Wie würden Sie das Szenario beschreiben, in dem Sie am ersten März als Vizeminister Mitglied der neuen Regierungsmannschaft werden?
Wir stehen in Uruguay vor einem umfassenden Politikwechsel. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit des Landes 1830 werden wir eine fortschrittliche Regierung haben. Seit der Gründung Uruguays wurde das Land von den Colorados, einer traditionellen Partei, geführt, die im Interesse der Oligarchie handelte, einige wenige Male unterbrochen von den Blancos, deren Politik kaum anders war. Die Linke als gemeinsame politische Formation ist 33 Jahre alt. Sie ist wohl in gewisser Weise vergleichbar mit Volksfronten in Europa in den Zeiten des Nationalsozialismus, allerdings entstand sie hier erst ab den siebziger Jahren vor dem Hintergrund der Herausbildung eines Kapitalismus, der die Wirtschaft transnationalisierte.
Das schuf die Grundlage für eine progressive politische Allianz verschiedener Sektoren, die sich einig waren, dass es in dieser Phase das vorrangige Ziel einer Regierung sein müsse, ein nationales Projekt zu verteidigen. Eine Regierung also, die sich der kapitalistischen, neoliberalen Globalisierung verweigert, die sich zunehmend der abhängigen Länder bemächtigt und sich ihre Rohstoffe aneignet und unsere Ökonomien so organisiert, dass wir nur mehr konsumieren, was die großen Unternehmen produzieren und verkaufen. Damit entstanden in den siebziger und achtziger Jahren neue Rahmenbedingungen für die internationalen Beziehungen. In dieser Zeit wurden alle unsere Länder mit Diktaturen überzogen – Chile, Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay – die den Neoliberalismus hier installierten. Nach deren Ablösung durch demokratische Regierungen wurde das gleiche Projekt fortgeführt, das die Militärs mit Unterstützung durch die USA organisiert hatten.
Kurz gesagt wurden in Lateinamerika in den siebziger und achtziger Jahren ökonomische und soziale Konflikte durch Militärdiktaturen „gelöst“, deren Angehörige in den USA ausgebildet worden waren, mit US-Botschaften, die damals sehr mächtig waren, und mit all den bekannten Aspekten wie Folter, Verbot politischer Parteien, Suspendierung von Gewerkschaften und geknechteten Gesellschaften. Die darauf folgenden zivilen Regierungen haben sehr wenig geändert, außer dass die Politiker nun gewählt wurden.
Eine substantielle Änderung wird es hier erst mit der Regierung geben, die am 1. März antritt. Ich meine damit sehr wichtige, grundsätzliche Änderungen, hin zu einer Gesellschaft, die auf anderen Grundpfeilern aufgebaut ist. Es geht darum, nicht weiter dafür zu sorgen, dass wir zu KonsumentInnen von Produkten und Dienstleistungen aus der reichen Welt werden, sondern dass wir einen nationalen Entwicklungsweg beschreiten. Das hat zu tun mit Industrie, mit Erziehung und Ausbildung, mit Rohstoffen, mit der Landwirtschaft. Das heißt, wir haben in allen Ministerien eine sehr große Verantwortung, die man je nach Ressort landesspezifisch ausbuchstabieren muss.
Welche Themen werden in Ihren Aufgabenbereich gehören?
Das Ministerium ist zuständig für Viehwirtschaft, Ackerbau, Forstwirtschaft und Fischerei. Und allgemein für den Boden. Die landwirtschaftliche Kolonisierung hat hier erst vor zweihundert Jahren begonnen. Wir sind insofern erst Neulinge auf der Welt, etwa so wie Neuseeland und Australien, in gewisser Weise auch die USA. Wir können nicht auf zehn oder fünfzehn Jahrhunderte Ackerbau zurückblicken. Unser „strategischer Rohstoff“ ist das Weideland. Das mag euch in Europa vielleicht komisch erscheinen, aber für uns sind die Exporte von Fleisch, Milchprodukten und Wolle nichts anderes als durch eine biologische Maschine transformiertes Gras. Die Wiederkäuer, also Kühe und Schafe, sind unser Spezifikum, die natürliches Gras in wirtschaftliche Güter verwandeln. Unsere Landwirtschaft hat keinen hohen Entwicklungsstand und wir haben eine geringe Bevölkerungsdichte.
