Wir müssen die Schuldnermentalität ablegen

Erzähl uns etwas von eurer Kampagne!

Zunächst waren wir eine Reihe von Nachbarschaftsversammlungen, die nach dem 20. Dezember 2001 entstanden waren. Wir trafen uns immer samstags und diskutierten alle möglichen Themen – lokale wie regionale, nationale und internationale – und jeder suchte sich mit der Zeit das Thema raus, das ihn am meisten interessierte: Einige wollten z.B. einen Obstgarten anlegen, wir wollten uns eher globaleren Themen widmen. So bildete sich ein Grüppchen, das sich mit den Auslandsschulden befasste. Zunächst zeigten wir einen Film, „La mayor estafa al pueblo argentino“ („Der größte Betrug an der argentinischen Bevölkerung“) von Diego Musiak. Dieser Film erklärt die Auslandsverschuldung sehr gut, viele Sachen wussten wir überhaupt nicht. Wir kannten zwar die Parole der linken Parteien „Nein zu den Auslandsschulden“, aber wir wollten nicht einfach nur dieses „Nein“ übernehmen, sondern wollten die Gründe für dieses „Nein“ wissen. Die Nachbarschaftsversammlungen kennzeichnen sich ja dadurch aus, dass sie jegliche Art von Mandat ablehnen und alles horizontal diskutiert wird. Wir zeigten diesen Film in verschiedenen Kinos und diskutierten darüber. Es kamen sehr viele Leute. Wir verschickten Hunderte von Kopien in ganz Argentinien. Unser Ziel war es, die Auslandsverschuldung zu verstehen und leicht verständlich in einer Broschüre aufzubereiten. Diese Aufarbeitung, die wir in einem Fünfer-Kollektiv machten, war sehr wichtig und interessant für uns.

Dann kam uns die Idee, den argentinischen Staat vor dem Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen ECOSOC zu verklagen, da er die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte verletzt. So gründeten wir die Kampagne „La deuda o la vida“. Die Kampagne startete also mit dieser Klage, die ein Team von Rechtsanwälten aus Buenos Aires für uns formulierte. Dieses 300-Seiten-Werk wurde in Genf präsentiert, und unsere Broschüre setzten wir immer dann ein, wenn über diese Klage gesprochen wurde. Viele Lehrer der Mittel- und Oberstufe benutzen sie für ihren Unterricht. Im November 2002 veröffentlichten wir die Broschüre und zu der Versammlung kamen überwältigend viele Leute. Daraufhin machten uns einige KünstlerInnen aus der Stadt den Vorschlag, die Klage mit anderen Mitteln bekannt zu machen. Eine Gruppe von 25 Leuten – ArchitektInnen, Theaterleute, SportlehrerInnen etc. – entwickelte die Idee, den Slogan „No a la deuda, sí a la vida“ mit Menschenformationen auf dem Strand unserer Stadt für ein Postkartenmotiv zu arrangieren. Das geschah Ende Januar 2003, als die Klage beim ECOSOC verhandelt wurde. Es kamen mehr als 1500 Leute sowie Presse und Fernsehen aus der Hauptstadt. Das traditionelle Postkartenmotiv von Mar del Plata ist der Strand. Wir wollten mit unserer Aktion erreichen, dass das typische Postkartenmotiv in Zukunft der Strand mit unserer Botschaft ist. Unsere Postkarten werden jetzt in Buchläden und Kiosken verkauft. Die Aktion hat uns als Gruppe bestärkt, neue Leute sind hinzu gekommen.
Im Jahr 2003 hatten wir fünf verschiedene Projekte laufen. Doch dann gewann Kirchner im Mai 2003 die Wahlen. Damit setzte eine Schwächung und Demobilisierung der sozialen Bewegungen ein. Auch bei uns bröckelte es gewaltig, so dass wir schließlich nur noch ein Projekt halten konnten. Das war ein brutaler Schlag. Viele Leute aus den sozialen Bewegungen dachten, dass Kirchner das gleiche wie sie wollte – weshalb also weiter machen? Das einzige Projekt, das übrig blieb, war eine Versammlung, die sich in der Juristischen Fakultät traf. Wir luden verschiedene Leute ein, die zum Thema Schulden referierten, und danach gab es viel Zeit zum Diskutieren. Gleichzeitig organisierten wir unsere Veranstaltungen in Schulen und Stadtteilen und beteiligten uns mit Delegierten an der Bewegung gegen die gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA oder am Gesundheits-Sozialforum. Hauptthema blieb aber die Auslandsverschuldung. Im Rahmen dessen nahmen wir Kontakt zu anderen Gruppen in Argentinien und weltweit auf und beteiligten uns an Treffen der Entschuldungskampagne „Jubilee South“. Auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre waren wir auf einer Veranstaltung von Erlassjahr und wir lernten Leute von RECADE, einem Entschuldungsnetzwerk aus Spanien, kennen. Auf nationaler Ebene machen wir beim „Diálogo 2000“ mit, an dem die Menschenrechtsorganisation SERPAJ, attac, Teile des gewerkschaftsdachverbandes CTA, die Arbeitslosengruppe „barrios de pie“, ökumenische Gruppen und die Nachbarschaftsversammlungen beteiligt sind. 
Auf unseren Versammlungen zu den Auslandsschulden beleuchteten wir das Thema von einer politischen, wirtschaftlichen, juristischen, ökologischen, kulturellen und subjektiven Perspektive aus. Auf die subjektive Perspektive wollen wir uns im Moment konzentrieren, denn als wir tiefer in das Thema einstiegen, wurden wir uns der kulturellen Schwierigkeiten des Themas bewusst, im Hinblick auf eine Mentalität, die dieses System aufrecht erhält. Die Meinung von „Jubilee South“ ist z.B., dass die Länder des Südens Gläubiger-Länder sind und dass wir gar nicht zahlen müssen, weil tatsächlich die Länder des Nordens zahlen müssen. Das ist ein Riesenschritt: einen subjektiven Positionswechsel zu vollziehen und die Schuldner-Mentalität, die in den Ländern des Südens vorherrscht, abzulegen. Wir wissen aber noch nicht genau, wie man das am besten angeht. Daran arbeiten wir mit anderen Gruppen, z.B. dem „Colectivo Situaciones“. Mit ihnen untersuchen wir den Zusammenhang zwischen Auslandsverschuldung und Alltag – was für Auswirkungen haben die Auslandsschulden, wenn du ins Krankenhaus gehst, deinen Lohn bekommst oder einen Kaffee trinkst etc. Das wollen wir mit den Leuten zusammen erarbeiten. Es geht nicht darum, dass die Auslandsverschuldung irgendwo „da oben ist, wo sich die Wirtschaftswissenschaftler und Politiker damit beschäftigen, nein, sie betrifft uns tagtäglich, von morgens bis abends.

