Search The Query
Search

  • Home
  • Wir können nicht erst nächstes Jahr etwas essen

Wir können nicht erst nächstes Jahr etwas essen

Landesweiter Streik gegen weitere Neoliberalisierung in Ecuador

Guadalupe Zhingri ist Kichwa Indigene, Lehrerin und Gewerkschaftsmitglied. Wie viele andere nimmt sie am 16. Juni an einer Demonstration in der südlichen Andenstadt Cuenca teil. Dort berichtet sie, wie die steigenden Lebenshaltungskosten und Kürzungen im Bildungssystem ihren Alltag betreffen: „Unser Gehalt als Lehrer*innen wurde seit 14 Jahren nicht erhöht. Für die steigenden Lebensmittelpreise reicht mittlerweile kein Lohn mehr aus. Der Präsident sagt, nächstes Jahr werden unsere Löhne erhöht. Aber da frage ich: Sollen wir dann erst nächstes Jahr essen? Nein, wir brauchen jeden Tag etwas auf dem Tisch.“

Liz Zhingri, feministische Aktivistin und nicht verwandt mit Guadalupe, unterstreicht das in Zahlen: „In Ecuador haben nur drei von zehn Personen eine würdige Arbeit. Davon verdienen viele nur den Mindestlohn, aber die monatlichen Lebenskosten übersteigen diesen Mindestlohn. Die Prekarisierung wird immer stärker, die Lebensmittel werden immer teurer. In nur einem Monat haben sich die Preise für Grundnahrungsmittel wie Öl und Reis verdoppelt, und sie steigen weiter.“ Diese Zahlen decken sich mit denen des nationalen Statistikinstituts, nach dem 33,1 Prozent der „wirtschaftlich aktiven Bevölkerung“ im Januar 2022 einer „adäquaten Beschäftigung“ nachgingen. „Adäquat“ heißt in dem Fall, dass sie den Mindestlohn von 425 Dollar im Monat oder mehr verdienen. 60,9 Prozent der Ecuadorianer*innen gelten demnach als unterbeschäftigt oder gehen einer unbezahlten Arbeit wie der Haus- und Sorgearbeit nach, 5,4 Prozent gelten als arbeitslos. Die monatlichen Lebenshaltungskosten für eine vierköpfige Familie lagen laut dem Institut im Mai 2022 bei 735,15 Dollar beziehungsweise bei 522,70 Dollar in der verminderten Variante – in jedem Fall deutlich höher als der Mindestlohn. Grund für die steigenden Lebenshaltungskosten und die Prekarisierung sind einerseits die sich bereits seit 2018 zuspitzende und durch Pandemie und den Krieg in der Ukraine nochmals verschärfende Wirtschaftskrise sowie die vom Internationalen Währungsfonds auferlegten Strukturanpassungsmaßnahmen.

Angesichts dieser Realitäten im Land legten verschiedene indigene Verbände, darunter die Vereinigung indigener Nationen CONAIE, zu Beginn der landesweiten Proteste zehn klare Forderungen zu Themen wie Lebenshaltungskosten, Arbeitsbedingungen, Bildung und Gesundheit vor (s. Kasten). Leonidas Iza, Präsident der CONAIE, erklärte zudem, dass der Dialog, den die Vereinigung seit einem Jahr mit der Regierung Lassos führt, ergebnislos geblieben sei. Sie seien nicht zu weiteren „Dialogen“ hinter verschlossenen Türen bereit, zu denen sowohl die ecuadorianische Regierung als auch internationale Organisationen wie die UNO sie im Verlauf der Proteste wiederholt einluden und aufforderten. Auf die Forderungen der Streikenden reagierte Präsident Lasso am fünften Tag der Proteste mit acht Angeboten. So sollte der Treibstoffpreis auf aktuellem Niveau eingefroren, Schulden in geringer Höhe erlassen, finanzielle Unterstützungen für kleine und mittlere Produzent*innen bereitgestellt und das Budget für interkulturelle Bildung – das zuvor drastisch gesenkt worden war – verdoppelt werden. Die CONAIE wies diese Angebote jedoch mit dem Hinweis, diese seien unkonkret und zeugten von mangelndem politischem Willen, zurück.

Mitten im Streik verkündete Guillermo Lasso zudem das Dekret 457 zur „Optimierung des Staatshaushaltes“, das unter anderem einen Stellenabbau im öffentlichen Sektor vorsieht. Zu Massenentlassungen werde es aber nicht kommen, versicherte die Regierung.