Das heißt, wir müssen den Boden erhalten, einen effizienten und klugen Wasserverbrauch organisieren, damit wir in Zukunft noch welches haben und die Vegetation schützen. Zu letzterem, äußerst wichtigen Kapitel wissen wir noch viel zu wenig. Es ist für uns zentral, hier das Gleichgewicht nicht zu stören. Denn Fleisch von Kühen, die frei auf der Weide laufen, ist auf der ganzen Welt gefragt (weil es einfach viel besser schmeckt – d. Säz). Die Industrialisierung im 20. Jahrhundert hat vor allem in den dichtbevölkerten Ländern im Norden zu einer hohen Künstlichkeit in der Fleischproduktion geführt, mit künstlicher Nahrungszufuhr und Stallhaltung. Wir hier dagegen haben weder Schnee noch Eis noch Rinderwahnsinn noch Legebatterien, in denen die Hühner keine Federn mehr haben. Die Qualität, die wir produzieren, ist unsere Trumpfkarte.
Sie haben die Landverteilung dabei unerwähnt gelassen. Wie sieht es mit der Landreform aus? In Brasilien gibt es einen linken Agrarreformminister, der guten Willens ist, aber kein Geld hat, und einen rechten Agrarminister, der über ein hübsches Budget verfügt und de facto die Politik macht. Wie wird dies in Uruguay aussehen?
Was das Thema Reform der Agrarstrukturen angeht, gab es in den sechziger Jahren die Ansicht, man müsse das Land aufteilen und dann unter den Leuten verteilen. Im Laufe der Zeit haben wir begriffen, dass Agrarreform viel weiter gehen muss. Die Landverteilung ist dabei nicht das Einzige und nicht einmal das Vorrangige. Für uns bedeutet Landreform Veränderungen im Zugang zu den Märkten, zu definieren, welche Art von Landwirtschaft wir betreiben wollen und dafür die angemessene Technologie zu suchen, festzulegen, wie die Bevölkerung sich daran beteiligt, ob man sich für Großbetriebe oder kleinere landwirtschaftliche Betriebe entscheidet, und schließlich darüber zu befinden, in welcher Form sich der Staat daran beteiligt. Das alles gehört zu einer Agrarreform in unserem Sinne.
Dazu muss man wissen, dass es in Uruguay seit 1948 eine Agrarreform gibt. Sie untersteht dem so genannten Institut für Kolonisierungsangelegenheiten – das Wort Agrarreform kam nicht vor, es hieß stattdessen Kolonisierung. Laut einem Gesetz von 1948 sollten Kolonien von kleinen Landwirten und damit Arbeitsplätze geschaffen werden. Aber in den 50 Jahren seines Bestehens hat dieses Institut nur sehr wenig geleistet, denn die Regierungen standen stets rechts.
Es gibt viele Kolonien von europäischen EmigrantInnen – Schweizer, Badener, Deutsche, ebenso Kinder von Nazisoldaten, denen die Regierungen gleichfalls ein Stück Land gegeben haben. Wir haben vor, dieses Institut aufzuwerten, damit es sich tatsächlich damit befasst, LandarbeiterInnen und sehr kleinen ProduzentInnen Zugang zu Grund und Boden zu verschaffen, Leuten also, die heutzutage nicht in der Lage sind, mit dem, was sie haben, rentabel zu arbeiten und davon zu leben. Die Politik unserer progressiven Regierung wird sein, Zugang zu Land innerhalb eines Gesamtkonzeptes, eines landwirtschaftlichen Programms zu ermöglichen.