Wie reagieren die Leute hier auf den Positionswechsel der Mentalitäten? Genauso, wie ihr das Schuldnerdasein verinnerlicht habt, ist ja hier das Gläubigerdasein verinnerlicht …

Die Leute, die zu den Veranstaltungen kommen, haben schon auf eine gewisse Art und Weise diesen Positionswechsel verstanden. Bei meinen Präsentationen setzte ich eine Papierhand ein, und jeder der fünf Finger symbolisiert eine Schuld gegenüber dem Süden: die historischen, die finanziellen, die wirtschaftlichen, die ökologischen und die sozialen Schulden. Spätestens danach leuchtet es allen ein, dass es riesige Schulden gegenüber dem Süden gibt. Um in Argentinien unsere Diskussion weiter voran zu treiben, wollten wir ein zweites Arbeitsinstrument entwickeln, das die Ergebnisse aus unseren thematischen Versammlungen mit einbezieht. Diesmal sollte es keine Broschüre sein. Wir wollten etwas Interaktives, an dem die Leute sich selbst kreativ einbringen können. Inmitten dieser sehr stark intern geführten Diskussion erreichte uns die Einladung für ein Treffen der indigenen Nationen Amerikas in Bolivien. Wir fuhren hin und erzählten von unserer Kampagne. Dieses Treffen hat uns sehr motiviert. In diesem Moment bekamen wir die Einladung aus Deutschland. Das kam uns wirklich unglaublich vor – fast gleichzeitig aus so unterschiedlichen Ecken Einladungen zu bekommen! In unserer Gruppe haben wir viel darüber diskutiert, ob wir die Einladung aus Deutschland annehmen, die Frage, ob es übereinstimmende Einstellungen und Ziele gibt etc. 
Natürlich suchen wir den Dialog in alle Richtungen, die uns in einem gewissen Rahmen sinnvoll erscheinen, aber wir gehen nicht überall dahin, wo es gerade passt. In Bolivien wurde uns die Wichtigkeit und Schwierigkeit von einer echten – interkulturellen – Begegnung bewusst. Ich machte mich dann auf den Weg nach Deutschland mit unserem neuen Arbeitsinstrument, einem Werkzeugkasten. Er enthält Elemente von verschiedenen Mitgliedern der Kampagne, aber auch anderen Leuten, und jeder hat mir eine Geschichte zu seinem Element erzählt, damit ich sie hier weiter erzähle. So können wir vermitteln, was uns dort passiert, aber nicht mit Zahlen, sondern mit Geschichten aus dem Leben. In dem Werkzeugkasten sind z.B. die Papierhand aus Pappe, die ich auf meinen Vorträgen einsetzte, ein Stückchen Gips, ein Nest mit einem Ei, ein Frosch, ein Schnuller, ein Beutelchen mit Erde, ein Stück Stoff, gentechnisch manipuliertes Soja, Ringelblumensalbe, ein Schlüssel, ein Foto von Wandteppichen, die eine sich transformierende argentinische Nationalflagge zeigen, ein Kochrezept – alle Objekte erzählen eine Geschichte! 

