Wir sind eine Alternative zur Großindustrie

Wie ist die Kooperative Nueva Vida entstanden?

Wir gründeten die Kooperative, weil wir Arbeitsplätze brauchten. 1998 fegte der Hurrikan Mitch über Zentralamerika hinweg. Wir lebten damals am Ufer des Managua-Sees und verloren aufgrund des Wirbelsturms unsere Häuser und unseren ganzen Besitz. Die Kooperative wurde von Frauen aus einer Gemeinde gegründet, die die Regierung auf einem neuen Gebiet, 20 Minuten Fahrtzeit westlich von Managua, angesiedelt hatte. Diese neue Gemeinde wurde Nueva Vida genannt, von daher auch der Name der Kooperative. Wir lebten zwei, drei Jahre lang in Plastikzelten, denn es gab in dem Gebiet noch gar keine Wohnungen. 
Bei der Errichtung der neuen Siedlung waren sehr viele internationale NRO beteiligt, die auch für die Gesundheitsversorgung aufkamen oder zum Beispiel eine Kantine für die Kinder betrieben. Unter diesen NRO war auch eine aus den USA, die ein langfristiges alternatives Projekt aufbauen wollte, das uns nachhaltige Arbeitsmöglichkeiten verschaffen könnte. Wir trafen uns mit der NRO und hörten uns begeistert den Plan an. Doch es hieß auch gleich, es gebe kein Geld und auch noch keine konkrete Idee, aber sie würden uns darin unterstützen, das Projekt bekannt zu machen und Geld aufzutreiben. Zunächst machten wir eine Fortbildung – die meisten von uns waren nur sehr kurz zur Schule gegangen –, in der uns verschiedene Unternehmenskonzepte vorgestellt wurden. So entschieden wir uns für die Form der Kooperative und für die Maquilaindustrie, denn eine der NRO-Frauen aus Michigan hatte uns von ihrem Geschäft erzählt, in dem sie ökologische Produkte verkaufte. Und sie versprach uns, unsere Produkte abzunehmen, wenn wir ökologisch produzieren würden. 
Wir machten der NRO auch klar, dass wir zwar im Maquilasektor tätig werden, doch dass wir die Dinge anders als normalerweise angehen wollten. Einige von uns Frauen hatten schon in Maquiladoras gearbeitet und schlechte Erfahrungen gemacht: lange Arbeitszeiten, rüde Behandlung, schlechte Löhne. Deshalb wollten wir von Anfang an alles anders machen. Bei unseren Fortbildungen hatte uns auch ein Herr den Fairen Handel vorgestellt und uns erklärt, wie er innerhalb der globalisierten Welt funktioniere. Er wies uns darauf hin, dass wir mit unserem Vorhaben wohl dort am besten aufgehoben sein würden, denn von nicaraguanischer Seite aus würde es wohl für Produktl keine Abnehmer geben, die arbeitsrechtliche und ökologische Standards bei der Produktion erfüllen würden. Er werde aber versuchen uns zu helfen. Es war eine große Herausforderung. 
Wir arbeiteten drei Jahre lang unentgeltlich, schließlich wollten wir ein Unternehmen gründen. Und wenn du dafür kein Kapital hast, dann musst du halt das Kapital investieren, über das du verfügst, nämlich deine Arbeitskraft. Das Geld von außen, das wir als Unterstützung erhielten, war auch nur sehr wenig; wir kauften damit Materialien und bauten unser Gebäude. Wir fingen Anfang 1999 damit an und brauchten dafür fast drei Jahre; währenddessen verließen uns die meisten der Frauen, die zunächst noch mit dabei gewesen waren. In der Zeit haben wir viel gelernt, denn am Anfang wusste keine von uns, wie man zum Beispiel ein Haus baut. Wir teilten die Arbeit in zwei Schichten auf. Wenn wir nicht auf der Baustelle waren, verkauften wir Essen auf der Straße, um wenigstens das Essensgeld für die Familie zu erwirtschaften. So konnten wir überleben, die Kooperative aufbauen und ans Laufen bringen. Unser erster Auftrag kam dann von jener Frau aus der US-amerikanischen NRO: 300 Hemden. Mit der Zeit haben wir dazugelernt und die Qualität der Kleidungsstücke stetig verbessert. Zurzeit arbeiten wir mit Fairtraide-Zertifikat; die ebenfalls zertifizierte hundertprozentige Biobaumwolle importieren wir aus Peru. 
Am Anfang haben wir als herkömmliche Kooperative gearbeitet, aber es war im Hinblick auf den Export der Produkte oder den Import ganz schön schwierig. Es gab sehr viel Bürokratie bei den Importen. So ist es schon mal vorgekommen, dass die Stoffe vier bis sechs Wochen lang vom Zoll festgehalten wurden. Das hat natürlich Probleme mit den Kunden gegeben. So haben wir im Rahmen eines Projektes der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) die Umwandlung in eine Freie Produktionszone (zona franca) in Angriff genommen. Dafür haben wir von der BID 10 000 Dollar erhalten, die wir an die Nationale Kommission für Freie Produktionszonen gezahlt haben, damit wir unter diesem Freihandelsregime produzieren können. 
Dem Gesetz nach können wir jetzt zehn Jahre lang entsprechend dieser Regelung produzieren sowie ohne Probleme oder Verzögerungen importieren und exportieren. Von der US-amerikanischen NRO hatten wir ja auch Geld für den Bau des Gebäudes, einige Maschinen und andere Ausgaben bekommen, insgesamt 80 000 Dollar, die wir nach und nach zurückzahlen. Mittlerweile haben wir fast 60 Prozent zurückgezahlt. Das hängt natürlich auch von der Auftragslage ab. Das ist eine weitere große Herausforderung für uns: Wir brauchen mehr Abnehmer. Von den Kapazitäten her könnten wir 1000 T-Shirts täglich produzieren. Zur Zeit produzieren wir entsprechend der Aufträge. Aber auch wenn wir keine Aufträge haben, müssen wir im Unternehmen sein, sonst schließen sie uns den Laden. Zurzeit verkaufen wir zwischen 36 000 und 40 000 Kleidungsstücke jährlich. Damit können wir die Kooperative aufrecht erhalten. 36 Personen beziehen ein festes Gehalt, unabhängig davon, ob es gerade Arbeit und Aufträge gibt oder nicht. 

