Wer in der Geschichte hat so viele Attentatsversuche überlebt? Für manche spektakuläre Bemühung übernahm später die CIA die Verantwortung wie beispielsweise für den von innen mit Pilzen und Bakterien vergifteten Taucheranzug, der Fidel Castro von James Donovan, US-Chefunterhändler über die Auslieferung der Gefangenen des Schweinebuchtdesasters, als Geschenk überreicht werden sollte. Ob die Übergabe auch erfolgte, ist je nach Quelle verschieden dargestellt. Andere Versuche, die im Regelfall auf das Konto von ExilcubanerInnenn gehen, sind  weniger bekannt. Kindelán, Karatesportler aus Santiago de Cuba und ehemaliger Leibwächter von Fidel Castro und später von Hugo Chávez, erinnert sich: „Als wir in Chile waren, hatte ein Fotograf ein Stativ mit einer Kamera aufgebaut. Ihm gingen dann die Nerven durch. Er war so nervös, dass wir ihn überwältigten. Es stellte sich heraus, dass in der vermeintlichen Kamera ein Revolver war“. Nun ist Fidel tatsächlich gestorben, und zwar entgegen aller Prognosen und Wahrscheinlichkeiten eines natürlichen Todes im hohen Alter von 90 Jahren. Die Freudenfeiern der ExilcubanerInnen  in Miami mögen daher als sublimierte Wut über dieses irgendwie unspektakuläre Ableben ihre Erklärung finden.

In den letzten Wochen habe ich mit vielen CubanerInnen gesprochen. Hier einige Stimmen: Deysi (76 Jahre, dunkle Hautfarbe, Vedado, Havanna, betreibt eine Pri-vat-pension): „Wir haben hier alle geheult, sogar mein Enkel. Mein Vater wurde unter Batista gefoltert. Und erst der Rassismus in der damaligen Zeit. Mein Mann war weiß, wir waren blutjung und wollten ausgehen. Es gab keinen Ort, wo wir uns als gemischtes Pärchen hätten blicken lassen dürfen. Wie sollte ich da die Revolution und den Comandante nicht geliebt haben? Meine Rückenoperation vor einigen Jahren hat mich hier keinen Cent gekostet. Einer meiner US-amerikanischen Gäste hat mir erklärt, wie viel Tausende Dollar das in seinem Land kostet“.

Luis (44, weiß, selbstständiger Taxifahrer, Cerro, Havanna): „Fidel? Ich habe weder kalte noch heiße Schauer bekommen, hat mich unberührt gelassen. Der Typ hat Positives und Negatives geschaffen, aber mehr Negatives als Positives“. Was war negativ und was positiv? „Negativ war, dass er uns gezwungen hat, 50 Jahre lang immer dasselbe zu machen. Und positiv ist die Bildung und die Gesundheit hier. Es gibt hier kein Kind, dem es schlechter geht als anderen und keinen Behinderten, der wegen seiner Behinderung schlechter lebt als andere, hörst du?“
Lugo (72, weiß, selbstständiger Schreiner, Regla, Havanna) war ein Freund des dissidenten Schriftstellers Reinaldo Arenas, wie auch dessen Autobiografie „Bevor es Nacht wird“ zu entnehmen ist. Der Che-Guevara- und José-Martí-Fan und leidenschaftliche Kritiker der Unzulänglichkeiten des Systems ist in seiner Kritik moderater als sonst: „Fidel war ein großer Visionär. Er hat den Klimawandel lange vorausgesehen. Und er wusste, dass eine Gesellschaft sich nur mit Bildung und Gesundheit entwickeln kann. Fidel war auf der internationalen Bühne zuhause. Das hat ihn daran gehindert, zuhause nach dem Rechten zu sehen und das Feld zu bestellen. Wie ist es möglich, dass ein so fruchtbares Land wie das unsere soviel importieren muss?“

Iván (53, weiß, Habana Vieja, Reiseführer für japanische Touristen, hat ein Kind in Japan und zwei in Cuba) hält sich nur kurz beim Thema auf: „Der Tod Fidels war ein Schock. Doch die Wahl von Donald Trump hat mich noch viel mehr erschüttert. Sogar die japanischen Partner sind beunruhigt. Der Typ kann dem Tourismus auf Cuba großen Schaden zufügen, er kann der gesamten Zivilisation großen Schaden zufügen!“