Wie siehst du die Kampagne „Argentiniens Schulden müssen weg!“ von attac und Erlassjahr? Was hat dich auf deiner Rundreise am meisten beeindruckt?

Mich hat am meisten der Kontakt mit den Leuten interessiert. Viele Leute blieben lange und stellten viele Fragen. Und sie waren sehr besorgt und erschrocken. Diese Angst vor der Zukunft erschien mir sehr stark. Das hat natürlich etwas Lähmendes und behindert Aktivitäten. Viele Fragen bezogen sich auf den Fall der Mittelklasse: „Wo befindet sie sich heute, wie konnte das passieren, wie kann ein Land wie Argentinien so tief fallen?“ All diese Fragen hinterließen eine Art Leere, bei einigen Veranstaltungen war auch eine Art Depression zu spüren. Die Leute interessierten sich aber auch sehr dafür, wie wir uns organisieren, wie wir eine horizontale Organisation auf nationaler Ebene hinbekommen. Dabei hatte ich den Eindruck, dass sie sich schlecht vorstellen können, wie man so handlungsfähig ist. Das ist auch eine Mentalitätsfrage – die Leute im Publikum haben sich gefragt, wie ich denn so ruhig sein kann, wenn das Problem doch so dringend gelöst werden muss! Aber ich verteidige meine Haltung, denn ich glaube, uns erwartet ein sehr langer Kampf. Erst im Zuge dessen werden die Grundlagen für etwas Anderes geschaffen. 
Außerdem habe ich ein starkes Schuldbewusstsein gespürt, z.B. bei Aussagen wie „die Gläubigerbanken sind auch aus Deutschland“ oder „wir haben einen Bundespräsidenten, der Chef vom IWF war“. Insgesamt ist es eine drückende Last für die Leute, diese geopolitische Rolle zu haben. Und das kann dazu führen, dass die Leute sich solidarisieren, helfen oder das Problem lösen wollen. Ich habe dann vorgeschlagen, dass jeder von uns seine eigenen Probleme betrachtet und Lösungen dafür sucht, aber dass wir nach Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten Ausschau halten sollten, um dann zu sehen, wie wir in diesen Punkten zusammen arbeiten können. Das Thema Auslandsverschuldung können wir z.B. auch zusammen angehen, damit nicht der Norden und der Süden jeweils auf seine Weise das Thema behandelt! Auf einigen Veranstaltungen haben wir darüber diskutiert, es gab z.B. die Meinung: Seid vorsichtig mit den Vorschlägen, die aus dem Norden kommen, sie können den Regierungen des Südens dienen, z.B. hilft der Vorschlag aus dieser Kampagne hier, die Schuldenreduzierung zu unterstützen, Kirchner, mit dessen Politik wir nicht einverstanden sind! 
Die Gruppen, die sich hier mit dem Thema beschäftigen, sollten also sehr genau diskutieren, welche Vorschläge sie machen. Als ich dies auf den Veranstaltungen zu bedenken gab, war es bei einigen wie ein Aha-Erlebnis: Na klar, wir könnten das Thema natürlich auch zusammen bearbeiten. Aber meist herrscht hier die Mentalität vor, dass man sich überlegt, was gemacht werden muss, wie das Problem gelöst werden kann, und macht dann Vorschläge. Zack zack. Und vor allem: Helft ihnen da unten! Ich habe dann gesagt, wir brauchen keine Hilfe, wirtschaftliche z.B., wir brauchen kein Kapital aus dem Ausland, nein, wir brauchen eine Zusammenarbeit. Vor der Reise hatte ich mich gefragt, ob die Leute hier eine Gläubiger-Mentalität haben. Die habe ich aber nicht angetroffen, vielmehr gibt es hier eine Helfer-Mentalität. Das ist natürlich ein Hindernis, weil es keine Gleichberechtigung gibt.