Was für Kleidung macht ihr?

Vor allem T-Shirts in unterschiedlichen Schnitten, Größen und Farben für Frauen, Männer und Kinder, Babykleidung, z.B. Bodys, sowie Schlafanzüge. Wir haben auch einige Designs selber entwickelt, teilweise in Zusammenarbeit mit Designstudenten. Letztes Jahr hatten wir ein Projekt, das von der dänischen Botschaft finanziert wurde. So konnten wir zehn verschiedene Designs entwickeln. Und wenn der Kunde eigene Designs und Schnitte hat, setzen wir sie für ihn um. Wir bieten auch Schnitt und Anfertigung an. Wir haben einen Kunden in Kanada, der uns Stoffe, Schnittmuster und Zubehör schickt, wir schneiden, nähen und schicken alles fertig wieder zurück.

Welches sind eure wichtigsten Abnehmer?

Zündstoff aus Deutschland ist einer unserer größten und wichtigsten Kunden, die meisten unserer T-Shirts gehen zurzeit nach Deutschland. Außerdem vergeben noch Universitäten und Kirchengemeinden in den USA Aufträge an uns.

Geht eure gesamte Produktion in den Export oder werden auch einige Kleidungsstücke in Nicaragua selbst verkauft?

Wir dürfen einen bestimmten Prozentsatz auch auf den lokalen Märkten verkaufen, doch bisher haben wir noch keinen Laden für den Verkauf. Wir verkaufen die Kleidung an uns selbst und unsere Familien oder auch an einige nicaraguanische NRO, die unser Projekt kennen. Doch auch der interne Verkauf verläuft nach den Regeln der Freien Produktionszone, das heißt unter der Aufsicht der Zollbehörde: Unsere lokalen Kunden müssen also als Importeure registriert sein und Importsteuern zahlen, es sei denn, sie sind von dieser Steuer befreit. Und wir „exportieren“ unsere Kleidung und müssen einen dementsprechenden bürokratischen Vorgang unternehmen, auch wenn letztlich alles im Land selbst über die Bühne läuft. 

