Wi(e)der die Grausamkeit

Es ist der 20. November 2019. Die Performance El violador en tu camino (Der Vergewaltiger auf deinem Weg) des chilenischen feministischen Kollektivs Las Tesis wird zur Initialzündung. Schwarz gekleidete, maskierte Frauen stehen auf dem Hauptplatz von Valparaíso. Lautstark und lustvoll schreien sie ihre Wut auf das Patriarchat heraus. Die Choreografie ihrer Bewegungen wirkt archaisch wuchtig, militärisch fast, mitreißend. Wenige Tage später, am Internationalen Tag der Gewalt gegen Frauen (25. November), wiederholen sie die Performance in der Hauptstadt Santiago de Chile. Sie löst sich schnell aus dem Kontext der im Vormonat ausgebrochenen sozialen Proteste in Chile. Der Frontalangriff auf das Patriarchat findet rasend schnell Widerhall rund um den Globus. Weltweit skandieren Frauen die von der argentinischen Anthropologin Rita Laura Segato inspirierten Texte der Performance, ausgebremst nur von der öffentliches Auftreten lähmenden Pandemie wenige Monate später.

Laura Segato wurde im August dieses Jahres 70. Kein junger Spund mehr, aber weiterhin zentrale Stichwortgeberin der lateinamerikanischen Frauenbewegungen und aktivistische Analytikerin von Patriarchat und Gewalt gegen Frauen. Eine, die zu Ungehorsam, zu Auflehnung wider die Grausamkeit aufruft, weil Gewalt und Grausamkeit im Namen des „Mandats der Männlichkeit“ immer noch und wieder vermehrt da sind. Eine, die längst auch auf Deutsch hätte übersetzt werden müssen. Die freie Journalistin Sandra Schmidt hat das jetzt dankenswerterweise mit dem Band „Wider die Grausamkeit. Für einen feministischen und dekolonialen Weg“ nachgeholt. Der Band versammelt die Transkription dreier zusammenhängender, an argentinischen Universitäten gehaltenen Vorträge über dekolonialen Feminismus, die zu Bandwurmsätzen neigen, und einen vierten, im Stil gewöhnungsbedürftigeren Vortrag, der gemeinsam mit Paulina Alvarez niedergeschrieben ist. Er beschreibt zunächst die Einführung von Quoten für Schwarze Studierende in Brasilien, holt dann aus zu einer Philippika gegen lateinamerikanische Universitäten als Orte der Einübung in die Unterwerfung unter europäische Maßstäbe. Wahrlich eine Herausforderung an die Übersetzerin angesichts der absichtsvoll von Rita Segato angewandten Methode des Mäanderns, des schweifenden, dialogischen Sprechens vor Studierenden, aus dem sie, ausdrücklich un-akademisch (sic), Verständnis, neue Sichtweisen und neue Analyseinstrumente bei sich und ihren Zuhörer*innen entwickeln will, statt Vorgekautes professoral zu verkünden.

Dabei verschränkt Rita Segato einen feministischen Ansatz mit der dekolonialen Theorie, wie sie Aníbal Quijano entwickelte (dem Peruaner zu Ehren rief das Reina-Sofía-Museum in Madrid 2018 einen Lehrstuhl ins Leben, den Rita Segato innehat). Genau diese Verschränkung generiert gleichsam einen präzisen Scheinwerfer aus zuvor diffusem Licht. Man muss nicht alles an ihrer vor Polemik („Eurozentrismus und Rassismus sind synonym“) nicht zurückschreckenden Gedankenführung teilen, aber es bleibt genügend, um das eigene – mein – Koordinatensystem zur Beurteilung der herrschenden patriarchalen Ordnung neu zu justieren. Sie selbst spricht von Pädagogik der Grausamkeit, die es subversiv zu überwinden gelte.