Daniel (53, schwarz, war als Migrant in Deutschland, das er 2009 verlassen musste, arbeitet im Finanzministerium, Alamar, Havanna): „Trotz seines Alters war ich auf eine solche Nachricht nicht vorbereitet, es hat mich erschüttert. Alle Menschen haben sich vorbildlich verhalten, sogar die junge Generation, die ihn gar nicht mehr als starken, sondern nur noch als gebrechlichen Menschen erlebt hat. Es gab in diesen Tagen nirgendwo Musik oder Lärm. Wer kann sich das vorstellen, Cuba ohne Lärm? Fidel hat dem Land durch die sozialen Errungenschaften viel Gutes getan. Jetzt kommt es darauf an, dass wir das Erbe bewahren und uns gleichzeitig verändern. Wir benötigen mehr Transparenz und Aufrichtigkeit. Man kann hier nicht alles nur in Rosa malen, das fügt dem Land Schaden zu!“

Humberto (50, Hautfarbe hellbraun, fährt einen Krankenwagen, Regla, Havanna):“ Pfff! Ja und?  Hier ändert sich sowieso nichts, egal wer von denen da an der Macht ist. Nichts von dem, was sich ändern muss, ändert sich.“

Eduardo (ca. Ende vierzig, weiß, leitender Angestellter im Wohnungsministerium, Vedado, Havanna) „Mich stört die ahistorische Betrachtungsweise der Person Fidel, man beurteilt ihn wie losgelöst von seinem historischen Kontext. Fidel war nicht der Verbrecher und Teufel, als den ihn eure Medien zeichnen. Er war auch nicht der Engel, als der er hier verehrt wird. Er sollte als Mensch mit vielen Facetten gesehen werden. Die gewisse Unduldsamkeit, die man ihm nachsagt, tauchte erst in den letzten 20 Lebensjahren auf. Früher war er eher zu nachgiebig und wurde überstimmt. Die Repression gegen Homosexuelle in den Siebzigern ging definitiv nicht von Fidel aus, sondern von der Partei. Fidel war der einzige mir bekannte Politiker hier, der den Stalinismus mehrfach kritisiert hat, während die Partei sich bis heute nicht wirklich damit auseinandergesetzt hat. Diese Leute sollten Paduras „Der Mann, der die Hunde liebte“ lesen, für mich das wichtigste Buch, das je in Cuba erschienen ist“.

Sol (56, weiß, Krankenschwester, Santiago de Cuba): „Fidel hat viel für die Menschheit getan. Er hat so viele Ärzte nach Haiti und nach überall in die Welt geschickt wie kein anderes Land. Und in welchem Land der Region kann man denn abends noch in Ruhe auf die Straße gehen, ohne überfallen zu werden? Doch nur in Cuba“.

Claudia (22, schwarz, Medizinstudentin, Santiago de Cuba): „Ich habe nicht geheult, ich kannte Fidel ja nur als gebrechlichen Mann. Aber ich weiß, was ich ihm zu verdanken habe. Ohne die Revolution könnte ich nicht Medizin studieren“. Und ihre Oma, die 1961 an der Alphabetisierungskampagne teilgenommen hatte, ergänzt: „Wir müssen das bewahren, was wir erreicht haben. Es darf hier niemals zu einem Putsch kommen wie in Brasilien. Das dürfen wir nicht zulassen!“

Alba (75, braun, Rentnerin, Mayarí, Prov. Holguín): „Fidel hat uns Würde gegeben. Könnt Ihr euch vorstellen, wie elend wir vorher gelebt haben? Wir sind in die Zuckerrohrfelder gegangen, um mit dem Zuckerrohr den ewigen Hunger zu stillen. Doch wehe, sie erwischten uns dabei…. Nach der Revolution habe ich bis zur Rente in einer Landwirtschaftskooperative gearbeitet, wir hatten alles. Erst jetzt ist es wieder schwierig, weil die Rente zu gering ist.“

Julieta (48, hellbraun, arbeitslos, Ex-Dissidentin, Provinz Santiago): „Ich bin keine Kommunistin, aber revolutionär und fidelista. Es ist, als wären wir nun Waisenkinder geworden, so fühlt man sich. Ich weiß, dass auch alte DissidentenkollegInnen von mir traurig waren. Dissidenz ist hier ja keine Überzeugung, sondern eine Form des Überlebens. Denn man wird aus den USA bezahlt.“

