Du hast in den dreißiger Jahren in Zürich Solidaritätsarbeit für Flüchtlinge aus Nazideutschland gemacht. Wie kamst du zu deinem politischen Engagement?
Ich bin da sozusagen reingerutscht, ich weiß eigentlich nicht wie. Ich komme aus einer absolut bürgerlichen Familie, mein Vater war Direktor einer Versicherung, aber ein liberaler, aufgeschlossener Mensch.
Ich habe mich von klein an für Sozialarbeit interessiert. Als junges Mädchen schickten mich meine Eltern nach England, um dort Englisch zu lernen. Aber ich habe dort vor allem in einem Sozialheim für Kinder aus den Slums gearbeitet. Als ich aus England zurückkam, ging ich auf die Schule für Soziale Arbeit in Zürich. Aber das fand ich fürchterlich, weil das damals noch als Wohltätigkeit verstanden wurde. Das hat mich angekotzt, und da bin ich davongelaufen.
Ich weiß nicht, warum ich so war. Ich kann mich erinnern, daß ich einen besonders geliebten Lehrer hatte, einen Doktor Hauri, der hat mich zuerst gelehrt, was Sozialismus ist. Da war ich vielleicht vierzehn Jahre alt. Das hat einen Rieseneindruck auf mich gemacht. Als ich dann nach Zürich kam, hatte ich auch sehr viel mit Sozialisten zu tun und kam langsam in die ganze Atmosphäre hinein. Ich bin nie in einer Partei gewesen, aber ich habe immer mit Antifaschisten und Leuten aus der Linken zusammengearbeitet.
In Zürich arbeitete ich als Sekretärin bei modernen Architekten. Sie gehörten zum Internationalen Kongreß für Neues Bauen mit Le Corbusier und all diesen Leuten. Diese Architekten hatten damals ein neues Haus gebaut in Zürich, das Zett-Haus. Das ist ein sehr schönes, großes Geschäftshaus, in dem ihr Büro war und wo ich auch – ganz oben – wohnte. Als die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen, suchten sehr viele Intellektuelle aus Deutschland den Kontakt mit meinen Arbeitgebern und baten sie um Hilfe und Unterstützung. Da die Architekten aber sehr beschäftigt waren, richteten sie mir im Zett-Haus ein kleines Büro ein, wo ich die Emigranten empfangen und ihnen, soweit es ging, helfen konnte. Ein großer Teil der Flüchtlinge war illegal in der Schweiz. Ein Architektenbüro war daher eine gute Tarnung für diese Arbeit.
In gewisser Weise war es auch eine wunderbare Zeit in Zürich damals, eine antifaschistische Zeit. Es war keineswegs so, daß die Emigranten aus Deutschland nur bei den Sozialisten oder Kommunisten untergekommen wären. Es gab keinen bürgerlichen Arzt, Künstler, Schriftsteller oder Buchhändler, der nicht irgendeinen Emigranten bei sich hatte. Es war selbstverständlich in dem ganzen Milieu, in dem ich mich damals bewegte.
Neben dieser allgemeinen Hilfsbereitschaft gab es einige faszinierende Menschen, die sich besonders für die Flüchtlinge engagierten. Da war etwa eine Trotzkistin, Mariann Kater, eine ganz tolle Frau, die sehr vielen geholfen hat. Dann gab es einen Guggenbühl – der hatte zwar meinen Namen, aber ich bin nicht mit ihm verwandt –, der Eigentümer der Zeitschrift „Schweizerspiegel“, der die Emigranten materiell und publizistisch unterstützte. Und vor allem der Advokat Wladimir Rosenbaum, ein absoluter Antifaschist. Er baute seine Garage um, damit die Emigranten dort Informationsveranstaltungen machen und Geld verdienen konnten. Der hatte immer zwei, drei Emigranten bei sich wohnen. Später, im Spanischen Bürgerkrieg, organisierte er Waffenlieferungen nach Spanien gegen Franco. Der mußte dann sein Advokatenbüro aufgeben, weil sich das für einen Schweizer nicht gehörte. Er ist später in Ascona Antiquar geworden. Dort habe ich ihn noch einmal besucht, als wir aus Argentinien zurückkamen. Das war sehr schön.