Welche Rolle spielt der Textilsektor in Nicaragua?

Ich habe den Eindruck, dass der Sektor in letzter Zeit noch gewachsen ist. Ich selbst lebe zum Beispiel in der Gemeinde von Ciudad Sandino und allein dort sind in den letzten Jahren zwei neue Freie Produktionszonen entstanden. In jeder zona franca arbeiten zwischen 3000 und 5000 Personen. Der Sektor ist also wichtig, da es hier Arbeitsplätze gibt, selbst wenn die Bedingungen sehr schlecht sind – die Zeiten, die Zielvorgaben etc. Die Regierung hat zumindest den Mindestlohn ein wenig angehoben, was in den letzten 15 bis 20 Jahren in diesem Bereich nicht passiert war. Die Arbeitszeiten werden jedoch nicht kontrolliert, auch wenn vom Gesetz mehr als 48 Stunden wöchentlich verboten sind, und fast alle Unternehmen lassen die ArbeiterInnen das Doppelte arbeiten. 
Die Überstunden werden zwar bezahlt, aber die ArbeiterInnen sind dazu verpflichtet, diese Überstunden zu machen. Außerdem werden sie ziemlich schlecht behandelt, das ist bei unserer Kooperative anders. Hinzu kommt, dass wir andere Produktionskapazitäten haben. Mit unseren Maschinen können wir 1000 T-Shirts täglich herstellen, in den konventionellen Maquiladoras hingegen 3500. Das bedeutet auch eine größere Ausbeutung des menschlichen Körpers. In diesen großen Fabriken wird gemäß der Kapazität der Maschine gearbeitet. Das ist bei uns anders. Wenn wir Überstunden machen müssen, versammeln wir uns erst und entscheiden gemeinsam darüber. Wir arbeiten montags bis freitags von sieben Uhr morgens bis halb sechs nachmittags, insgesamt 45 Stunden wöchentlich, samstags und sonntags haben wir frei. Samstags belegen wir Weiterbildungskurse. Einige machen ihren Schulabschluss, andere haben sich an der Universität eingeschrieben. Unser Lohn liegt etwa 30 bis 40 Prozent über dem Mindestlohn, der gerade bei ca. 210 Dollar im Monat liegt. 

Sind alle ArbeiterInnen eurer Kooperative auch TeilhaberInnen?

Nein, von den 36 ArbeiterInnen sind zehn auch TeilhaberInnen. Alle, die wollen, können jedoch auch zu TeilhaberInnen werden. Zurzeit sind wir nicht so viele, denn die Zeiten sind schwierig. Aber alle ArbeiterInnen treffen sich einmal im Monat und alle dürfen mitentscheiden, Vorschläge einbringen und abstimmen. Die TeilhaberInnen tragen natürlich mehr Verantwortung. Wenn wir zum Beispiel in einem Monat nicht genügend Einnahmen hatten, haben die Gehälter der anderen 26 Vorrang. Die zehn TeilhaberInnen bekommen dann weniger, bis es wieder genügend Einnahmen gibt, schließlich sind wir zehn die ArbeitgeberInnen der anderen 26. Die wiederum sagen: Wenn die Zeiten besser sind, werden wir vielleicht auch TeilhaberInnen. Man braucht viel Mut und Bewusstsein, um bei einer solchen Gruppe mitzumachen. Wir waren ja am Anfang über 100 Frauen, die sich einen stabilen Arbeitsplatz erhofften, und nur zehn sind übriggeblieben! Die Mehrheit ist gegangen, weil es keine Löhne gab oder weil die Familie sie nicht unterstützt hat. 

Diese Gefahr der Selbstausbeutung besteht ja für die Kooperativen auf der ganzen Welt – habt ihr euch mit Kooperativen in anderen Ländern ausgetauscht?