Auch die massive staatliche Repression brachte die Indigenenorganisationen bislang nicht zurück an den Verhandlungstisch. Vielmehr intensivierten sich die Proteste, nachdem Leonidas Iza in der Nacht zwischen dem ersten und zweiten Streiktag willkürlich festgenommen wurde und sein Verbleib über mehrere Stunden ungeklärt war. Erst nach 24 Stunden ließ man ihn auf richterliche Anordnung wieder frei. Demnächst muss er sich wegen mutmaßlicher Stilllegung öffentlicher Dienstleistungen vor Gericht verantworten.

Am 17. und 20. Juni verhängte Lasso den Ausnahmezustand über sechs Provinzen, darunter Pichincha mit der Hauptstadt Quito. Damit wurde unter anderem die polizeiliche Räumung der Casa de la Cultura, des staatlichen Kulturzentrums in Quito, am 19. Juni gerechtfertigt. Der Direktor der Casa de la Cultura ließ hingegen verlauten, dass dabei dennoch geltendes Recht verletzt wurde, weil es keine öffentliche Ankündigung gegeben habe und die Maßnahme nicht ordnungsgemäß dokumentiert worden sei.

Die Casa de la Cultura ist nicht nur ein wichtiger Ort für Künstler*innen, Kulturschaffende und Intellektuelle, sondern auch historischer Rückzugsort für indigene und andere soziale Bewegungen, wenn sie in der Hauptstadt protestieren. Die Räumung unter dem Vorwand der Sprengstoffsicherung führte zu Solidaritätsbekundungen einerseits und wütendem Protest andererseits. 112 Fälle staatlicher Gewalt zählte das Kollektiv „Geografía Crítica“ in Zusammenarbeit mit mehreren Menschenrechtsorganisationen bis zum 22. Juni 2022. Zwei junge indigene Männer verloren bis dahin im Zusammenhang mit den Protesten ihr Leben, einer von ihnen wurde von einer Tränengasbombe am Kopf getroffen. (Zur Drucklegung der ila stieg die Zahl der Toten auf sechs – d. Red.)

Nicht zuletzt das repressive staatliche Vorgehen führt dazu, dass der Ruf „Lasso raus“ immer lauter wird. Abgeordnete der ideologisch von Ex-Präsident Rafael Correa angeführten Koalition UNES verkündeten am 24. Juni, dass sie den Prozess der verfassungsgemäßen Absetzung des Staatsoberhauptes einleiten werden. Dafür braucht es die Unterschriften von 92 der 137 Abgeordneten. Spekuliert wird, dass frühzeitige Neuwahlen den Einfluss Correas im Land vergrößern könnten. Die indigene Partei Pachakutik, die intern gespalten ist – Teile unterstützten 2021 die Kandidatur Lassos – hält sich derweil eher bedeckt, verkündete aber ihre generelle Unterstützung des Streiks und verurteilte die staatliche Repression gegen Leonidas Iza und andere Teile der indigenen Bewegung.

In sozialen Medien bekriegen sich unterdessen die neoliberalen Regierungsanhänger*innen, die Streikkritiker*innen, Protestbefürworter*innen und Aktivist*innen. Kritisiert wird insbesondere, dass durch die landesweiten Straßenblockaden Produkte nicht mehr in die Städte geliefert werden können, weswegen Grundnahrungsmittel und Gas noch teurer werden und Menschen nicht zur Arbeit kommen beziehungsweise ihre Geschäfte schließen müssen. Andere verweisen auf das gewaltvolle Vorgehen der Protestierenden. Auf den Straßen Quitos und Cuencas fanden Konfrontationen zwischen Protestierenden und teilweise bewaffneten Angehörigen der Mittel- und Oberschicht statt.

Die CONAIE ruft immer wieder zu friedlichem Protest auf und distanzierte sich etwa von einem Angriff auf die Generalstaatsanwaltschaft am 21. Juni. Dieser sei nicht Teil des legitimen indigenen Protests. Liz Zhingri, die feministische Aktivistin aus Cuenca, findet klare Worte: „Die Protestierenden werden als Vandalen und Kriminelle bezeichnet. Dabei wissen wir doch alle, dass das wirklich Kriminelle ist, dass es keine würdigen Lebensbedingungen gibt.“

Wir können nicht erst nächstes Jahr etwas essen – ilawordpress