Ich lernte unheimlich viele interessante Leute kennen. So etwa Thomas Mann, Friedrich Wolf, Ernst Toller, Johannes R. Becher, Leon Hirsch, Else Lasker-Schüler und die Frau von Thälmann, die einmal zu mir kam, um sich meinen Paß auszuleihen. Und schließlich habe ich bei meiner Arbeit Jupp kennengelernt, meinen späteren Mann. Sein richtiger Name war Carl Meffert, aus Tarnungsgründen hatte er sich in der Schweiz den Künstlernamen Clément Moreau zugelegt.
Wann ist Jupp in die Schweiz gekommen?
Er war schon seit 1928 zeitweise in der Schweiz gewesen, in Lugano in Fontana Martina. Dann ist er wieder zurück nach Deutschland gegangen. Nach der Machtübernahme durch die Nazis versuchte er, in die Schweiz zu fliehen. Dabei wurde er am Badischen Bahnhof in Basel von der Gestapo festgenommen. Als die Gestapo-Leute ihn abführen wollten, gab er vor, noch seinen Koffer von der Ablage herunterholen zu wollen. Dafür mußten sie ihn loslassen. Er hat diese Chance genutzt, ist aus dem Zug heraus- und über die Ballustrade heruntergesprungen in die Schweiz. Ungefähr fünf Meter, aber er ist gut runtergekommen. Die Deutschen konnten nicht nach unten schießen, weil da die Schweiz war. (Der Badische Bahnhof in Basel befindet sich auf Schweizer Territorium, das Bahnhofsgelände steht aber unter deutscher Verwaltung – G. E.)
Er war zunächst in Basel und kam dort zu Georg Schmidt, dem damaligen Direktor des Baseler Kunstmuseums. Das war ein unglaublicher Mensch. Ich weiß nicht, ob er Kommunist war, auf jeden Fall war er absoluter Anti-Nazi und hat Jupp sehr geholfen. Jupp hat zunächst beim Gewerkschaftsbund in Basel in der Druckerei gearbeitet. Er hat dort auch viele Schnitte gemacht – sein wichtigstes künstlerisches Ausdrucksmittel zu dieser Zeit war der Linolschnitt. Oft hat er auch direkt in die Druckplatten hineingeschnitten, um es billiger zu machen.
Auch Jupp war illegal in der Schweiz. Er hat sofort Schweizerdeutsch gelernt, damit er nicht an seiner hochdeutschen Aussprache zu erkennen war. Das hat ihn sicher zum Teil gerettet. Ich weiß noch, daß wir ihn einmal eine Zeitlang in die Berge zu einem Bauern verfrachtet haben. Der Bauer meinte ihm gegenüber, er rede aber ein komisches Schweizerdeutsch. Worauf Jupp ihm antwortete, er sei halt im Wallis aufgewachsen, und da spräche man so. Er wußte sich immer zu helfen.
Wir mußten natürlich immer vorsichtig sein. Wenn wir z.B. Else Lasker-Schüler auf der Straße sahen, sagte Jupp immer: „Schnell weg!“ Denn sie begrüßte einen immer laut und überschwenglich, weil sie ganz glücklich war, einen zu treffen. Aber wenn man so auffällig hochdeutsch sprach, kam gleich die Polizei und fragte: „Warum reden Sie hochdeutsch, sind Sie Deutsche?“
Da Jupp als Deutscher, Linker und politischer Grafiker sehr viele der Emigranten kannte, lebte ich mittendrin in dieser gespannten, sehr interessanten Atmosphäre. Der Hauptknotenpunkt war die Buchhandlung (und Verlag) von Emil Oprecht und seinem Bruder Hans Oprecht. Die Buchhandlung lag in Zürich ganz nahe am Bellevueplatz und fast neben dem Café Odeon, damals der Haupttreffpunkt der Emigranten. Bei Emil Oprecht lernte ich auch den italienischen Schriftsteller Ignacio Silone kennen. Jupp hat ein Buch von ihm illustriert: „Die Reise nach Paris“. Mein Mann war immer begeistert von der Art, wie Silone seine Skizzen beurteilte. Ohne je ein abschätziges Wort zu sagen, gelang es ihm immer, das zu erreichen, was er wollte. Silone wurde ein guter Freund von uns. Jupp illustrierte auch Bücher anderer Autoren, so „Berliner Novellen“ von Bernhard von Brentano und „Menschen ohne Gott“ von Hans Mühlestein.