Wir haben bisher lediglich Kontakt zu Kooperativen in Nicaragua und El Salvador gehabt. Ich liebe Nicaragua, es ist ein wunderschönes Land, doch die Wirtschaft liegt danieder und es gibt sehr viele Arbeitslose. Wenn ich diese Arbeit in der Kooperative nicht hätte, wäre alles viel schwieriger für mich. Ich könnte zum Beispiel auch nicht mehr in einer herkömmlichen Freien Produktionszone arbeiten – das habe ich einmal sechs Wochen lang gemacht, danach konnte ich nicht mehr. Dann würde ich lieber Brot von früh bis spät verkaufen, wie es meine Mutter getan hat. Doch die meisten Frauen, die durchschnittlich sechs Kinder haben und aufgrund des herrschenden Machismo im Land meist alleinerziehend sind, müssen gucken, wie sie ihren Kindern zu essen geben, und tun sich dann eine solche Arbeit an. Ich bin sehr stolz auf meine Arbeit, denn ich habe flexible Arbeitszeiten, ein Gehalt, das ein wenig über dem Mindestlohn liegt, auch wenn ich manchmal erst zwei Wochen später mein Geld bekomme und in der Zwischenzeit knappsen muss. So konnte ich mein Studium beenden und für meine Kinder sorgen.

Ich war sehr verwundert, als ich las, dass ihr als Kooperative in einer Freien Produktionszone arbeitet. Der Freihandel bedingt doch gerade die schlechten Arbeitsbedingungen, die niedrigen Preise und Löhne. Die transnationalen Unternehmen streichen die Gewinne ein, bezahlen aber keine Steuern im Land. Wie gehen Selbstverwaltung und Freihandel zusammen?

Wir arbeiten als Kooperative, alle bestimmen mit. Wir haben 10 000 Dollar gezahlt, um uns als Freie Produktionszone zu konstituieren, was uns gewisse Vorteile verschafft, da wir für den Export produzieren und unsere Stoffe importieren. Wir können nicht warten, bis unsere importierten Stoffe Wochen später vom Zoll freigegeben werden, denn unsere Abnehmer in den USA oder anderswo bestellen Bekleidung, die für bestimmte Jahreszeiten gedacht ist oder die der aktuellen Mode entspricht. Nur als Freie Produktionszone können wir diesen Anforderungen gerecht werden. 
Mittlerweile haben sich die Gesetze sehr verändert, die Bürokratie ist weniger geworden und Im- und Export gehen schneller über die Bühne. Aber nun gut, wir haben die 10 000 Dollar bezahlt, was ein Riesenbatzen Geld für uns war, und können dafür zehn Jahre lang als Freie Produktionszone arbeiten. Fünf Jahre sind nun um und wenn die zehn Jahre vorbei sind, können wir ja nochmal neu überlegen. In unserem Gründungsjahr als zona franca, im Jahr 2005, waren wir die erste selbstverwaltete Freie Produktionszone auf der ganzen Welt! 

Seit wann hat eure Kleidung ein Fairtrade-Zertifikat?

Wir haben dieses Jahr das WFTO-Zertifikat[fn]World Fair Trade Organization  T-Shirts u.a. von Nueva Vida sind in Deutschland über den fairen Kleiderversand Zündstoff zu beziehen.[/fn] erhalten, was insofern sehr wichtig ist, als so ein Siegel für die Kunden, die uns nicht kennen, ein sicherer Anhaltspunkt ist. Gleichzeitig ist es für die kleinen Kooperativen wie uns sehr schwierig, ein solches Siegel zu bekommen: Man muss sehr viel dafür bezahlen. Dank eines Projekts der dänischen Botschaft konnten wir schließlich das Geld für das Zertifikat auftreiben und den Besuch des Inspektors bezahlen. Ohne Unterstützung von außen hätten wir das nicht geschafft. 

Glaubst du, dass ein bewusster Konsum die Welt verändern kann?

Natürlich! Genau dafür kämpfen wir ja, genau dafür stehen wir ja! Wir sind eine Alternative zur Großindustrie. Wir arbeiten mit Respekt und Würde. Wenn sich alle KonsumentInnen etwas mehr Gedanken über ihren Konsum machen würden, würde das bestimmt bei uns Kleinproduzenten ankommen.