Die Gedanken schweifen zurück. Es muss im November 1986 gewesen sein, als ich Jon in San Salvador an der Jesuitenuniversität UCA kennen lernte. Wir unterhielten uns über das Erdbeben, das Ende Oktober große Teile von San Salvador zerstört hatte, über dessen einzig positive Folge, einen Aufschwung an sozialer Organisation mitten im Krieg, über gemeinsame Bekannte in der Basisgemeinde de Kaffee-Städtchens Jayaque, über die Repression gegen die Landwirtschaftskooperativen im Westen des Landes, der überwiegend von der Regierungsarmee kontrolliert wurde. Wir wussten beide, was „überwiegend“ bedeutete: Im Norden der Westprovinz Santa Ana sickerte die FMLN-Guerilla aus dem benachbarten Chalatenango ein. Als Jon in diesem Zusammenhang von den Vorzügen von Pferden und Maultieren für die ländliche Kommunikation sprach, war klar, worauf er sich bezog. Es war klar, auf wessen Seite er stand in diesem Krieg, und er trug seine entsprechenden Überzeugungen nie mit dem missionarischen Eifer vor, der manchen Priestern in solchen Situationen eignet.
Später traf ich Jon eher in der von aus Honduras zurückgekehrten Flüchtlingen in Chalatenango gegründeten Gemeinde Guarjila, wo er in den letzten Jahren seines Lebens die eine Hälfte der Woche lebte, während er in der anderen seiner Lehrtätigkeit an der Ingenieursfakultät der UCA und als Direktor von Pro Búsqueda nachging. Die letzten beiden Male, die wir uns sahen, waren eher traurige Anlässe. Im August 2005 hielt Jon an der UCA die Trauermesse für Maggie Popkin, eine US-amerikanische Rechtsanwältin, die von 1985 bis 1992 Vizedirektorin von IDHUCA, des Menschenrechtsinstituts der UCA, war und über den salvadorianischen Friedensprozess das kenntnisreiche Buch „Peace without Justice“ (The Pensylvania State University Press, 2000) geschrieben hat.
An Allerseelen dann beim Denkmal für die Opfer des Krieges im Parque Cuscatlán im Herzen San Salvadors. Obwohl eine solche Gedenkstätte eine Empfehlung der Wahrheitskommission, ihrerseits ein Bestandteil der Friedensverträge von 1992, war, konnte das Monument erst im Dezember 2004 eingeweiht werden als Ergebnis der Anstrengung von Menschenrechtsorganisationen und des Umstandes, dass seit 1997 die FMLN San Salvador regiert. Jetzt, zu Allerseelen 2005, wurden wie auf allen Friedhöfen El Salvadors die Gräber mit frischen und neuen Papier- und Plastikblumen geschmückt. Das Denkmal im Parque Cuscatlán ist kein Massengrab und auch keine Ansammlung von Gräbern, sondern eine ziemlich lange Mauer aus dunklem Granit mit den Namen von Tausenden von Opfern des Krieges, darunter jenem unseres Freundes und Genossen Jürg Weiß. Auf dem letzten Viertel der Mauer stehen keine Namen mehr – nicht, weil hier Platz reserviert würde für zukünftige Opfer, sondern weil auch 13 Jahre nach Unterzeichnung der Friedensverträge noch nicht alle Ermordeten und „Verschwundenen“ bekannt sind. Vor dieser Mauer stand Jon am 2. November 2005 und sprach mit einer Frau aus Chalatenango – vermutlich über ein während des Krieges verschwundenes Kind.
Die Vorgeschichte ist lang. „Wenn mir ein persönliches Wort erlaubt ist: Wir gingen auf dasselbe Gymnasium, machten das Noviziat zusammen in Orduña und Santa Tecla (El Salvador, das war 1955 und Jon Cortina war 21 Jahre alt) und studierten zusammen Philosophie und Ingenieurwesen in St.Louis (USA) und Theologie in Frankfurt a.M. 1974 kehrten wir beide nach El Salvador zurück, an die UCA“, schreibt Padre Jon Sobrino in einem Nachruf. Und an anderer Stelle: „In den Todesanzeigen heißt es, Jon Cortina sei ein Verteidiger der Menschenrechte gewesen. Aber er war viel mehr. Nicht als Beruf, sondern aus Berufung, nicht aus reiner Ethik, sondern aus Liebe verteidigte er das Volk, die Leute. Das ist der salvadorianische Jon Cortina. Bei einem Treffen von uns Jesuiten in Mittelamerika vor ungefähr zwanzig Jahren wurde Padre Ellacuría ausgewählt, um über El Salvador zu sprechen. Und er begann mit diesen Worten: ,Um über das salvadorianische Volk zu reden, sollte nicht ich hier stehen, sondern Jon Cortina.’“
Damals hatte Jon bereits im Konfliktgebiet um die Stadt Aguilares gearbeitet, wo 1977 der Jesuitenpriester Rutilio Grande ermordet wurde, dessen Nachfolge er übernahm, und in der etwas ruhigeren Gegend von Jayaque. Um diese Zeit war er bereits nach Chalatenango gegangen, wo Guarjila 1987 eine der ersten Rücksiedlungen von ehemaligen Flüchtlingen wurde. Es wurde sein Heimatdorf.
