Wie das Land, so der Film

Der erste lateinamerikanische Tonfilm stammt von einem Chilenen: 1929 drehte Jorge Délano La calle del ensueño. Zwischen der „Traumstraße“ und dem „Aufbruch der Filmemacher in Chile“, den die Süddeutsche Zeitung 2009 der chilenischen Kinolandschaft nach deren Sichtung auf den Filmfestspielen in Tübingen und München attestiert, liegen nicht nur 80 Jahre, sondern auch viele Höhen und Tiefen. Verena Schmöller zeichnet sie in ihrem Buch „Kino in Chile – Chile im Kino“ nach und konzentriert sich dabei auf die Zeit nach 1990. Dabei fördert sie zutage, wie sehr sich der Zustand des Landes auf dem Zelloloid spiegelt, zuweilen absichtlich, bisweilen als Beiprodukt.

Der Beginn der Tonfilmära fällt in die Jahre der Weltwirtschaftskrise. In Zeiten der Rezession sind die neuen Produktionstechniken in Chile zu teuer. Erst in den vierziger Jahren wird wieder vermehrt gedreht, allerdings in Hollywoodmanier. Chile erscheint in Postkartenperspektive, zu Klischeebildern erstarrt. Eine Auseinandersetzung mit der sozialen Realität setzt erst Ende der 50er Jahre ein. 1959 – überall in Lateinamerika sorgt die cubanische Revolution für einen Ruck – wird das Centro de Cine Experimental de la Universidad de Chile gegründet, das sich gegen die vormalige Salonfolklore wendet. Im Zentrum für Experimentierkino werden neue ästhetische Ansätze entwickelt, auf der Leinwand, aber auch – im Austausch mit entsprechenden Strömungen in anderen Ländern – als theoretisch fundierter Ansatz.

Wichtige Kristallisationspunkte sind das Erste und Zweite Treffen des Neuen Lateinamerikanischen Films 1967 und 1969 in Viña del Mar. 1970 verfassen die Filmemacher Miguel Littín und Sergio Castilla ein Manifest der chilenischen Cineasten. Die Hauptperson revolutionärer Kunst, schreiben sie, sei das Volk. Bereits unter dem christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei (1964-70) erfährt das Kino eine Aufwertung und entsprechende finanzielle Unterstützung. Unter der Unidad-Popular-Regierung wird es bis 1973 zum Teil des politischen Aufbruchs. In den Studios von Chilefilms, 1942 gegründet, können angehende FilmemacherInnen ihr Handwerk lernen, es gibt Geld für Ausrüstung. In den knapp drei Jahren der Allende-Regierung entstehen allerdings nur wenige Spielfilme, dafür über 100 Dokumentationen.

Der Militärputsch vom 11. September 1973 macht auch mit der Blüte des politischen Films brutal Schluss. Die Filmschulen werden geschlossen. Chilefilms wird „gesäubert“ und privatisiert, Filmarchive vernichtet, die Kinokultur zerstört. Filmemacher werden verfolgt, die meisten gehen ins Exil. Die Diktatur verwandelt die vormalige Filmkontrolle in ruppige Zensur, der zwischen 1974 und 1989 rund 650 in- und vor allem ausländische Filme zum Opfer fallen. In den 17 Jahren der Diktatur entstehen ganze 17 Spielfilme, während ChilenInnen im Exil allein in den ersten zehn Jahren 176 Filme produzieren.

Ab Mitte der 80er, als sich der Widerstand gegen das Militärregime neu formiert, kehren die ersten FilmemacherInnen zurück. 1990 findet in Viña del Mar wieder ein lateinamerikanisches Filmfestival statt. Exil trifft auf einheimische FilmemacherInnen. Das Bedürfnis zum politischen Bekenntnis und zum Experimentieren ist groß. Doch das Unsägliche ist kaum direkt auszusprechen. La Frontera von Ricardo Larraín, 1992 in Berlin mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet, wagt sich nur über eine Einzelgeschichte gleichsam verschoben an die politische Geschichte des Landes.

Es dauert rund ein Jahrzehnt, bis sich ein neues, demokratisches Kino etabliert. Das Publikum ist an ausländische Hochglanzproduktionen gewöhnt. Bei Low Budget und handwerklich weniger perfektem Kino rümpft es die Nase und bleibt den Kinosälen fern. Erst 1999 erreicht ein einheimischer Film, El Chacotero sentimental, ungeahnte 800 000 ZuschauerInnen, Sexo con amor kommt 2003 sogar auf eine knappe Million. Viele Produktionen bleiben aber weit unter 10 000 ZuschauerInnen, 200 000 bis 500 000 wären zur Kostendeckung nötig. Ein Ausweg ist, wie anderswo, die internationale Koproduktion.

Auch institutionell wird die Diktatur nur sehr langsam überwunden. Erst 1997 macht sich das Parlament daran, die Vorzensur in eine Filmkontrolle rückzuführen, was noch weitere fünf Jahre dauert. Doch auch ohne offizielle Zensur bleibt die Schere über Jahre im Kopf vieler ChilenInnen. Die Aufgaben eines Kulturministeriums übernimmt 2003 ein Nationaler Kunst- und Kulturrat. In den 90er Jahren wächst die Filmförderung und auch verschiedene Festivals werden neu installiert. Aber eine Steigerung der Spielfilmproduktion ergibt sich daraus kaum. Ein erheblicher Anteil der zwischen 1990 und 2007 entstandenen 114 Filme sind Erstlingsproduktionen, 45 der RegisseurInnen machten keinen weiteren Film. Oft sind die RegisseurInnen auch die ProduzentInnen, die wiederum auch die VerleiherInnen sind. Einer der Gründe: ein schon unter Allende verabschiedetes Gesetz zu intellektuellem Eigentum sichert dem Produzenten, nicht dem Regisseur alle Rechte zu.

