„Cómo enterrar a un padre desaparecido“ hört sich ein wenig nach dem Titel einer schwarzen Komödie an, doch das kleine, soeben in Argentinien veröffentlichte Buch von Sebastián Hacher erzählt die reale Geschichte der 1975 geborenen Künstlerin Mariana Corral. Am Ende der Feier ihres 17. Geburtstages am 26. Dezember 1992 übergibt ihr Onkel ihr einen Brief ihres Vaters, den sie selbst nie kennengelernt hat. In der Familie wurde nicht darüber geredet, was Manuel Javier Corral zugestoßen ist. Umso mehr ist die junge Frau überrascht, als sie anfängt zu lesen, denn der 1977 geschriebene lange Brief ist an sie gerichtet. Der Vater will ihr über seine Vergangenheit und die – wie er glaubt – neue Etappe in seinem Leben berichten. Für den – für ihn damals durchaus vorhersehbaren – Fall, dass er nicht mehr präsent sein sollte, wenn sie in dem Alter ist, das zu verstehen, will er ihr die Möglichkeit geben, sich einen direkten Eindruck zu verschaffen und ihn ohne Vermittler zu beurteilen.
Man kann es vorwegnehmen, dieses Ziel jedenfalls verfehlt er. Denn es ist kein Brief, in dem mit Daten und Fakten angereichert eine lineare Lebensgeschichte erzählt wird. Es sind Betrachtungen, Kommentare, Gefühlsäußerungen, die Manuel Corral in sechs Etappen gliedert; eine siebte wird es in seinem Leben nicht mehr geben. Er wird Anfang 1978 im Grenzgebiet zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay, in Iguaçú verhaftet. Danach lässt man ihn verschwinden.
Da der Brief selber viele Fragen offen lässt, geht Mariana den Spuren des Lebens ihres Vaters nach … und ist am vorläufigen Ende ihrer Suche nicht sehr viel schlauer als vorher. Geschrieben wurde der Brief an einem Ort, der für viele der Generation von Corral nach Freiheit und Abenteuer klingt, in dem Cafe Perla del Once, einer der Tag und Nacht geöffneten Café-Bars des Viertels Once, in dem sich ab 1967 die argentinische Rockszene um Figuren wie Litto Nebbia und Tanguito formierte. Mariana wird in einer ihrer späteren Installationen versuchen, die Atmosphäre dieses Momentes, in dem ihr Vater in den Nächten schrieb, einzufangen, indem sie einen typischen Caféhaustisch ausstellt und eine Kopie des Briefes unter eine Glasscheibe anordnet.
Ohne näher auf die Details seines politischen Aktivismus einzugehen, beschwört Corral Formeln des politischen Aufbruchs jener Tage Anfang der 70er-Jahre, wie „lebe gefährlich“ und „ich traue mich“. Zwar räumt er der kurzen Begegnung mit Marianas Mutter Cecilia einen wichtigen Platz ein, behauptet jedoch, vorher das Wort Liebe mehrere Jahre vergessen zu haben, erzählt auch nichts über Beziehungen nach der Geburt seiner Tochter. Mariana, die Kunststudentin, später Polit- und Kunstaktivistin, spürt nach und nach Menschen auf, die Manuel in den verschiedenen Phasen seines kurzen Lebens gekannt haben. Zu ihrer Überraschung findet sie diese nicht unter den überlebenden politischen KämpferInnen der damaligen Zeit, den unterschiedlichen Gruppierungen des damaligen Untergrunds. Seine politische Provenienz bleibt bis zum Ende dieser kleinen Geschichte ungeklärt. Vielmehr treibt die Tochter Freundinnen und Lebensgefährtinnen des Vaters in verschiedenen Landesteilen auf; diese erzählen die Geschichte eines Reisenden, der keinen festen Ort findet, von dem niemand Genaueres weiß und der offensichtlich selber nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen will.
Mariana nimmt dieses Vage, Unbestimmte an, lernt damit zu leben. Ihre Haltung unterscheidet sich grundlegend von der ihrer vielen Weggefährtinnen aus dem Kreise der Kinder von ermordeten und verschwundenen Regimegegnern. Sie erklärt: „Ich bin gegen diese Heroisierungen. Lange Zeit habe ich ihn idealisiert. Heute erscheint mir das am ehesten zu Idealisierende diese Fähigkeit zur permanenten Transformation, Veränderung und nicht seine Militanz, die vielleicht gar nicht schlecht war.“
Das ausgesprochen zu haben, heißt noch nicht, dass ihr eigenes Leben nicht unter dieser permanenten Ungewissheit leidet, und da befindet sie sich wieder in derselben Situation wie die anderen Kinder. Hier nimmt die Geschichte eine erstaunliche Wendung. Der chilenische Lebens- und Vermarktungskünstler Cristóbal Jodorovsky, Sohn des Schriftstellers Alejandro, veranstaltet in einem Café von San Telmo eine öffentliche Tarot-Kartenlesung, bei der alle Anwesenden ihre Fragen auf Karten notieren. Cristóbal greift Marianas Karte auf mit der Anmerkung „Ich fühle mich unsichtbar für die Männer“, fragt ein paar Mal geschickt nach und kommt dann zu der Feststellung, dass sie sich bewusst unsichtbar mache, weil dies die einzige Form der Kommunikation mit ihrem unsichtbaren Vater sei. Um ihr eigenes Leben leben zu können, so rät er ihr, solle sie sein Foto in eine Schachtel stecken, es mit Honig und Karamell bedecken und alles wie einen Körper beerdigen. Genau das macht sie: Mit ihren Freundinnen begibt sie sich am 2. November 2011 auf den Friedhof Las Flores, der vorwiegend von bolivianischen Einwanderern genutzt wird, die ihrer Toten mit Essen und Musik gedenken. Mariana fügt dem Foto Brote in Form von Jaguaren, als Erinnerung an seine letzte Station im Dschungel, Spielzeuge und Briefe an seine verschiedenen Geliebten bei. So begräbt sie an diesem Tag ihren verschwundenen Vater.
Sebastián Hacher, Cómo enterrar a un padre desaparecido, Marea Editorial, Buenos Aires 2012, 160 Seiten