Xiomara (49, schwarz, Hausfrau, Palma Soriano, Provinz Santiago): „Ich war so traurig, wie alle dankbaren Menschen. Nur die Undankbaren wie die Frau da drüben denken anders, siehst Du die? Die war Dissidentin, die USA haben ihr ein Visum gegeben, jetzt lebt sie dort und kommt als großkotzige Touristin zurück!“

Barbara (ca. 40, hellbraun, betreibt ein Restaurant, Mella, Prov. Santiago): „Wir haben geheult. Jetzt hält uns nichts mehr hier. Wir wollen nur noch auswandern. Der Paladar (Privatrestaurant) wirft nicht genügend Erträge ab, den Leuten auf dem Dorf fehlt das Einkommen, um essen zu gehen.“

Die Personen antworteten auf die Frage, was der Tod Fidel Castros spontan bei ihnen auslöst. Die obigen Stimmen stellen eine repräsentative Auswahl der insgesamt befragten Personen dar, und zwar aus der „Normalbevölkerung“, keine Parteifunktionäre, keine Intellektuellen oder KünstlerInnen, auch keine Wirbelsturmopfer in Baracoa, die derzeit andere Sorgen haben. Die Befragten unterscheiden sich stark in puncto Bildungshintergrund, Hautfarbe, sozialer und regionaler Herkunft. Manche kannte ich, andere sind Zufallsbekanntschaften. Nicht repräsentativ ist die Altersverteilung, der Schwerpunkt liegt bei denjenigen, die Fidel noch als aktiven Staatsmann erlebt haben.

Havanna, Filmfestival, Dezember 2016, Hotel Nacional, Pressekonferenz von Oliver Stone anlässlich der Präsentation seines Films Snowden. Er äußert sich auf Nachfrage über den Verstorbenen: „Mein Dokumentarfilm Comandante (2003) fiel in den USA der Zensur zum Opfer, er konnte in keinem Kino und keinem Fernsehsender laufen. Fidel war jemand, der Dinge ganz klar gesehen hat, er hat die Entwicklungen nach dem 11. 9. 2001 vorhergesehen. Nun ist er gegangen, manche sagen, zur Hölle, andere sagen, in den Himmel, aber er ist gegangen …wer ihn gekannt hat, vermisst ihn, er war über Jahrzehnte eine große Persönlichkeit…seine Energie war unerschöpflich, wer schafft es schon, eine 15-stündige Rede zu halten (grinst) ….“

Zur Eröffnung des Filmfestivals wird ein Kurzfilm zum 30-jährigen Geburtstag der von Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez mitbegründeten Filmhochschule EICTV gezeigt, gleichzeitig eine Hommage an Fidel Castro, ohne den die EICTV und die Entwicklung der cubanischen Filmkunst überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Eine geschickte Verbindung: der Applaus ist stark, das gerade jetzt wieder angespannte Verhältnis zwischen Kulturszene und Staat scheint wie weggeblasen. Dabei gibt es doch Ärger um den Film Santa y Andrés von Carlos Lechuga, der dort nicht laufen durfte. In der darüber entbrannten erbitterten Polemik zwischen dem Schriftsteller Eduardo del Llano und Roberto Smith, dem Chef des Filminstituts ICAIC, berufen sich beide Seiten auf Fidel… 

Santiago de Cuba, Friedhof Santa Ifigenia. Der Friedhof am Rande der Stadt mit seinen prachtvollen Gräbern hat immer schon Fremde angezogen. Hier liegt nicht nur Francisco Repilado alias Compay Segundo, sondern vor allem Nationalheld José Martí in einer prächtigen letzten Ruhestätte, vor der seit einigen Jahren eine Ehrengarde patrouilliert. Und nun Fidel. Im Vergleich zu José Martí fällt dessen Grab geradezu bescheiden aus. Ein großer rundlicher mannshoher Stein aus der Sierra Maestra, in der Mitte mit einem Loch versehen, darin eingelassen die Urne mit der Asche des Comandante, das Loch versiegelt mit einer Platte, auf der schlicht „Fidel“ steht. Seitlich davon ein weiterer Stein in Pyramidenform, auf dem Fidels Rede „Revolución“ prangt. Viele Menschen ziehen an diesem Tag am Grab vorbei, genau einen Monat nach seinem Tod, überwiegend CubanerInnen, alle Hautfarben sind vertreten, alle haben sich gut gekleidet. Große Staus bleiben aus, jede/r darf ein Foto machen und soll dann zügig weitergehen. Eine Frau verdrückt eine Träne, die meisten sind gefasst.