Sind damit nicht Auseinandersetzungen im eigenen Haus vorprogrammiert, weil eine solche Politik den Großgrundbesitzern nicht gefallen wird?
Wir haben nicht vor, einen offenen Konfrontationskurs zu fahren. Vor allem deswegen, weil es sehr viel Land gibt. Es gibt zwar kein besitzerloses Land, aber ein großer Teil des Landes gehört dem Staat. Dieses Land wird als erstes einmal an KleinproduzentInnen gegeben, während sich der politische Prozess im Land selbst entfaltet. Ich hätte vielleicht eingangs sagen sollen, dass die Frente Amplio die Wahlen mit 50,4 Prozent gewonnen hat. Das muss die Regierung stets vor Augen haben. Ganz anders wäre es, wenn wir mit 80 Prozent gewonnen hätten. So werden wir versuchen, einen politischen Prozess in Gang zu setzen, der auf eine weitestgehende Beteiligung der Bevölkerung und damit Zustimmung abzielt.
Die Bevölkerung Uruguays hat nicht eine radikale Änderung des Modells gewählt, sondern erst einmal nur eine andere Regierung, mit einem minimalen Vorsprung, weil sie die Krise und die Arbeitslosigkeit leid war. Es gab hier keine gesellschaftliche Revolution, sondern einen Regierungswechsel. Die großen Veränderungen sind nicht da, wir müssen sie jetzt erst einmal einleiten. Die einzige Erfahrung, die wir dazu haben, ist die Stadtregierung von Montevideo. Da haben wir mit 30 Prozent angefangen und liegen nach drei Wahlperioden bei über 62 Prozent. Unsere politische Regierungsarbeit muss auch eine solche Entwicklung nehmen, sonst sind keine grundlegenden politischen Veränderungen möglich.
Ihr Ministerium hat im Wesentlichen vier Zuständigkeitsbereiche. Beginnen wir mit dem ersten: Viehwirtschaft. Sie sagten eben, für den Ausgang der Wahlen sei der Wunsch nach Arbeitsplätzen wesentlich gewesen. Aber eine extensive Rinderhaltung braucht sehr wenige Arbeitskräfte. Hat sie dann überhaupt für Ihre Zwecke einen Sinn?
Auch wenn Rinderhaltung wenig arbeitsintensiv ist, sind dennoch 100 000 UruguayerInnen in diesem Bereich beschäftigt, und zwar unter sehr schlechten Bedingungen. In Uruguay gibt es auch auf dem Land große Armut, die viel zu wenig zur Kenntnis genommen wird. Diese 100 000 Leute sind aber wichtig, es handelt sich um ein Drittel bis die Hälfte aller LandarbeiterInnen Uruguays. Deren Lage werden wir verbessern. Die Produktion kann verbessert werden und die Arbeitsbedingungen, und es können mehr Leute Arbeit finden, allerdings nicht sehr viele. Was allerdings viele Arbeitsplätze schaffen kann, ist eine Veränderung weg von der Fleischproduktion hin zur Milchwirtschaft. Die Haltungsbedingungen sind sehr ähnlich, aber auf jeden Arbeitsplatz auf dem Hof kommen bei der Milchviehhaltung vier in der Milch- und Käseproduktion und zugehörigen Dienstleistungen. Diese Mehrwertschaffung ist eine unserer Zielsetzungen.
Ein weiteres Problem in der Landwirtschaft ist die Verschuldung. Wie wollen Sie damit umgehen?
Die Verschuldung ist ein Problem in ganz Uruguay. Zunächst einmal die Auslandsverschuldung. Uruguay ist bei den internationalen Institutionen hoch verschuldet. Die Schulden an sich können wir selbstverständlich nicht bezahlen, heutzutage schaffen wir es kaum noch, auch nur die Zinsen zu bezahlen. Das Schlimmste dabei ist, dass wir wegen der Verschuldung an Auflagen gebunden sind. Die internationalen Organisationen sagen, gut, wenn Sie Schulden haben, können wir einspringen, aber Sie müssen im Gegenzug die öffentlichen Dienstleistungen privatisieren. Oder Sie müssen die Staatsausgaben zurückschrauben, das Ausgabendefizit verkleinern und diese oder jene Maßnahme treffen.
