Gerade rechtzeitig, bevor ab Juli 2007 die Anlage der Rentenersparnisse vor allem auf den internationalen Märkten zum Minusgeschäft für die EinzahlerInnen wurde, setzten die Afores eine für sie günstigere Berechnungsgrundlage für die Kommissionen sowie deren kräftige Erhöhung durch. Das bescherte ihnen Gewinnzuwächse im zweistelligen Bereich. Das Vorgehen erinnert stark an die Bonuszahlungen für die ManagerInnen von heruntergewirtschafteten Banken und Versicherungsinstituten. Und wer hätte es gedacht, hinter fast allen in Mexiko operierenden Afores stecken internationale Banken und Versicherungen: Metlife, Futuro GNP, ING, Banamex (Citigroup), Bancomer (BBVA), HSBC sind einige der illustren Namen.
Insgesamt verbuchten die Afores so in elf Jahren mehr als 120 Milliarden Pesos auf ihrer Habenseite. Eine höhere Summe als der sogenannte Sozialbeitrag von insgesamt gut 116 Milliarden Pesos, mit der der mexikanische Staat offiziell die Renten aufbessern will. Vereinfacht gerechnet: Dieser Staatszuschuss landete über die Kommissionen direkt bei den Betreibern der Rentenfonds. Weltweit stehen die mexikanischen Afores mit ihren „Gebührensätzen“ in der absoluten Spitzengruppe. Böswillige Zungen sprechen von Plünderung und Abzocke. Unterdessen konstatiert der jüngste Mexiko-Bericht der OECD, dass „die ArbeitnehmerInnen mit mittlerem Einkommen bei dem aktuellen privaten Rentensystem ein Renteneinkommen erhalten [werden], das nur 36 Prozent ihres letzten Lohnes entspricht. Diese Ziffer ist die niedrigste der Mitgliedsländer der Organisation.“
Wie viele andere lateinamerikanische Länder mit neoliberalen Regierungen nahm sich auch Mexiko in den 90er Jahren die Rentenprivatisierung in Chile (1981) zum Vorbild. Dort war die Privatisierungsreform den Lohnabhängigen unter der Militärdiktatur „mit Unterdrückung, Folter und Mord“ aufgezwungen worden, wie es José Steinsleger in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada vor kurzem schrieb. Mexiko kopierte 1997 unter Präsident Ernesto Zedillo von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) weitgehend das chilenische Modell. Die konservative Parlamentsopposition der Nationalen Aktion (PAN) trug die Reform mit. Aus einem einheitlichen staatlichen Rentenfonds mit Solidarelementen nach dem Umlageverfahren entstanden individuelle Rentenkonten (das sogenannte Kapitalde-ckungsverfahren).
Je nach Alter der EinzahlerInnen wurden diese Rentenkonten auf fünf Anlagekategorien mit unterschiedlich großem Risikospielraum für die Investition der Ersparnisse verteilt, die sogenannten Siefores. Die Grundregel dabei: Je jünger die RentenzahlerInnen, desto mehr dürfen ihre Ersparnisse in Risikopapieren angelegt werden. Für Banken und Versicherungen tat sich ein lukratives Geschäftsfeld als Fondsbetreiber in Mexiko auf. Anfänglich gab es zwölf zugelassene Afores, heute pendelt ihre Zahl um die 20.[fn]Für einige Jahre verwalteten auch die Allianz-Versicherung und die Dresdner Bank einen Rentenfonds in Mexiko. Sie verkauften ihn 2003 an die Bank HSBC mit Sitz in London.[/fn]
Eine Initiative der PAN unter Führung ihres damaligen Fraktionsvorsitzenden Felipe Calderón, heute Präsident Mexikos, macht es seit 2002 möglich, bis zu 20 Prozent der Rentengelder in ausländische Risikofonds zu investieren. Genau dort machten die Afores in 2008 ihre großen Verluste. Zwar wurde die Zahl von 20 Prozent nie ausgeschöpft, doch auch so sprechen die Resultate eine klare Sprache. In der ersten Kategorie (Siefore 1) sind die Rentenkonten für ArbeitnehmerInnen zusammengefasst, die älter als 56 Jahre sind. Die Auflagen lassen nur ein konservatives, wenig risikofreundliches Investitionsmuster zu. Knapp 90 Prozent der Einlagen sind zu festen Zinsen und in Regierungspapieren angelegt. Dies ist die einzige Kategorie, die im vergangenen Jahr wenigstens ein kleines Plus aufzuweisen hatte. Die Kategorie 5 traf es dagegen besonders heftig – vor allem die jungen Leute, die heute nicht wissen, was sie von ihrem eingezahlten Geld wiedersehen, wenn sie in Rente gehen.
Unter den Afores besteht theoretisch Wahlfreiheit. Auch ein Wechsel ist nach einer anfänglichen Festlegung möglich. Doch letztendlich ist es eine Art Lotteriespiel, denn die wenigsten EinzahlerInnen haben die Möglichkeit, sich einen wirklichen Überblick zu verschaffen. José Steinsleger: „Die TechnokratInnen haben ein ganzes Glossar von Begriffen und Gesetzesbestimmungen erfunden, die nicht nur von den Alten, sondern von der gesamten Gesellschaft nicht mehr verstanden werden.“ Millionen MexikanerInnen wurden faktisch den verschiedenen Afores zugewiesen. Die Nationale Rentenkommission (CONSAR), in der sich unter Federführung der RegierungsvertreterInnen auch staatsnahe traditionelle Gewerkschaftsverbände und die Vereinigung der mexikanischen Industriekammern befinden, hat den offiziellen Auftrag, „die Rentenersparnisse der ArbeitnehmerInnen zu schützen, in dem sie eine Wettbewerbssituation schafft, die ihnen die informierte Ausübung ihrer Rechte erlaubt, damit sie würdige Renten erhalten“. Doch wirkliches Interesse, Information und Aufklärung anzubieten, ist bei der CONSAR nicht feststellbar.