Wenige finden sich in Santiago de Cuba, die dem System oder Fidel negativ gegenüberstehen. Dies steht nicht im Widerspruch zur verbreiteten Kritik an Bürokratie und Korruption. Hier im Oriente hatte die Revolution schon immer ihre Basis. Der Stolz ist spürbar, dass Fidel hier begraben liegt. Das Grab als Identifikationspunkt und Besuchermagnet, die neue Pilgerstätte kann dem Aufschwung der früher vernachlässigten Stadt einen weiteren Schub verleihen. Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass sich auch Raúl Castro nach Erreichen des Ruhestands 2018 in Santiago de Cuba  niederlassen wird. Die Opposition in der Provinz Santiago, zusammengefasst in der Unión Patriótica de Cuba (UNPACU, die einzige Oppositionsgruppe, die im Osten stark war), ist geschwächt. Massive Gewalt- und Korruptionsvorwürfe werden aus den eigenen Reihen gegen den aus Palmarito de Cauto bei Santiago stammenden Chef José Daniel Ferrer García erhoben, der einen Großteil der Gelder aus den USA zur Förderung der Subversion in Cuba veruntreut haben soll, statt sie unter den Aktivisten zu verteilen. Oppositionsinterne Kritiker erklären, von Ferrer physisch attackiert worden zu sein. Landesweit soll die Zahl der Aktivisten der UNPACU von 8000 auf unter 1000 gesunken sein, das süße Leben des José Daniel Ferrer hat nun zur Schadenfreude der cubanischen Regierung erst einmal ein Ende gefunden, die Anhänger sind ratlos. 

Ortswechsel. Baracoa im tropischen Regenwald, Hauptstadt von Kakao, Kaffee und Kokosnuss, ein mythischer Ort. Hier soll Kolumbus zuerst gelandet sein, hier war der Indianeraufstand unter Hatuey, dem „ersten Rebell Amerikas“ gegen die spanischen Eroberer. Baracoa, für kurze Zeit die erste Hauptstadt Cubas, verewigt in der Literatur als Ort der Sehnsucht in Carpentiers „Sacre du Printemps“ und ein paar Jahrzehnte später und deutlich weniger schmeichelhaft als Ort des Stillstands in Leonardo Paduras „Der Mann, der die Hunde liebte“. Die abgelegene Stadt, die durch den Tourismus einen bescheidenen Aufschwung erlebt hatte, wurde mit drei benachbarten Gemeinden in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 2016 vom achtstündigen Höllensturm des Hurrikans Matthew verwüstet. 8000 Gebäude in der Region wurden komplett zerstört, weitere rund 6000 sind schwer beschädigt. Das historische Zentrum Baracoas ist noch relativ gut davon gekommen, die Straßen am Malecón wurden hingegen von turmhohen Wellen heimgesucht. Zurück blieben traumatisierte Menschen, die Hab und Gut und ihr Lachen verloren haben. Nirgendwo sonst lässt sich die Koexistenz von Effizienz und Ineffizienz des cubanischen Modells zur Zeit besser studieren als hier. Beides hat mit Fidel zu tun. Der beste Katastrophenschutz in der Karibik bzw.  Lateinamerika evakuierte generalstabsmäßig 36 000 von den 81 000 Einwohnern, es gab keine menschlichen Verluste, das System hatte wieder einmal eine nicht bezifferbare Zahl von Menschenleben gerettet.

Viele abgedeckte Häuser tragen wieder neue Dächer, ungefähr die Hälfte der Schäden sind zum Jahreswechsel behoben. Wie hilft der Staat den Menschen? Die Betreiberin einer Privatpension berichtet: „Ich habe seit drei Monaten keine Gäste mehr. Obwohl hier alles langsam wieder besser aussieht, bleiben viele Touristen noch weg. Der Staat erlässt uns für drei Monate die Abgaben, und ab dem vierten Monat zahlen wir auf Dauer 45 CUC pro Zimmer statt früher 60 CUC.“ Die Preise für Dächer und Baumaterialien werden für die Sturmopfer bis zur Hälfte reduziert oder bei fehlendem eigenen Einkommen auch erlassen und das Schlafzimmerpaket, bestehend aus Matratze, Betttuch und -wäsche und Handtüchern, wird für 210 Pesos verkauft, ungefähr vier Euro.