Die Verschuldung begann in den siebziger Jahren, stieg sehr stark mit den Regierungen an, die nicht vom Volk gewählt waren, und hält uns heute in der Zange. Diese Schulden sind illegitim, sie haben einen inakzeptablen Ursprung, aber wir sind nicht in der Lage, laut zu sagen, dass wir sie nicht bezahlen. Wir sagen heute, wir werden sie in dem Maße bezahlen, wie wir dazu in der Lage sind und dabei noch Programme zur sozialen Entwicklung bezahlen können.
Im Land selbst ist die Lage genauso. So wie der Staat Schulden bei den internationalen Finanzorganisationen hat, sind die AgrarproduzentInnen bei den Banken verschuldet. Diese Schulden sind genauso hoch wie die landwirtschaftliche Produktion. Es ist sehr schwierig, da eine Lösung zu finden. Die scheidende Regierung verhielt sich den Schuldnern gegenüber wie irgendein Geldgeber: Sie hatten zu bezahlen oder waren ihr Land und Hab und Gut los. Verträge sind einzuhalten. Wir haben dagegen immer gesagt, die Verträge wurden nicht eingehalten, weil das Wirtschaftsministerium eine Politik gemacht hat, die das unmöglich machte. Unser Ansatz dagegen wird sein, dass die ProduzentInnen in der Form zurückzahlen, wie sie das können. Zeitraum und Zinsen müssen in einem adäquaten Verhältnis zur Rentabilität des vermarkteten Produktes stehen. So haben es die Produzentenvereinigungen gefordert und so müssen wir politisch damit umgehen. Die Verschuldungsproblematik muss mit der Perspektive einer nationalen wirtschaftlichen Reaktivierung angegangen werden.
Thema Fischerei. Uruguay hat selbst keine Flotte, aber viel Küste und Meer, in dem sich andere tummeln. Was haben Sie auf diesem Gebiet vor?
Seit Jahren haben wir das Problem, dass spanische Fischereiunternehmen unter uruguayischer Flagge fahren und dabei richtiggehende Raubzüge unternehmen. Da gibt es bereits Gerichtsverfahren und Gefängnisstrafen. Die Tatsache, dass es keine uruguayischen Fischereiunternehmer gibt, ist aber nur ein Problem. Uruguay ist ein junges Land, das immer parasitäre wirtschaftliche Sektoren gehabt hat, die mit der politischen Macht verbandelt waren. Eine originär kapitalistische Entwicklung gab es nicht. Wirtschaftliche Sektoren waren oft deswegen erfolgreich, weil sie von Regierungsseite Vorteile erhielten, und nicht aufgrund ihrer Produktivität oder Effizienz. In den achtziger Jahren entwickelte sich hier die Fischerei, weil Unternehmer sich bei Banken Kredite verschafften und sie nicht zurückzahlten. Man kann also nicht ernsthaft von einem uruguayischen Fischereiunternehmertum sprechen. Historisch gesehen trat zunächst der Staat als Fischereiunternehmer auf, mit nationalen Fischereiinstituten. Aber das führte zu Bürokratie. Der Staat war unter den gegebenen Bedingungen kein guter Wirtschaftsakteur – wie das in Zukunft einmal sein wird, werden wir dann sehen. Es ist problematisch, wenn es in einem Staat politische Parteien gibt, die, um WählerInnen zu gewinnen und an die Macht zu kommen, Gefälligkeiten verteilen müssen. Effizienz bedeutet für sie (wieder-)gewählt zu werden, aber das ist keine ökonomische Effizienz, sondern Missbrauch öffentlicher Ressourcen. So etwas kennen wir zur Genüge.