Wie wirkt vor diesem Hintergrund der Versuch auf dich, mit der Kampagne hier Einfluss auf die Entscheidungsträger auszuüben?

Dieser Teil interessiert uns als Kampagne nicht, wir wollen keinen Druck auf die Regierungsmitglieder ausüben. Wir als Kampagne sind auch nicht für einen Teilerlass der Schulden, denn das hinterlässt den Regierenden hier das Gefühl, eine gute Tat begangen zu haben, und führt schließlich dazu, den perversen Mechanismus der Auslandsschulden zu verschleiern. Wir sagen: Keine Schulden, nein zu diesem System! Weder Gläubiger noch Schuldner, andererseits würden wir für das System arbeiten, damit sie uns weiter ausbeuten können. Diese Erlasse ermöglichen es letztlich, dass die Schulden fort bestehen. Und das wäre interessant hier zu diskutieren, denn im Süden ist es sehr einfach, diesen Gedanken zu haben, während die Gruppen im Norden immer noch Diskussionsbedarf darüber haben. 

Hier gibt es unterschiedliche Positionen, Gruppen, die für die totale Streichung der Schulden sind und andere, die lediglich für einen Teilerlass eintreten, außerdem die Diskussion darüber, wie ein Erlass praktisch durchzuführen wäre. Wie seht ihr die Diskussion über die sog. illegitimen Schulden, die von der Militärregierung aufgenommen worden waren?

Es ist gut, dass sich Leute an dieser Front einsetzen, aber für unsere Gruppe ist dies kein Thema. Wir haben uns dafür entschieden, auf einer anderen Ebene zu arbeiten, wollen eine Basisgruppe bleiben. Natürlich arbeiten wir mit Leuten wie Mario Cafiero zusammen, wenn er uns z.B. Infos über den doppelzüngigen Diskurs Kirchners weiterleitet, der kürzlich einen Erlass von 75 Prozent versprochen hat, aber gleichzeitig verschweigt, dass die Zinsen seit der Zahlungseinstellung mit eingerechnet werden und somit den Erlass erheblich verringern und eine Art Prämie für die Gläubiger hinzukommt, die sich am Wirtschaftswachstum Argentiniens orientiert, also ca. fünf Prozent. Diese geheim gehaltenen Infos bringen wir dann natürlich unter die Leute.

Du hattest während deiner Rundreise die Möglichkeit, die Aktionen gegen Hartz IV kennen zu lernen – was ist dein Eindruck? Siehst du Parallelen?

Ich war in Berlin, Saarbrücken und Wiesbaden auf Demos, wo ich kurze Redebeiträge gehalten habe. Die Parallelen sehe ich in der Anwendung des gleichen neoliberalen Systems. Ich habe davon erzählt, wie ein Staat abgebaut und sich die Wirtschaft eines Landes angeeignet wurde, wie das Land verarmte und wie die EinwohnerInnen begonnen haben sich zu organisieren – also ein kompletter Prozess. Jetzt konzentriert sich der Kapitalismus auf die Lohnabhängigen des Nordens. Natürlich ist mir auch die Enttäuschung und der Frust über die nachlassende Mobilisierungskraft aufgefallen. Aber in Saarbrücken passierte mir etwas sehr Interessantes: Ein Mann kam nach der Demo zu mir und sagte: „Vorher war mir gar nicht klar, wie eure Situation mit unserer zusammenhängt. Ich wollte eigentlich nicht zu deiner Veranstaltung kommen, denn was soll ich mir Sorgen um Argentinien machen, wenn wir gerade selber so viele Probleme haben. Aber jetzt sehe ich, dass das miteinander zu tun hat. Jetzt komme ich zu deiner Veranstaltung!“