Stellt euch und euer Kollektiv bitte kurz vor!
YL: Ich bin Künstlerin aus China. Derzeit lebe ich in Amsterdam. Unser Kollektiv Weaving Realities haben wir 2019 zusammen mit Teresa Díaz gegründet. Es konzentriert sich darauf, mit Hilfe von Lebensmitteln und Kochen eine Diskussion über unsere Beziehungen zur Erde anzuregen. Im Moment sind wir zu zweit. Wir arbeiten auch mit anderen Kollektiven und Künstler*innen zusammen, demnächst etwa mit dem Suumil-Kollektiv
AR: Ich komme aus Mexiko und bin auch Künstler. Was uns zusammengebracht hat, war unter anderem der Wunsch, aus dem Format der Ausstellungen und der Konsummentalität herauszukommen. Das ist nicht einfach. Wenn wir zum Beispiel über die Probleme des Kakaoanbaus sprechen, fragen uns die Leute: „Okay, welchen kaufe ich dann (damit ich mich besser fühle)?“. Das ist die einzige Rolle, die wir als Verbraucher*innen in der Gesellschaft einnehmen. Das Gleiche passiert, wenn Menschen zu einer Kunstausstellung kommen. Sie warten und sitzen, schauen zu und versuchen, sie zu konsumieren. Also begannen wir, Gespräche im Park, in der Stadt und auf der Straße zu führen; die ganze Dynamik veränderte sich. Wir waren auf der Suche nach ähnlichen Dingen und begannen, Veranstaltungen zu organisieren.
Warum habt ihr Amsterdam als Ort für euer Kollektiv gewählt?
YL: Es ist zufällig der Ort, an dem wir leben, die Stadt ist aber auch wegen ihrer Kolonialgeschichte interessant. In unseren Performances arbeiten wir viel mit Kakao. Amsterdam ist der größte Import- und Exporthafen für Kakaobohnen weltweit. Im Jahr 2019 wurden hier über 1,2 Milliarden Tonnen Kakaobohnen ent- und beladen. Von hier aus gelangen die Kakaobohnen nach Deutschland, Belgien und in die Schweiz, um zu Schokolade verarbeitet zu werden. Wir wollen in unseren Straßenperformances an diese kollektive Erinnerung und Geschichte anknüpfen, die eng mit Amsterdam verbunden ist. Wir arbeiten auch mit den kollektiven Erinnerungen und dem Wissen von Reis und verschiedenen Gewürzen. Der Gewürzhandel ist im gesamten Prozess der Kolonialisierung wichtig, vor allem zu der Zeit, als die VOC, die Niederländische Ostindien-Kompanie, daran beteiligt war. Diese kolonialen Prozesse sind in der heutigen Gesellschaft der Niederlande immer noch sehr präsent.
AR: Wir heißen Weaving Realities, weil wir versuchen, andere Realitäten, anderes Wissen, andere Welten zu weben, die außerhalb unserer Weltvorstellung liegen. Das Problem ist, dass alles, was wir mit unserer Konsummentalität angehen, giftig für die Menschen des Ursprungslandes, für die Umwelt und die Tiere dort wird. Es geht nicht darum, dass wir die Monokulturen von Reis, Kakao oder Mais ändern. Wie können wir diese Idee, diese Art, die Welt zu verstehen, ändern? Nicht nur durch die Sprache und eine andere intellektuelle Betrachtungsweise, sondern indem wir die Denkweise ändern.
Wir arbeiten mit dem Konzept Sentipensar. Es stammt von den Indigenen aus Abya Yala (dem amerikanischen Kontinent) und bedeutet „Denken durch Fühlen“. Sentipensar bedeutet, die Sprache zu überwinden und die direkte Beziehung zur Erde hervorzuheben. Wir sind darauf trainiert, alles nur mit dem Intellekt und mit Worten zu analysieren. Aber Sentipensar ist die Verbindung der Empfindungen, der Sinne, der Emotionen und auch des Denkens mit der Erde. Wir arbeiten mit Nahrungsmitteln, weil sie mit den Geschichten aus anderen Orten, Gemeinschaften und der Umwelt verbunden sind. Durch die Art und Weise, wie wir Lebensmittel konsumieren, ist viel von ihrem Kontext verloren gegangen. Wir haben den Bezug dazu verloren. Wir erinnern uns an den Preis, aber nicht daran, woher sie kommen. Dieser Beziehung wollen wir wieder mehr Bedeutung geben.
Nach meinen Erfahrungen mit dem Konzept eröffnet es viele Möglichkeiten, mit Menschen in Kontakt zu treten und ins Gespräch zu kommen. Was macht das Konzept außerdem aus?