Warum sind dann Menschen unzufrieden? Warum löst das zerstörte örtliche Parteibüro Schadenfreude aus? Viele Häuser haben neue Dächer, doch andere eben nicht, obwohl die Materialien sich in vollen Lagern stapeln. Umstandskrämerei und logistische Überforderung führen dazu, dass erst einmal Formulare über Formulare ausgefüllt werden müssen und dass Betroffene zermürbt immer wieder aufs Neue bei den Behörden vorsprechen müssen. Das regenlastige Mikroklima wartet aber nicht, bis Betroffene die Formalitäten erledigt haben, bevor es ihnen durchs offene Dach das Haus vollpisst. Für das Schlafzimmerpaket und die neue Küche benötigt man einen Gutschein. Doch nach fast drei Monaten wissen zahlreiche Betroffene noch nicht, wann sie an der Reihe sind, sie bekommen es nicht gesagt und empfinden das als intransparent und willkürlich. Liegt die Vermutung fern, dass ein den Besitzer wechselnder Geldschein die Vorgänge erheblich beschleunigen kann? Gewiss werden ins 1000 Kilometer entfernte Havanna nur Erfolgsmeldungen über den gelungenen Wiederaufbau übermittelt werden. 

Statt des vermeintlich starken Staates mit transparenten Steuerungsmechanismen herrsche oft ein Chaos vor, das sich je-der Kontrolle entziehe, so sieht es Consuelo aus Havanna, Mitarbeiterin des  Fernsehens. Oszilliert das System also zwischen den Polen Struktur und Durcheinander? Hinter dem Nebel des Chaos zeichnet sich das Profil kollektiver und individueller Akteure mit ihren partikularen Interessen ab. Contraloría de la República, die für Korruptionsbekämpfung zuständige Behörde, leistet gute Arbeit, wird aber dieses Phänomens nicht Herr, es handelt sich um eine Kontrolle der jeweiligen Subsysteme von außen, während im Innern eines jeden Teilsystems (zum Beispiel in der Kultur-, der Wohnungsbürokratie, den Betrieben) wenige Kontrollmechanismen existieren. Ebenso scheiden die großen Medien als weiteres Steuerungssystem von außen trotz der neuen Leserbrief- und Beschwerdeseiten in der „Granma“ noch weitgehend aus. Investigativer Journalismus hat es in Cuba schwer. Das Fernsehen neigt weiterhin zu heroischen Ritualen (irgendwer heftet irgendwem unter Beifall von irgendwelchen aus irgendeinem Anlass den Orden für irgendwas an die Brust; Nachrichten Noticiero vom 27.12.2016).

Fidel Castro regierte streckenweise an den Institutionen vorbei, auf „einer einzigen Beziehungsachse, dem Dialog zwischen Castro und den Massen“, es sei nach cubanischer Lesart dadurch „eine effektive und vor allem an der politischen Basis orientierte, direkte Demokratie etabliert“ (H. J. Frieß: „Castro und kein Ende. Zur politischen Stabilität auf Kuba“, Potsdam 2009). Fidel – in ambivalenter Doppelgestalt – war immer der erste Kritiker der von ihm selbst mit geschaffenen Wildwucherbürokratie, Regierungs- und Oppositionschef in einem, wie der Sozialwissenschaftler Heinz Dieterich („Kuba nach Fidel“, Berlin, 2006) anmerkt. Keine der gesellschaftlichen Instanzen im Land ist laut Dieterich darauf vorbereitet, die Herausforderung dieser Doppelrolle anzunehmen, dafür seien sie zu sehr gezähmt, die Sensoren für die Wahrnehmung von Bedürfnissen und Notwendigkeiten seien schwach.

Ein typischer Prozess: nach der charismatischen Generation der ersten Revolutionäre treten nach und nach andere in ihre Fußstapfen, die sich in vorgegebenen Denk- und Verhaltensmustern zu bewegen wissen. Nun findet sich kein Che Guevara mehr, keine Gebrüder Castro, auch kein Bolerokomponist wie Juan Almeida Bosque. Technokratische Charaktere treten in den Vordergrund. Miguel Díaz-Canel, erster Vizepräsident, wird als Kronprinz gehandelt, wenn Raúl Castro 2018 zurücktritt. Er mag integer sein, dennoch traut ihm kaum jemand etwas zu. Statt fesselnder Rhetorik bietet er das Charisma eines Ziegelsteins. Der Politiker, in dessen Händen viele CubanerInnen die Geschicke des Landes gut aufgehoben sähen, ist der populäre Lázaro Expósito, Chef der Provinz Santiago de Cuba, der jedoch nicht als Nachfolger von Raúl Castro im Gespräch ist.