Jupp arbeitete, wo es ging, immer für die Gewerkschaften, in Zürich und Bern, in Genf und Lausanne. Wir mußten oft umziehen aus Sicherheitsgründen, wir fuhren auch zweimal illegal – ich hatte natürlich meinen Schweizer Paß – nach Amsterdam und Österreich, um nach einem Paß für Jupp zu suchen. Ich kann mich an vieles nicht mehr gut erinnern. Einen Besuch werde ich aber nie vergessen: den Besuch bei John Rittmeister, einem Freund von Jupp, der als Assistent im Zürcher Kantonsspital arbeitete. Er lebte sehr zurückgezogen. Später ging er zurück nach Deutschland, arbeitete dort illegal und wurde als Mitglied der Weißen Rose hingerichtet.
Du bist 1935 zusammen mit Jupp Meffert nach Argentinien gegangen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Im letzten Jahr in der Schweiz war ich immer in großer Sorge um Jupp – er hätte ja jederzeit verhaftet und abgeschoben werden können. Ich hatte einen Onkel, der bei der Fremdenpolizei war. Als ich nicht mehr ein noch aus wußte, ging ich zu ihm und fragte ihn, ob er uns nicht helfen könne. Zu dieser Zeit war Rothmund Chef der Fremdenpolizei in der Schweiz, er war ein absoluter Antisemit und Hitler-Anhänger. Das wußte ich und fürchtete deshalb, daß das niemals klappen würde. Aber mein Onkel war sehr anständig und hat uns geholfen. Er kannte einen argentinischen Konsul in Bern, der ihm einen Gefallen schuldig war, und der Gefallen war dann, daß Jupp einen Nanssen-Paß bekam.
Wir hatten dann natürlich kein Geld für die Überfahrt. Schließlich ging ich zu meinem Vater und sagte ihm: „Hör mal, ich habe einen Freund, der ist ein deutscher Künstler, er hat kein Geld, keinen Paß und keine Bleibe und muß nach Argentinien, und ich möchte gern mit ihm gehen.“ Da fragte mich mein Vater – das ist so schön, das muß ich erzählen –: „Mußt du ihn heiraten?“ Und ich antwortete: „Nein, ich muß ihn nicht heiraten.“ Da war alles gut. Jupp wurde eingeladen, und mein Vater bezahlte ihm die Reise Erster Klasse nach Argentinien, damit ihm auch ja nichts passierte. Die Bedingung meines Vaters war, daß Jupp Argentinier werden und Arbeit annehmen sollte. Dann hätte er nichts dagegen, daß ich auch hinreise. Jupp fuhr dann im März mit dem Schiff hin, und im Juni, als ich Geburtstag hatte, konnte ich ihm nachfahren. Jupp kam mir bis Montevideo entgegen. Am Tag nach meiner Ankunft heirateten wir dann in Buenos Aires. Durch die Heirat mit Jupp verlor ich meine Schweizer Staatsbürgerschaft, und zwar deswegen, weil ich einen Emigranten heiratete. Alle Schweizerinnen, die deutsche Nazis heirateten, blieben Schweizerinnen, aber die, die Emigranten heirateten, verloren ihr Schweizer Bürgerrecht. Ich habe es erst 1952 wiederbekommen.
Es war doch sicher nicht einfach, sowohl für Jupp als Künstler als auch für dich als Sekretärin, die zunächst noch kein Spanisch sprach, in Argentinien den Lebensunterhalt zu bestreiten?