AR: In der westlichen Gesellschaft und in der Kunst denken wir auf eine sehr individuelle Weise. „Wir können keine Lösung für dieses Problem mit derselben Mentalität finden, die das Problem überhaupt erst geschaffen hat.“ Das ist ein Zitat von Boaventura de Sousa Santos. Sentipensar spricht zunächst von anderen Kenntnissen. Bei den Arhuacans und den Kogi in der Sierra Nevada in Kolumbien habe ich zum Beispiel festgestellt, dass es für sie nicht denkbar ist, den Fluss in ihr Badezimmer zu bringen. Sie müssen zum Fluss gehen, um ein Bad zu nehmen. Wenn wir duschen oder ein Bad nehmen, denken wir nur an uns selbst, wir denken daran, ob wir es brauchen oder wie lange wir duschen wollen. Aber wenn wir ein Bad im Fluss nehmen, hat das eine ganz andere Bedeutung. Du denkst an den Fluss, du denkst an das Wetter, an die Tageszeit oder an die Mondzeit. Ist es regnerisch, ist es sonnig? Ist es warm? Ist der Fluss sauber? Oder war es trocken und der Fluss ist sehr niedrig? Wenn du bei Neumond badest, hat das eine andere Bedeutung als bei Vollmond und auch, in welchem Teil des Flusses du es tust. Wir fangen an, mit der Erde zu denken. Das Gleiche passiert mit dem Essen. Als wir zum Beispiel Aktivist*innen im mexikanischen Guerrero besuchten, führten sie uns über ihr Land, auf dem sie auch Mescal-Bäume anbauten. Als sie uns die Bäume zeigten, sagten sie „das ist der Baum, den wir für die Hochzeit unseres Onkels fällen werden“. Daran kann man ihre Beziehung zu ihrem Land erkennen.
YL: Auf diese Art und Weise werden viele Kenntnisse und Beziehungen unter den Menschen in Abya Yala geteilt. Abya Yala ist nicht das, was die so genannten Amerikas sind. Es ist ein Territorium, das lebt, wo wir zum lebendigen Territorium gehören. Das Territorium ist dort, wo auch in der Gegenwart die Vorfahren und die zukünftigen Generationen leben, wo der Fluss fließt und die Bäume wachsen. Die geografisch gezogenen Grenzen sind dabei unwichtig.
AR: Diese ganze Relationalität ist verschwunden, wenn wir nur vom Individuum und von der Sprache her denken. Die Arhuacans haben mich gelehrt, dass das wahre Wissen darin besteht, den Schmerz und das Schweigen des Anderen zu verstehen. Und dieser Andere ist nicht nur ein menschliches Wesen, sondern auch der Fluss, der Wald, die Mondzeit und die Erde.
YL: Für mein persönliches Verständnis verbindet Sentipensar den Einzelnen mit unserer Gemeinschaft und mit anderen Dingen. Wir können nicht alleine existieren. Sentipensar bedeutet, unser Denken in Beziehung zu der Temperatur, der Zeit, der Zeitlichkeit, den verschiedenen Arten zu setzen. In dieser Relationalität gibt es andere Arten des Wissens, des Fühlens und Verstehens. Das können wir nicht archivieren, indem wir die Tür schließen und Bücher lesen, indem wir unsere Gehirnkapazität in intellektuellen Übungen trainieren. Auch das ist wichtig, aber was würde passieren, wenn das Denken mit dem lebendigen Territorium geerdet wäre? Alles ist lebendig, und wir sind auch lebendig als ein Teil davon, nicht als etwas, von dem wir getrennt sind. Für mich steht Sentipensar also definitiv für Verbundenheit. Aber es ist weit mehr als nur ein Werkzeug, um mit einem Fremden zu sprechen.
Ich finde es stets schwierig, über Sentipensar zu sprechen. Ich bekomme Fragen wie „Könnt ihr uns Lesestoff über Sentipensar empfehlen?“. Das passt nicht so recht zum Konzept. Für mich ist der Geruch etwa ein sofortiges Portal für Sentipensar. Wenn ich denselben Duft rieche, versetzt er mich unmittelbar in eine andere Zeit und einen anderen Raum in meiner Erinnerung. Doch durch die Hierarchie im westlichen Kanon, die besagt, dass der Intellekt über dem Körper steht und das Denken wichtiger ist als die emotionale Intuition, sind wir getrennt und haben sogar eine innere Hierarchie. Wie können wir das wieder integrieren? Ist es überhaupt möglich, rationales Denken ohne emotionale Wege zu haben? Sentipensar ist der Versuch, diese verschiedenen Gefühle, Emotionen, Intuitionen, Empfindungen zusammenzubringen als eine andere Art von Wissen. Jenseits der Sprache, weshalb es manchmal schwer zu artikulieren, aber recht einfach zu teilen ist.