Wir wissen bis heute nicht, wie ergiebig eigentlich unsere Fischgründe sind. Wir wissen erst seit 2003, wie viel Meer Uruguay nach internationalem Recht zusteht. Es handelt sich ungefähr um genauso viel Wassseroberfläche wie Land – 15 Millionen Hektar. Das wurde gerade erst ermittelt, weil die Vereinten Nationen eine Meldefrist festlegten, nach deren Ablauf keine Ansprüche mehr gestellt werden konnten.
Fischprotein ist ein wichtiger Beitrag zur Ernährung und Fischfang ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Deswegen werden wir versuchen, diesen Sektor auszubauen, aber auch besser die internationalen Piraten in uruguayischen Gewässern zu kontrollieren. Diese internationalen Piraten kommen mit Dollars und kaufen Politiker. Aber wir haben sehr überzeugte Compañeros, die sich nicht kaufen lassen werden. Mal sehen, was sich machen lässt.
Ihr viertes Zuständigkeitsgebiet betrifft Forstwirtschaft. In Uruguay gibt es Eukalyptuspflanzungen, die stark subventioniert werden. Eukalyptuspflanzungen sind problematisch. In wasserarmen Zonen können sie die Trinkwasserversorgung angrenzender Dörfer gefährden, wie das in Uruguay schon passiert ist. Haben Sie vor, die Forstpolitik zu ändern?
Im Falle Uruguays ist die Waldwirtschaft künstlich. Ursprünglich war hier nur Gras. Die Aufforstung mit schnellwachsenden Bäumen hier ist in einem weltweiten Kontext zu sehen. Die Waldgesetzgebungen in all unseren Ländern hier sind nicht hausgemacht – bezeichnend ist, dass ihr Ursprungstext englisch ist. Dahinter stecken die großen transnationalen Papier- und Zelluloseunternehmen, vielfach verbunden mit großen US-amerikanischen Verlagshäusern. Der weltweite Papierverbrauch wächst ständig. In Europa kann man nicht mehr Wald anpflanzen. Daher haben sie sich umgesehen, wo in der Welt man am schnellsten anpflanzen kann. Daher hat unser Waldgesetz auch nichts mit uruguayischen Bedürfnissen zu tun, sondern mit der Papierproduktionskette von Unternehmen, die woanders ansässig sind. In Uruguay ist eine halbe Million Hektar mit Bäumen bepflanzt. Am meisten Sorgen macht uns dabei das Geschäft mit dem Holz. Eine Tonne Holz kostet in Uruguay viel weniger als in Finnland oder Norwegen.
Die Papierunternehmen kamen hierher, weil es Bäume gibt, aber vor allem, weil sie billig sind. Hier machen sie dann daraus Zellulose, das sie nach China schicken, um dort daraus Papier zu machen, weil China der kommende große Abnehmer ist. Die Produktionskette wurde in völliger Verantwortungslosigkeit aufgebaut, ohne die sozialen, wirtschaftlichen, Umwelt- und sonstigen Auswirkungen zu prüfen. Das haben unsere Vorgängerregierungen verbrochen. Die Frente Amplio stand dem Aufforstungsprojekt immer sehr kritisch gegenüber. Jetzt haben wir eine halbe Million Bäume. Einen Baum zu pflanzen kostet nicht viel. Aber was macht man damit, wenn er zwanzig Jahre alt ist? Einfach ausreißen? Erst einmal werden wir die Subventionen schnell auslaufen lassen. Dann werden wir uns um die Waldarbeiter kümmern, die heute unter absolut prekären Bedingungen arbeiten. Und schließlich um die uruguayischen Produzenten, damit sie nicht von den Holzkartellen übers Ohr gehauen und mit miserablen Preisen abgespeist werden.