Die Entwicklung der vergangenen zwei Jahre rief lange Zeit kaum Beachtung hervor. Da die Rentenreform mit elf Jahren noch relativ jung ist, muss noch niemand nach den neuen Bestimmungen in Rente gehen. Wer vor 1997 im staatlichen Rentensystem war, kann sich die Rente nach den alten oder den neuen Bestimmungen berechnen lassen. Bisher wird ausschließlich das alte System gewählt, da die Bezüge dann höher sind. Erst in zehn bis 15 Jahren würden immer mehr Menschen diese Option nicht mehr haben. Da lohnt sich ein Blick zum Vorreiter Chile: „Der chilenische Staat widmet jährlich ein Drittel der öffentlichen Ausgaben der Fürsorge für 80 Prozent der Mitglieder der AFP (die chilenischen Afores), die über keine zum Überleben ausreichende Rente verfügen“, schreibt Steinsleger.
Der Autor bringt zudem erhellende Informationen zum Thema „sichere Anlage“ der Rentenbeiträge: „Die Regierung Bachelet erklärte, es sei nicht ratsam, dass die BeitragszahlerInnen zum (als risikoarm qualifizierten) ‘Fonds E’ der AFP wechselten, denn das könne den Absturz der Börse produzieren. Diesen Fonds wählte übrigens Alfredo Ovalle, Vorsitzender des Unternehmerverbandes, bevor die aktuelle Finanzkrise begann. Und die Streitkräfte? Die Militärs, die in Chile die AFP mit Feuer und Schwert durchsetzten, traten niemals dem System der individuellen Kapitaldeckung bei. Sie blieben dem alten Rentensolidarsystem treu.“
Solche Erfahrungen fechten die offiziellen Stellen in Mexiko erst einmal nicht an. Finanzminister Agustín Carstens erklärte im vergangenen Dezember: „Buchungstechnisch sind vorübergehende Wertminderungen entstanden, die das Kapital der ArbeitnehmerInnen nicht beeinträchtigen und sich umkehren werden. Die Gelder im Rentensystem sind sicher. Historisch gesehen werden Krisenperioden überwunden und die Märkte erholen sich vollständig.“ Das ist derselbe Carstens, der im Oktober 2008 im Brustton der Überzeugung von einem mexikanischen Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent für 2009 sprach. Inzwischen wird von einer Schrumpfung von bis zu 4 Prozent ausgegangen.
Auch aus der CONSAR schallt es mit ähnlichen Worten: Solange die Anlagepapiere nicht verkauft würden, entstehe kein Verlust. Es handele sich um „absolut konjunkturell bedingte Wertminderungen“. In Argentinien führte die Sorge um nicht konjunkturell bedingte, sondern dauerhafte Wertminderungen bereits im Oktober 2008 dazu, dass die Regierung das Rentenprivatisierungsgesetz aus den 90er Jahren rückgängig machte und ihre Vereinheitlichung in einem staatlichen Fonds in die Wege leitete. Für CONSAR-Präsident Moisés Schwartz Rosenthal ist diese Maßnahme der argentinischen Regierung einfach ein „populistischer Akt“.
Aber die Stimmung in Mexiko ändert sich: Der Arbeitsanwalt und La Jornada-Kolumnist Arturo Alcalde fasste sie vor einigen Monaten vielleicht etwas naiv so zusammen: „Wie ist es möglich, dass es in unserem Land erlaubt ist, Geschäfte auf Kosten der ArbeitnehmerInnen zu machen, die nach langen Arbeitsjahren kleine Summen für das Überleben in ihrer letzten Lebensetappe gespart haben? Was ist das für eine Logik, die ein System aufzwingt, das es Privatunternehmen erlaubt, diese Fonds zu handhaben ohne dass ihre Präsenz gesellschaftlich gerechtfertigt ist? (…) Dafür brauchen wir keine 22 Afores, elegante Gebäude, Werbekampagnen, Manager mit hohen Gehältern und gigantische Kommissionen. Es handelt sich um eine einfache Vermittlerfunktion, die diese Infrastruktur nicht nötig hat.“
Zunehmend werden Forderungen laut, die individuellen Kapitalrenten wieder abzuschaffen. Einige Abgeordnete der Oppositionsparteien PRD und Convergencia kündigten Ende Februar einen entsprechenden Gesetzentwurf an, das Rentensystem wieder zu verstaatlichen. Andere fordern eine Mindestverzinsung, zu der die Afores gezwungen werden könnten. Die seit Jahren erfolglosen Versuche, sich mit einstweiligen Verfügungen und anderen juristischen Mitteln gegen die Rentenreform zu wehren, könnten neuen Auftrieb bekommen. Angesichts dieser Entwicklung entschlossen sich die in Mexiko tätigen Afores zu einem heroischen und patriotischen Akt: Feierlich verkündeten sie Mitte März, die Ersparnisse der ArbeitnehmerInnen in den kommenden zwölf Monaten ausschließlich in in Mexiko ausgegebene Aktien und andere Wertpapiere zu investieren. Damit werde auch ein Beitrag zum Kreditangebot und zur Wechselkursstabilität im Land geleistet. Von einer Senkung der Kommissionen beispielsweise kein Sterbenswort. Offenbar sind sie sich der Rückendeckung der CONSAR, der Regierung sowie einer Mehrheit im Parlament sicher. Und in einem Jahr wird wieder richtig gezockt.