedeutet dies ein Dilemma: Je teurer die formale Arbeit durch Arbeitsschutz- und Sozialabgaben wird, desto attraktiver wird der informelle Sektor und desto weniger Sozialversicherungsbeiträge werden gezahlt.
Dazu kommt eine weitere Besonderheit einer ganzen Reihe lateinamerikanischer Staaten. Ein großer Teil der Steuereinnahmen geht in Pensionszahlungen für ehemalige Staatsbedienstete. Das gilt zum Beispiel für Mexiko und Brasilien. Die Einzahlungen dieser Gruppen in die Rentenkassen reichen bei weitem nicht aus für die großzügigen Pensionen, die zum Teil nach dem Tod des Anspruchsberechtigten ohne Abstriche an Ehegatten und Kinder weitergezahlt werden. Es sind durchgehend die oberen Einkommensschichten, die den allergrößten Teil der Pensionszahlungen beziehen.
Nur die sozialen Zahlungen an arme Haushalte wie die Bolsa Família in Brasilien, Oportunidades in Mexiko, Juntos in Peru oder Asignación Universal por Hijo (AUH) in Argentinien – die es inzwischen in fast 20 Ländern der Region gibt und von denen geschätzte 100 Millionen Menschen profitieren – fallen in dieser Betrachtung aus dem Rahmen. Sie kommen den Ärmsten der Armen zugute und lindern die Armut, fördern den Schulbesuch der Kinder und die Gesundheitsvorsorge. In den wenigsten Fällen wird dafür mehr als ein halbes Prozent des BIP aufgewendet. So wichtig sie für die EmpfängerInnen sein mögen, so sind sie doch nur ein kleiner Ansatz zu mehr sozialer Gleichheit. Die Verteilung oder Umverteilung von Steuereinnahmen oder sonstigen Staatseinkünften alleine wird nie zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen, dazu braucht es eine Umgestaltung der Gesellschaft. Eine solidarische und transparente Steuerpolitik ist dafür unabdingbar.