Nein, keineswegs. Ich hatte in der Schweiz etwas Spanisch bei Ignacio Silone gelernt, mit dem wir, wie gesagt, sehr eng befreundet waren. Er hatte mir ein paar Stunden Unterricht gegeben. Er betonte immer, er könne mir kein sehr feines Spanisch beibringen, denn er hätte es im Gefängnis gelernt. Jupp fand sehr schnell in irgendeinem graphischen Betrieb Arbeit, aber der Inhaber starb, als ich noch unterwegs war. D.h. als ich ankam, hatte er keine Arbeit mehr. Da haben wir eben gesucht und kamen in die deutschen Emigrantenkreise. Dort hörten wir von der Pestalozzi-Schule. Jupp ging zu Ernesto Alemann, der Finanzier der Schule und Eigentümer der deutschsprachigen Zeitung „Argentinisches Tageblatt“ war. Alemann stellte ihn als Zeichenlehrer in der Schule an. Er hatte die Pestalozzi-Schule gegründet als Schule für die jüdischen Emigrantenkinder, die in keiner anderen deutschen Schule in Buenos Aires unterkamen, weil alle von den Nazis gleichgeschaltet waren.
Jupp arbeitete eine Zeitlang als Zeichenlehrer. Außerdem machte er politische Zeichnungen für das „Argentinische Tageblatt“ und verschiedene andere Zeitschriften. Nur von seinen politischen Zeichnungen und Schnitten konnten wir natürlich nicht leben. Darum mußte er auch kommerzielle Zeichnungen – Werbung – machen, um Geld zu verdienen.
An der Pestalozzi-Schule lernte Jupp August Siemsen kennen, den Sozialisten und Kopf der Bewegung „Das Andere Deutschland“. Mit den Siemsens waren wir eng befreundet. Jupp verehrte August Siemsen sehr, der hatte ihn furchtbar gern. Und ich auch, wir hatten eine sehr gute Beziehung, wir waren sehr viel zusammen. August war ein unglaublich gebildeter Mensch und konnte wunderbar erzählen. Augusts ruhige und bestimmte Art tat Jupp immer gut und half ihm sehr.
Hast du auch außer Haus gearbeitet?
Zuerst nicht, zuerst war ich nur dort. Die Architekten, für die ich in Zürich gearbeitet hatte, gehörten ja zu diesem Internationalen Kongreß für Neues Bauen. In deren Auftrag sollte ich in Buenos Aires einen russischen Architekten aufsuchen und schauen, daß er mit in diesen Internationalen Kongreß reinkommt. Das machte ich gleich zu Anfang. Seine Frau, eine Argentinierin, war Doktorin der Psychologie, Psychiatrie und Kriminologie, eine unglaublich gescheite, sehr nette Frau. Sie wollte ein kinderpsychologisches Ambulatorium an der Universität Buenos Aires aufbauen und wollte, daß ich mit ihr dort arbeitete. Ich zögerte anfangs, weil ich keine Ahnung vom Fach hatte. Außerdem hatte ich nie etwas studiert. Aber sie sagte, das mache gar nichts, ich solle nur mit in die Universitätsklinik kommen. Dort mußte ich zuerst Krankengeschichten machen. Ich lernte ganz praktisch, indem sie mit mir jeden Fall einzeln durchging. In der Klinik war damals eine österreichische Emigrantin tätig, die noch mit Rorschach zusammengearbeitet hatte. Über sie lernte ich, nach der Rorschach-Methode zu arbeiten. Die Doktorin fand mich für die Kinderpsychologie sehr geeignet und brachte mir alles bei, was sie konnte. Ich bildete mich natürlich auch selbst weiter. Ich las viel, nahm an Kongressen teil und eignete mir so vieles an.
In meiner psychologischen Arbeit betreute ich die Kinder bei sich zu Hause, ging mit ihnen spazieren oder nahm sie mit zu uns nach Hause. Ach, es ist so schwierig, das alles der Reihe nach zu erzählen, es kommt mir immer noch etwas in den Sinn, das erklärt werden sollte.