Die cubanische Revolution findet als symbiotisches Phänomen von Einheit und Solidarität ihren Ausdruck zum Beispiel darin, dass die Gewaltkriminaltät immer noch niedriger ist als in Staaten mit ähnlicher wirtschaftlicher Leistungskraft. Ursache und gleichzeitig Ausdruck dieser Bindungs- und  Integrationskraft des Systems sind auch die sozialen Indikatoren, von der Lebenserwartung bis zur Säuglingssterblichkeit. Bei letzterer ist Cuba mit 4,3 Sterbefällen von Tausend nun endgültig in der Liste der 20 besten Länder angekommen, umgeben von lauter hochentwickelten Gesellschaften.

Andererseits lassen sich hinter dem beschriebenen Kult der Einheit Probleme und Partikularinteressen leicht verstecken. Bloß nicht genauer hinschauen: die Auseinandersetzung über Korruption oder Misswirtschaft findet in der medialen Öffentlichkeit kaum statt. Erst seit kurzem wird endlich das Thema häuslicher Gewalt in großen Aufklärungskampagnen im Fernsehen und in Kinospots thematisiert, früher passte es nicht ins Konzept des „neuen Menschen“. Die Sozialwissenschaftlerin Alberta Durán beklagt aber das Fehlen von Instrumenten wie Näherungsverboten oder Frauenhäusern. Auch Eingriffe in die elterliche Sorge sind selten. Die kollektive Förderung war immer wichtiger als der individuelle Schutz. 

Über Fehler und Schwächen der cubanischen Gesellschaft fiel der Westen gerne her. Fidel diente hier als Projektionsfläche für die Ideologie des Antikommunismus. Der „Stern“ sieht Castro als eine Art Verbrecher und rechnet ihm gar die Toten an, die beim Überqueren des Meeres Richtung USA ums Leben gekommen sind. Washingtons bis vor kurzem noch geltende Politik des Anlockens mittels exklusiver Anreize für CubanerInnen bleibt dabei außerhalb der Betrachtung. Auch würde niemand die Präsidenten Mexikos, Guatemalas oder Marokkos für die auf der Flucht ums Leben gekommenen Menschen aus ihren Ländern verantwortlich machen, bei Cuba galt immer schon das Messen mit zweierlei Maß.

In Cuba stellte Fidel hingegen zumindest für die älteren Generationen bis zuletzt eine Projektionsfläche für das Gute im Menschen dar. Dies lässt sich nicht nur mit Charisma begründen, auch wenn er zeitlebens so als Idealtypus des charismatischen Führers agierte, als wäre er von Max Weber erfunden worden. Noch weniger lässt sich das Phänomen mit schlichter Manipulation erklären. Noch nie in der jüngeren Geschichte waren so viele CubanerInnen schon im Ausland gewesen, ohne dass dies signifikant deren Haltung zum Comandante und zur Revolution verändert hätte. Vielmehr handelt es sich bei dieser emotionalen Bindung um das Ergebnis von Emanzipations-, Sicherheits- und Anerkennungserfahrungen, die direkt Fidel angerechnet werden. Dabei stellen das Batistaregime und der Vergleich innerhalb der Region den Bezugsrahmen dar. Andererseits wird der Ärger der Menschen über Willkür-, Korruptions- und Ignoranzerfahrungen durch die Bürokratie deutlich. Wie lange reicht der emotionale Kitt, der die Gesellschaft über Jahrzehnte zusammengehalten hat, noch?

Einer zukünftigen Identifikationslücke begegnet die cubanische Führung mit Kampagnen unter dem Motto „Yo soy (ich bin) Fidel“. Der leicht makabre Beigeschmack der Parole soll hier nicht diskutiert werden, die Botschaft ist klar: Wenn alle (wie) Fidel sind, bedarf es keines lebenden Idols mehr. Das erinnert an eine andere Parole: „Seremos como el Che! – seien wir wie der Che!“. Wer aber ernst machen würde mit dem Anspruch, (wie) Fidel oder wie Che zu sein, könnte leicht mit dem Apparat in Konflikt geraten. Weil er oder sie eben doch nicht Fidel und auch nicht Che ist.