Dazu nimmt Rita Segato ihre Zuhörer*innen und Leser*innen (sie selbst gendert übrigens nicht!) mit zu Feldforschungen, die ihre eigenen Annahmen über Männer und Frauen erschütterten und neu formten. Zunächst zu einer afrobrasilianischen Religionsgemeinschaft im Norden des Landes in den Jahren 1976-80. Sie erkannte dort, dass Männer und Frauen nicht biologische Essenzen, sondern lediglich Geschlechterrollen sind, eine „erfundene Natur“ (so der Titel einer Veröffentlichung von 1986). Damit kann die geschlechtliche Zusammensetzung jeder Person gemischt sein – was die Willkür einer binären Sicht auf Menschen, der Behauptung einer ursprünglich heterosexuellen Matrix entlarvt. Was als weiblich, was als männlich gilt, ist soziale Zuschreibung. Aus Interviews mit verurteilten Vergewaltigern in Brasília Anfang der 90er-Jahre leitet sie ab, dass männlich konnotierte, geschlechtsspezifische Gewalt nicht vorübergehend, kein Unfall ist, sondern strukturell, eine Folge eines „Mandats der Männlichkeit“. Vergewaltigungen sind – im Allgemeinen, nicht im Einzelfall – keine Bestrafungen einer bestimmten Frau, sondern zielen vor allem auf die anderen Männer ab: „Seht her, ich habe Macht, ich bin männlich“. Gewalt ist eine Aussage, nicht in erster Linie Beziehung.

Bestätigt findet Rita Segato das bei Forschungen in Ciudad Juárez Anfang der 2000er-Jahre, wo nach den im Zuge des NAFTA-Freihandelsvertrags neu geschaffenen Fabriken für den Export (maquiladoras) mit mehrheitich weiblichen Arbeitsplätzen ab 1994 massenhaft Frauenmorde, Feminizide, sichtbar wurden. Mörder und Opfer kannten sich meist nicht, die Bestrafung einer Partnerin lag somit nicht vor, meint Segato. In mafiös strukturierten Gesellschaften, führt sie weiter aus, wird das „Mandat der Männlichkeit“ noch stärker. Die männliche Korporation ist der Schlüssel – was bedeutet, dass das Ende der geschlechtsspezifischen, patriarchalen Gewalt nur über die Veränderung von deren – überwiegend biologisch männlichen – Mitgliedern geschehen kann. Gleichstellung, wie es die Moderne vorschlägt, wäre damit als Abhilfe dafür unsinnig. Damit kritisiert Segato auch „weißen Feminismus“, der dergestalt geschlechtsspezifische Gewalt ausmerzen will.

Mafiöse und patriarchale Vereinigungen, so Segato weiter vom Beispiel Ciudad Juárez ausgehend, „sind in ihrer Struktur und ihrer Funktionsweise analog“. Und manches Mal in ihrer Mitgliedschaft identisch, siehe die Verflechtungen in Mexiko oder auch Kolumbien. Die „Spektakularisierung“ der Gewalttaten dehnt die Machtdemonstration vom Einzelnen auf ein Territorium aus.

Die Grausamkeit der verordneten Männlichkeit nämlich unterwirft nicht nur als Frauen Markierte, sondern auch Territorien, denen Rohstoffe entrissen werden, und Menschen, die auf diesen Territorien leben (und straflos massakriert werden). Mit dem zunehmenden Zugriff auf die Rohstoffe der Länder des Südens steige auch die patriarchale, koloniale Gewalt.

Wie die soziale Konstruktion von Geschlecht, so ist mithin auch raza, mit der Kolonisierung nach Lateinamerika gelangt, ein vergleichbares Diktat zur Unterordnung. Mit dem in der dekolonialen Theorie entwickelten Begriff raza und auf der Basis in den Vorträgen erläuterter eigener Feldforschung kann Segato erklären, dass Nicht-Weiße dem herrschenden Patriarchat zufolge und durch es unterworfen werden, Schwarze, Indigene, Frauen, Territorien. Die „Criolloisierung“, also die Imitation der Machtmuster europäischer Herrscher, gelingt nach Segato, weil es vor der Kolonisierung schon ein Patriarchat gab, dieses durch die Kolonisierung nicht übergestülpt, sondern durch das Mittragen nicht-weißer Männer verstärkt wurde. Wo vormalige Beziehungsstrukturen aufgrund der immer noch weitergehenden ökonomischen Vereinnahmung des modernen Staats zerreißen, verschärft das „Mandat der Männlichkeit“ geschlechtsspezifische Gewalt, ja Gewalt generell.

Rita Segato dekonstruiert korporative Strukturen, dekolonisiert, demontiert. Einer der interessantesten Aspekte daran ist vielleicht die Verschiebung der Perspektive. Nicht biologische Frauen sind die Opfer, sondern diejenigen, die sich dem binären Diktat unterwerfen zu müssen glauben. Ungehorsam ist das erste Gegengift. Katja Maurer von medico international, die das lesenswerte Vorwort schrieb, erinnert daran, dass Rita Segato in einem Gespräch mit ihr Chelsea Manning, die Julian Assanges Quelle für die WikiLeaks war, als Verkörperung dieses Ungehorsams nannte. Da ist was dran!