Wir wollen also das existierende Forstmodell verändern, Arbeitsplätze schaffen, eine Industrie aufbauen, die auf Holz und nicht auf Zellulose basiert, an die Stelle von Chemie also physische Arbeit setzt, auch deswegen weil wir nicht die Kapazitäten haben, die Umweltauswirkungen zu kontrollieren. Man hat uns bis zum Abwinken erklärt, dass der Staat zu aufgebläht sei und abgebaut werden müsse, und jetzt ist kaum noch etwas übrig, wenn man es etwa mit europäischen Staaten vergleicht. Aber da wir wegen der Schuldenauflagen und des Haushaltsdefizits sehr eingeschränkt sind, können wir keine Beamten neu einstellen. Also können wir auch keine Kontrollapparate für Umweltverschmutzung einrichten. Aber zumindest werden wir versuchen, eine Holzindustrie aufzubauen. Das bringt zumindest Arbeitsplätze, während in der Zelluloseproduktion nur sehr wenige Leute beschäftigt sind. Wir brauchen Arbeitsplätze, die Mehrwert schaffen, nicht solche, wo einer ein Loch gräbt und der andere es wieder zuschüttet.
Es besteht ein sehr kontroverses Zellulosefabrikprojekt mit ausländischem Kapital. Wie ist der Stand?
Es ist bereits genehmigt, Shell war zu 50 Prozent beteiligt, ist aber ausgestiegen, weil sich der Konzern weltweit aus dem Holz- und Papiergeschäft zurückgezogen hat. Er konzentriert sich inzwischen auf Wasserstoff. Die Shell-Anteile wurden von zwei finnischen Unternehmen übernommen. Neuerdings sind auch US-amerikanische Unternehmen in die uruguayische Forstwirtschaft eingestiegen, allerdings mit Sägewerken für Kiefern, für Qualitätsholz, zur Möbelherstellung. Das ist auf jeden Fall weniger umweltschädlich als Zelluloseherstellung – die zwar inzwischen weniger schadstoffreich durchgeführt werden kann, aber das ist teuer.
Sie haben mehrmals angesprochen, dass die Mehrwertschöpfung im Land erhöht werden muss, um aus der Rolle des billigen Rohstoffproduzenten auf dem Weltmarkt herauszukommen. Dieser Weltmarkt steht unter der Kontrolle der WTO (Welthandelsorganisation), deren unbewiesenes Dogma das Außenhandelswachstum als Motor für Wohlstandsmehrung ist. Seit der letzten, gescheiterten WTO-Konferenz in Cancún hat Brasilien innerhalb der in der Zeit gegründeten G20 (Gruppe von rund 20 Entwicklungs- und Schwellenländern) eine Führungsrolle übernommen. Werden Sie sich in Brasiliens Windschatten stellen oder eine eigene Rolle suchen?
Bislang beruhten die Profite des Außenhandels vor allem auf dem Handel der Industrieländer auf unseren Absatzmärkten. Von Nahem betrachtet haben alle diejenigen, die so auf den freien Handel schwören, überhaupt keine offenen Wirtschaften. Wenn wir dort bloß eine Tomate verkaufen wollen, gibt es schon irgendeinen Hinderungsgrund. Umgekehrt verkaufen sie uns jedweden Dreck. Wir wissen, dass der Welthandel heute nicht frei, sondern äußerst reguliert ist. Wir sollen dabei lediglich das kaufen, was andere produzieren. Der sogenannte Freihandel ist eine Schöpfung der Multis und in deren Sinne. Denn seien wir mal ehrlich, nicht die Staaten bestimmen den Handel, sondern die Unternehmen. Man muss Adam Smith und Ricardo allerdings ganz genau lesen und nicht nur ein paar Zitate herausfischen, dann findet man auch die Bedingungen, die sie aufzählten, damit Wohlstand durch Handel wirklich überall ankommt.
