Die ersten Punx – wie sie sich in Argentinien selbst schreiben – sind im Memoirenalter angekommen. Ihre Bücher über vergangene wilde Zeiten interessieren offensichtlich auch ein jüngeres Publikum. Eine der Neuerscheinungen dieses Jahres war Resistencia von Patricia Pietrafesa – eine umfangreiche Materialsammlung zur Geschichte des Punkunderground in Argentinien.
„Resistencia zu entdecken hat mich total aufgewühlt. Es war ein Reset für meinen Kopf, mein Herz pumpte Adrenalin, ich spürte, dass es da eine verborgene Welt gab, zu der ich gehörte. Bis dahin hatte mich nichts interessiert, ich fand alles scheiße, die Zukunft war mir egal – aber die Gegenwart genauso! Ich war immer dagegen, böse, schlecht gelaunt, ich hasste meine Mitschüler; die ganze Welt war für mich eine Scheiße, zu der ich nichts beitragen wollte, und das, was mich vermutlich erwartete, gefiel mir überhaupt nicht. Mir war damals nicht klar, dass da mein Leben begann – das Leben, das ich anfing selbst zu wählen.“ Das schreibt Pilar Arrese im Vorwort über ihre erste Begegnung mit diesem Fanzine, das Patricia zwischen 1984 und 2001 herausgegeben hat.
Inzwischen blicken die beiden auf mehr als zwei Jahrzehnte gemeinsamer Projekte zurück, u.a. als Gitarristin (Pilar) und Bassistin (Pat) bei den She Devils und Kumbia Queers. In dem 400 Seiten starken Band im A4-Format sind die zehn Ausgaben des Fanzines Resistencia komplett nachgedruckt, bis auf ein paar fehlende Seiten, die nicht mehr aufzutreiben waren. Außerdem enthält das Buch die beiden Nummern des Fanzines Quien sirve la causa del caos?, das Pat 1986/87 mit Fidel Nadal herausgab – darin auch ein Artikel über die Herkunft des Reggae. In den mit Schreibmaschine, Fotokopierer und Klebstoff hergestellten Heften geht es in erster Linie um Punkitüde, Musik und Bands, aber auch um eine Menge der damals in der Subkultur und Bewegung aktuellen Themen: Besetzte Zentren und Häuser (Baskenland und NL), Major-Label und Kommerzialisierung, Homocore und organisierte SexarbeiterInnen, Proteste gegen Kirche, Papst und Staat, Chaostage, selbstverwaltete Orte und Festivals wie das Frauenfestival Belladona (siehe Artikel von Patricia in ila 342). Und immer wieder Gewalt – untereinander bei Konzerten, zwischen verschiedenen Fraktionen von Punx, Skinheads und Fußballfans oder machistische Angriffe auf die Frauen in den Bands – aber vor allem staatliche Gewalt
Nach dem Ende der Diktatur (1976-83) machte dieselbe Polizei Punx und anderen unangepassten Menschen weiterhin das Leben schwer. Alkohol trinken auf der Straße war Grund genug für ständige Festnahmen und Misshandlungen. Über die Szene und die politische Situation in Argentinien schrieb Patricia regelmäßig für das Fanzine Maximum Rocknroll aus den USA. Diese Kolumnen sind ebenfalls in dem Band enthalten. Und es gibt einen Index, der nach lokal und international sowie einer Vielzahl von Rubriken unterteilt ist: Personen, Bands, Liedtexte, Fanzines, Orte, historischer Kontext, Musikstile, Ideologien, Aktionen… Damit dürfte Resistencia das erste Fanzine sein, das indexmäßig erfasst ist. Obwohl es fast ausschließlich im Handverkauf und an Ständen zu bekommen war, erreichte das Blatt teilweise Auflagen von 1000 Exemplaren. Mit ihrem neu gegründeten Verlag Alcohol y Fotocopias und einem erheblichen Arbeitsaufwand hat Patricia dafür gesorgt, dass diese Dokumente einer bewegten Zeit noch länger zur Verfügung stehen.
Derrumbando la Casa Rosada („Den Regierungspalast niederreißen“) beginnt mit den Anfängen der Punkbewegung in Argentinien, noch während der Diktatur. Untypischerweise kamen hier die ersten Punx aus den oberen Schichten, die sich Auslandsreisen leisten konnten und von dort Platten mitbrachten. Der Gitarrist der damals bekanntesten Band Los Violadores hatte Punk auf einer Europareise mit seinen Eltern entdeckt. In jedem Kapitel des Buches steht ein Konzert im Mittelpunkt, über das Geschichten erzählt werden. Bei Patricia – auch hier als Autorin dabei, klar – ist es das erste Konzert ihrer Musikerkooperative im Mai 1986. Während des Auftrittes von Todos Tus Muertos kam es zu einer Schlägerei mit Boca-Fans und der Polizei und ein Musiker machte sich mit den Einnahmen aus dem Staub. Das nächste Konzert wurde von den Eigentümern des gemieteten Saales kurzfristig abgesagt, und eine Forderung der argentinischen GEMA riss ein weiteres Loch in die Kasse. So ging die Kooperative, mit der verschiedene Bands einen selbstorganisierten Gegenpol zum etablierten Rockzirkus schaffen wollten, wieder ein. Für Pat kein Grund zur Resignation: „Es hat nicht so schön funktioniert, wie wir uns das gedacht hatten, aber wir haben einiges in Bewegung gebracht und für viele von uns war das die Einführung in eine Lebenshaltung, die wir weiterhin praktizieren.“
Pietrafesa, Patricia: Resistencia. Registro impreso de la cultura punk rock subterranea. Buenos Aires, 1984-2001, 400 Seiten, Buenos Aires, 2013
Flores, Daniel: Derrumbando la Casa Rosada. Mitos y leyendas de los primeros punks en Argentina 1978-1988, Buenos Aires, 2011