Wir wohnten damals in Adrogué, einem wunderschönen Außenquartier von Buenos Aires, in einem sehr alten Villa-ähnlichen Haus in einem Riesengarten. Der Vorort Adrogué wurde damals, als in Buenos Aires das gelbe Fieber ausbrach, gegründet. Ein reicher Arzt namens Adrogué zog mit seiner Familie aus der Stadt heraus und gründete ein herrliches Villenviertel. Als dann aber Buenos Aires als Handelsplatz immer wichtiger wurde, verließen viele reiche Leute diesen Ort und zogen in neue große Wohnungen in der Stadt. So waren die Mieten der vornehmen Häuser in Adrogué gar nicht so hoch. Wir zahlten damals für diesen herrlichen Ort – wir hatten 14 Mandarinenbäume im Garten, Kamelienbäume, Magnolien, Glyzinien-Arkaden, Platz für Hühner, Enten, Hunde, Katzen – 150 Franken im Monat. Das Haus war natürlich für alle Emigranten offen, auch Patienten meiner Chefin wohnten oft bei uns. Wir hatten reizende Nachbarn, Argentinier, Engländer, Deutsche.
Ich nahm gerne kleine Patienten mit nach Hause, schon, um nicht so oft von zu Hause weg sein zu müssen. Ich lernte durch meine Arbeit viele Leute kennen, und es gab immer wieder neue Möglichkeiten für meinen Mann und für mich auch. Arbeit irgendwelcher Art zu finden war tatsächlich nicht so schwer für uns.
Natürlich habe ich auch meinem Mann geholfen, gewöhnlich druckte ich die Linolschnitte. Die Kinder waren in dieser Zeit eigentlich nie allein. Wir hatten immer eine nette Hilfe, und eigentlich waren immer Emigranten zur Hand, wenn es nötig war.
Wie viele Kinder hattet ihr?
Zwei. Tina – mit vollem Namen Argentina (den Namen hat ihr Silone gegeben, als Zeichen der Dankbarkeit für unser Aufnahmeland), sie lebt heute mit mir in St. Gallen – und einen Sohn, Claudio, der in Madrid lebt und mit einer Spanierin verheiratet ist.
Wie war damals die Verteilung bei den Emigrantenfamilien in Argentinien: Wer trug mehr zum Lebensunterhalt bei, die Männer oder die Frauen?
Wohl die Männer. Bei den Familien, die ich kannte, waren es schon hauptsächlich die Männer.
Und für wen war es einfacher, sich in dem neuen Land einzuleben?
Also mir machte es gar keine Mühe, ich fand es herrlich. Wir hatten viele Freunde, viele Emigrantenfreunde, auch Frauen natürlich, aber ich kann mich hauptsächlich an die Männer erinnern. Der ganze Kreis um August Siemsen herum, das waren alles Männer. Obwohl, wenn ich es mir genau überlege, gab es doch auch viele sehr interessante Frauen. Christa Siemsen war eine unglaubliche Frau, das war meine beste Freundin. Dann die Frau Bunke.
Durch die Kunst lernte Jupp den Fotografen Coppola kennen. Er war verheiratet mit Grete Stern, auch eine tolle Fotografin und Emigrantin. Dann kam eine deutsche Ärztin, Klara Heilmann. Sie war in Deutschland Sozialistin gewesen, floh dann nach Spanien und arbeitete dort als Ärztin für die Republik gegen Franco. Dabei wurde sie irgendwann von einer Kugel am Kopf getroffen. Ihre Freunde verfrachteten sie nach England, damit sie wieder gesund würde. Von dort aus kam sie als Kinderärztin nach Buenos Aires. Mit ihr waren wir sehr gut befreundet. Die Frauen spielten schon eine wichtige Rolle. Ich kannte eine Ungarin, die ganz alleine ein Geschäft für Kunstgewerbe und Kinderspielzeug auf die Beine brachte. Eine andere – Elisabeth, die als junges Mädchen aus Deutschland floh und nach Argentinien kam – gab in Buenos Aires Deutschstunden. Einer ihrer Schüler war ein älterer Frauenarzt, der sie zur Hebamme ausbildete. Da sie zu unserer Freundin wurde, war ich bei der Geburt unserer Kinder immer in besten Händen. Da war auch eine Österreicherin, die ein ganz besonders schönes Modehaus aufbaute, und da waren verschiedene Fotografinnen, die sehr viel Arbeit fanden. Viele junge Emigranten-Mädchen arbeiteten als Kindermädchen oder Haushaltshilfen und lernten so Menschen kennen, die weiterhalfen.