Die Regel sind bis heute kleine Produktionsfirmen. Eine Ausnahme ist seit Ende 1996 La Factoría mit 36 Produktionsfirmen. Die Zahl der Kinosäle ist von 128 im Jahre 1990 auf 303 in 2007 gestiegen, wovon 268 Multiplexkinos sind. In ganz Chile gibt es nur 35 unabhängige Filmtheater. 162 Kinos konzentrieren sich auf den Raum Santiago. Der Markt ist klein, im Durchschnitt nimmt jedeR ChilenIn gerade 0,7 Mal im Jahr einen Kinosessel ein. 2007 wurden 11,5 Millionen KinobesucherInnen gezählt, davon sahen sich 8,1 Prozent einen chilenischen Film an. Immerhin: 1997 waren es nur 0,46 Prozent. Es hat sich also einiges getan, auch wenn es bis heute keine wirkliche Filmindustrie gibt.

Nach dem historischen Abriss und der Darstellung der Produktionsbedingungen geht Verena Schmöller auf die Frage ein, was am chilenischen Film typisch chilenisch ist. Eine Spurensuche jenseits von Literaturverfilmungen und Dokumentationen, etwa Estadio Nacional (2001) von Carmen Luz Parot oder El caso Pinochet (2001) von Patricio Guzmán, aber auch jenseits von Mainstreamthrillern gerade von jungen RegisseurInnen. 

Erwartungsgemäß ist die Hauptstadt Santiago sehr häufig Handlungsort – hier sind die Produktionsfirmen angesiedelt, hier ist Ballungsraum. Die Großstadt steht nicht selten als Chiffre für die Auflösung traditioneller Lebensgewohnheiten, für Bruch und Haltlosigkeit. Bemerkenswert ist Verena Schmöllers Passage über ein vielsagendes Hauptstadtporträt in Gringuito (1998) von Sergio Castilla: Der kleine Sohn von Exilchilenen kehrt von New York nach Chile zurück und findet sich allmählich in die Welt der Eltern ein. Eine Art Santiago-Reiseführer, der dem Blick vieler RückkehrerInnen entsprechen dürfte. Die Schwierigkeiten der Rückkehr und das Misstrauen der Fremdgewordenen zeigt Horcón, al sur de ninguna parte (2002/2005) von Rodrigo Gonçalves. Umgekehrt sind Feindseligkeit und Ressentiments den angeblichen „Verrätern gegenüber, die es sich im Ausland haben gut gehen lassen“, in No tan lejos de Andrómeda (1997/99) von Juan Vicente Araya spürbar.

Erst in den letzten Jahren arbeitet sich die Thematik der Verschwundenen von der Erwähnung oder der Nebenrolle wie in Taxi para tres (2000/01) oder Te amo, made in Chile (2000) zum Sujet vor. Wie sehr die Vergangenheitsbewältigung trotz öffentlichen Schweigens auf den Nägeln brennt, zeigt Machuca (2004) von Andrés Wood, der mit fast 650 000 ZuschauerInnen schnell einer der erfolgreichsten Filme Chiles wird. Das gleiche Thema verarbeitet – der Titel sagt alles – Amnesia (1994) von Gonzalo Justiniano.

Bestimmte Konstellationen finden sich seit den 90er Jahren immer wieder: dysfunktionale Familien, abwesende Väter, überforderte Mütter, Hausangestellten überlassener Nachwuchs, Eltern-Kinderbeziehungen. Indessen ist Chile ein extrem konservatives und prüdes Land. Sexualität ist allenfalls in Komödien thematisierbar. Nackte Haut ist verpönt. Sofern sich das seit Abschluss von Schmöllers Untersuchungen geändert haben sollte, hat die Regierung Piñera das Rad inzwischen mit Sicherheit wieder zurückgedreht.

Eine formale Besonderheit vieler chilenischer Filme, das fragmentarische Erzählen, der Kurz- und Episodenfilm, wie der eben genannte erste Kassenschlager Chacotero sentimental oder Los Debutantes (2003), in dem die gleiche Geschichte gleich dreimal, jeweils aus der Perspektive eines der Protagonisten, erzählt wird, mag man als Phänomen der heutigen schnelllebigen Zeit sehen. Sie hat aber auch einen Grund in der Herkunft vieler Filmemacher als Werbefilmer, dem einzigen florierenden Filmmetier während der Diktatur.

In ihrem Buch, einer 2007 überarbeiteten Version einer Diplom- und Magisterarbeit von 2004, führt Verena Schmöller insgesamt 115 Filme auf. Zu denen spannendsten Produktionen gehören drei Werke, die im wörtlichen Sinne ausgezeichnet sind: Sábado – una película en tiempo real (2003) von Matías Bize. In Echtzeit gedreht, hat er keine Schnitte, „ein Feuerwerk von Emotionen und intuitiven Handlungen“ (S. 77). Des Weiteren Play (2005) von Alicia Scherson, die eine Phantasie in die reale Welt einer jungen Frau einfließen lässt. Und schließlich Cofralandes (2002) von Chiles bekanntestem Filmemacher, dem 1973 ins französische Exil gegangenen Raul Ruiz. Der Film ist zwischen Dokumentation und Fiktion, neunteilig, ein Vermächtnis über alles, was ChilenInnen von sich halten und man über sie hält.

Verena Schmöller: Kino in Chile – Chile im Kino. Die chilenische Landschaft nach 1990, Shaker Media, Aachen 2009, 126 Seiten, 22,90 Euro