Es ist richtig, dass die Tendenz zur Handelsliberalisierung heute von den Multis diktiert wird. Wir sind der Meinung, dass man angesichts dessen regionale Allianzen schmieden muss, um sich zu verteidigen und sich gemeinsam gegen den Freihandel zu wehren, den uns die großen Länder aufzwingen wollen, und stattdessen untereinander Handel treiben. Wir sind nicht einverstanden mit der Haltung unserer Vorgängerregierung, die dem bilateralen Handel mit den USA Vorrang eingeräumt hat. Das ist Selbstmord. Sobald die USA irgendwo anders größeren Vorteil wittern, ändern sie ihre Politik und weg sind sie. Im Moment hängen wir mit einigen Exportprodukten sehr stark von den USA ab, etwa beim Fleisch. Das kann so nicht weitergehen. Der Handel muss innerhalb der Region gefördert und organisiert werden. Unserer Meinung nach muss insbesondere die Süd-Süd-Zusammenarbeit gefördert werden. In dieser Hinsicht ist die Gründung der G20 von strategischer Bedeutung.
Die Frente Amplio wird sich um die Stärkung des Mercosur kümmern, aber auch um die Zusammenarbeit überhaupt in Lateinamerika, mit Chile, mit Bolivien, mit Ecuador, und versuchen gemeinsam in der G20 zu arbeiten. Wir waren bisher das Land, das ausgeschert war und sich an die USA angehängt hatte. Die USA hatten uns das als Lösung verkauft, weil wir verschuldet waren. 2002 war Uruguay zahlungsunfähig und Bush half dem damaligen uruguayischen Präsidenten Batlle. Der Preis war, dass Batlle die diplomatischen Beziehungen zu Cuba abbrach. Wir werden die Beziehungen wieder aufnehmen und uns in die Region reintegrieren, um uns gegen ein internationales Handelssystem zu verteidigen, das zum Vorteil der transnationalen Konzerne strukturiert ist. Wir werden dafür eintreten, dass die großen Länder keine subventionierten Produkte auf unseren Märkten dumpen. Wenn sie ein Subventionssystem haben, das dazu dient, dass die Bauern auf ihrem Land bleiben, dort weiter für die dortige Bevölkerung produzieren können, ist das ihre Sache und in Ordnung. Wenn die Subventionen dazu dienen, Exporte zu dumpen, wie das im übrigen nur reiche Länder können, ist es das nicht.
Sie sind also nicht grundsätzlich für die Abschaffung aller Arten von Subventionen?
Die vielgescholtene Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU kümmert sich auch um die Förderung benachteiligter Gebiete. Wenn Bauern in armen Regionen in Portugal oder Griechenland ihr Land aufgeben müssen, wohin sollen sie denn gehen? In die städtischen Armengürtel? Das ist keine Lösung. Wir finden es richtig, dass die reicheren Regionen den ärmeren helfen. Die Ressourcen müssen richtig verteilt werden, damit die Leute unter angemessenen Bedingungen in ihrer Region bleiben können, wenn sie wollen. Das wollen wir hier auch.
Wie könnte man das weltweit bewerkstelligen?
Das Problem ist, dass der Reichtum sehr ungleich verteilt ist. Man müsste einen weltweiten Koexistenzplan aufstellen. Und einen gerechten Handel, keine Ausbeutung der Rohstoffe und billigen Arbeitskräfte der armen durch die reichen Länder. Dazu sollten die Vereinten Nationen dienen. Aber davon sind wir weit entfernt.
Wie wäre es, wenn die EU-Grenzen überall für alle Produkte zollfrei geöffnet würden, die unter angemessenen sozialen und Umweltbedingungen hergestellt wurden, die anderen jedoch mit Zöllen belegt würden, die in einen Fonds fließen, der wiederum der Umstellung und Verbesserung der Bedingungen in den betroffenen Ländern dient? Wäre das eine Ressourcenumverteilung in Ihrem Sinne?
Lehnen das die WTO wie die EU nicht ab? Ich finde die Idee gut. Man muss vor allem auch an die sozialen Aspekte denken. Nehmen wir ein Kilo Käse. Es ist etwas ganz anderes, ob der Käse in einer Fabrik oder in einer entlegenen, armen Gegend unter schwierigen Bedingungen hergestellt ist. Das müsste sich auf dem Etikett wiederfinden und eine entsprechende Förderung erhalten.