AR: Es ist ein Werkzeug, um aus unserem bestehenden Denkrahmen herauszukommen. Das ist wirklich schwierig, denn mit Sprache formen wir einen Sinn in der Welt. Wir denken in Worten und sind in dieser Weise aufgewachsen. Sentipensar ist ein Werkzeug. Es geht nicht nur darum, das Konzept zu verstehen, sondern wirklich zu fühlen, was es verkörpert, mit dem ganzen Körper zu denken. Und mit der körperlichen Erinnerung. Dies ist ein Weg, unsere eigene Vorstellung, unseren Körper zu dekolonisieren. Unsere Körper sind aus Erde gemacht, alles, was wir essen, ist Teil unseres Körpers, und wir fühlen es. Das gemeinsame Kochen ist reich an Empfindungen und Erfahrungen. Wir sollten unsere Erinnerungen und unsere Vorstellungskraft nutzen, um unsere eigene Geschichte zu erzählen, sowie die Erinnerungen unserer Vorfahren, die darin eingebettet sind.
YL: Wir wurden in diese verengte Sichtweise der Welt gezwungen. Es wird behauptet, dass dies die Universalität ist, dass alles so ist. Wenn man sich nicht an unsere Standards oder Grundsätze hält, ist man nicht zeitgemäß. Du steckst irgendwo in der Vergangenheit, du bist „traditionell“, wie man so schön sagt, hast das Stigma der Rückständigkeit.
Aber wir müssen die Andersartigkeit anerkennen. So wie ein anderer Boden andere Lebensformen ernährt, andere Pflanzen, Mikroorganismen, Tiere. Es ist unmöglich zu denken, dass es nur eine Art und Weise gibt, wie man ihn bewässert. Aber das ist in den letzten 500 Jahren geschehen. Die Moderne ist in gewisser Weise zu aggressiv gewesen.
Es gibt andere Wege, die wir beschreiten können, sie enthalten auch eine Menge Weisheit, aber man sollte sie nicht als „Kosmovision“ oder „mythische Erzählungen“ bezeichnen. Sie sind genauso legitim wie die moderne Wissenschaft. Wie lernen wir, das Wissen zu respektieren und daraus zu lernen? Das ist etwas, das ich mir von den Zapatistas abschaue: eine Welt aufbauen, in der viele Welten koexistieren können. Das ist Pluralität, die aus dem Verständnis des Anderen kommt. Nicht als weniger wert, sondern als gleichwertig. Sentipensar kann ein sehr gutes Werkzeug sein, um diesen Öffnungsprozess zu beginnen.
AR: Sentipensar ist eine Brücke, um aus der universellen Sichtweise der Welt herauszukommen. Epistemologien, die davon ausgehen, dass wir alle gemeinsam existieren, bilden die Grundlage. Zum Beispiel: „Ich kann nicht existieren, wenn der Berg nicht existiert“, denn die Berge existieren, der Fluss existiert, du existierst, ich existiere. Das ist eine andere Grundlage der Interdependenz als die westliche Sichtweise. „Ich denke, also bin ich“ geht vom Ich aus. Wenn etwas nicht auf unsere Weise denkt, dann existiert es gar nicht. Diese Weltsicht passt sehr gut in die Erzählung des Kapitalismus. Aber der Löwe kann nicht ohne Zebras leben und Zebras nicht ohne Gras. Wir können nicht sagen, wer der Stärkste und der Fitteste ist, nur stark und fit zu sein ist nicht genug. Alles hängt miteinander zusammen. Das ist etwas, was die Wissenschaft und das westliche Wissen viele hundert Jahre lang ignoriert haben. Das Erste, was die Wissenschaft tut, ist zu trennen. Sie trennt den Körper vom Geist, den Geist von den Frauen, den Geist von der Natur. Und wenn wir krank sind, schauen wir nicht auf alles, sondern nur auf die Spezialisierung von Expert*innen. Sie sind sehr gut in etwas Bestimmtem, aber unwissend in allem anderen.
YL: Das ist der Grund, warum wir uns für anderes Wissen öffnen müssen, insbesondere für das Wissen der Vorfahr*innen aus anderen Kulturen. Das Interessante daran ist, dass es sie schon immer gegeben hat. Ich vertraue sehr darauf, dass sich jede*r auf Sentipensar beziehen, es verstehen oder fühlen kann. Das steht außer Frage. Es braucht nur die richtige Umgebung. Wie können wir uns selbst erweitern, um von all dem Wissen zu lernen, das unsere Vorfahren an uns weitergegeben haben und das in vielen Gemeinschaften immer noch lebendig ist und Widerstand leistet? Wir sollten das nicht ausblenden und sagen, dass diese Menschen verschwunden sind. Sie leisten Widerstand, wir sollten ihren Widerstand respektieren und würdigen. Vielleicht können wir uns mit verschiedenen Hybriden verweben und so gemeinsam weiterleben.