1989 kam die Novemberoffensive der FMLN, in deren erster Woche Regierungstruppen an der UCA sechs Priester, darunter den Rektor Ignacio Ellacuría, und ihre beiden Hausangestellten ermordeten. Dann die Friedensverhandlungen und die Zuarbeit für die Wahrheitskommission, die ab 1992 ein Jahr lang die Menschenrechtsverletzungen während der Kriegsjahre untersuchte, deren Verantwortliche soweit wie möglich benannte und unter dem Titel „Vom Irrsinn zur Hoffnung“ einen umfangreichen Bericht vorlegte.
Bei seiner Arbeit und seinem Leben in Chalatenango konnte es nicht ausbleiben, dass Jon mit dem Problem der während des Krieges von Soldaten verschleppten Kinder, die seither verschwunden waren, konfrontiert wurde. Der Bericht der Wahrheitskommission und andere UN-Dokumente registrierten zwar Tausende von Verschwundenen, schenkten den verschwundenen Kindern aber keine spezielle Beachtung. Deshalb und weil ähnlich wie in Argentinien begründete Hoffungen bestanden, dass viele dieser Kinder, inzwischen Jugendliche und Erwachsene, noch lebten, gründeten Jon und andere den Verein Pro Búsqueda. Seither hat der Verein 754 Fälle dokumentiert, 300 Verschwundene ausfindig gemacht, und in 174 Fällen bei der Wiedervereinigung der Familien geholfen. 2005 verurteilte der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof in einem der noch nicht aufgeklärten Fälle, nämlich der Verschleppung von Ernestina und Erlinda Serrano Cruz am 2. Juni 1982, den salvadorianischen Staat. Dass die Regierung, die seit 17 Jahren ziemlich fest in Händen der rechtsextremen ARENA-Partei ist, dieses Urteil nur widerwillig und schleppend umsetzt, war ebenso zu befürchten wie durchschaubar war, dass sie eine nationale Kommission für die verschwundenen Kinder, von der Pro Búsqueda bis heute ausgeschlossen ist, einsetzte, um KritikerInnen zu besänftigen, ohne wirklich etwas zu tun.
Der salvadorianische Jon war mehr als ein Menschenrechtsaktivist. Ein Priester, dem die Leute zuhörten, ein Ingenieur, der mitten im Krieg beim Bau einer Brücke über den Sumpul im Norden von Chalatenango half, ein Organisator. Als die MitarbeiterInnen der Wahrheitskommission 1992 nach Chalatenango kamen, waren die Leute in den Dörfern vorbereitet, meldeten sich jene zu Wort, die so bald nach dem Ende der Kampfhandlungen den Mut hatten, auszusagen über die Verbrechen der Regierungsstreitkräfte in ihrer Zone – Jon und eine Gruppe von HelferInnen hatten Vorarbeit geleistet. Als das Landüberschreibungsprogramm, ebenfalls Bestandteil der Friedensverträge, von den Alteigentümern und der Regierung blockiert wurde, organisierten die Leute von Chalatenango Pilgermärsche, Demos für Land und Frieden – Jon war an dieser Initiative maßgeblich beteiligt. In den Monaten vor seinem Tod wies er immer wieder besorgt darauf hin, dass sich in Chalatenango Protest und Unruhen zusammenbrauten, weil hier ein neues Wasserkraftwerk und eine Schnellstraße entlang der Nordgrenze mit Honduras gebaut werden sollen und Bergbaukonzessionen vergeben worden sind, mit denen ein kanadischer Konzern im Tagebau das letzte Gold aus der Erde El Salvadors kratzen will.
Deshalb riefen die Leute aus Guarjila und vielen anderen Orten während der Totenwache für den Padre Jon an der UCA immer wieder. „Woher kommt Jon Cortina? Aus Guarjila. Wo wollen wir ihn haben? In der Gemeinde ‚Jon Cortina.’“ Und Santos Rivera, eine Bäuerin des Ortes, sagte: „Das Beispiel, das er uns gab, ist dafür da, dass er weiter unter uns lebt und nicht stirbt. Der Padre Jon hat ein menschliches Herz, einen Geist voller Glauben und, was das Wichtigste ist, er verstand es zuzuhören.“ Und Suyapa, die Schwester von Ernestina und Erlinda Serrano Cruz, fügte hinzu: „Der Padre Jon hat uns gelehrt, die Wahrheit zu suchen, solidarisch zu sein und für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Er war in den schwersten Augenblicken mit uns und hat uns immer Mut gemacht.“
Ungefähr einen Monat nach Jons Tod, am 14. Januar, demonstrierten mehr als 5000 Menschen in Chalatenango gegen das geplante Wasserkraftwerk, die Schnellstraße und das Bergbauprojekt. Eben: Wir singen für dich, weil du lebst, und nicht, weil du gestorben bist.