Die Frauen, die ich kannte, lebten sich alle sehr schnell ein. Jupp hatte sich auch schnell eingelebt, aber der ist kein typisches Beispiel, der war immer anders als die anderen Leute. Doch, es waren wohl schon die Frauen, die sich leichter reingefunden haben, mit der Sprache usw. Aber ich könnte das gar nicht so absolut sagen. Oder doch: die jungen Männer hatten es nicht so leicht, das stimmt schon. Es war für uns Frauen leichter, Arbeit zu finden, als Kindermädchen, im Haushalt. Die Männer suchten natürlich „wichtige“ Arbeit, und das war nicht so leicht, das ist ja klar. Insgesamt war es nicht so schwer, Arbeit zu finden. Wenn jemand die Sprache konnte, fand er leicht Arbeit. Die Europäer waren sehr beliebt. Freilich war es für uns, die Antifaschisten, etwas schwieriger, da die deutschen Nazis sehr wichtige Plätze einnahmen.
Du hast eben Nadja Bunke erwähnt. Kanntest du auch die Tochter, Tamara, die später als „Tanja la Guerrillera“ mit Che Guevara in Bolivien kämpfte?
Ja klar kannte ich die. Sie war ein Jahr älter als Tina. Die Bunkes wohnten ganz nahe bei uns. Als Tina geboren wurde, haben wir uns Kindersachen ausgeliehen – wir hatten ja kaum Geld. Ich fragte Frau Bunke, ob sie jemand wüßte, der einen Kinderwagen hätte. Sie bot mir ihren eigenen an. Tina lag dann also in demselben Kinderwagen, in dem Tamara gelegen hatte.
Jupp hat übrigens zeitweilig Che Guevara privat Zeichenunterricht gegeben. Daran kann ich mich noch gut erinnern, er war damals noch sehr jung.
Pieter Siemsen (antifaschistischer Emigrant und Mitarbeiter des „Anderen Deutschland“ – die Red.) erzählte uns, Jupp sei auch Initiator des Exilkabaretts „Truppe 38″ gewesen…
Ja, das ist richtig. Die deutschen Sozialisten in Buenos Aires hatten seit der Zeit, als sie vor den Bismarckschen Sozialistenverfolgungen aus Deutschland nach Argentinien geflohen waren, ein Haus in Buenos Aires, den Verein „Vorwärts“. Dort stellte Jupp diese Kabarett- bzw. Theatergruppe auf die Beine. Wir sprachen junge Leute an, Walter Rosenberg, Pieter Siemsen, Renate Schotelius, eine junge Tänzerin. Wir waren ungefähr zehn Leute und machten ein richtiges Kabarett mit Liedern von Brecht, improvisierten Szenen usw. Damit verdienten wir ziemlich viel Geld für die antifaschistische Arbeit. Das „Spendensammeln“ war auch wieder „typisch Jupp“. Es gab bei den Aufführungen 15 Minuten Pause. In dieser Zeit sammelten wir im Saal das Geld. Jupp saß vorne auf der Bühne und sagte laut: „Geht mal da vorne zu dem Alemann, der hat sehr viel Geld“, oder: „Ach, die Geschwister Reinkes sind da, da könnt ihr auch gut hin.“ Das waren zwei alte, gutbetuchte Damen. So schickte er uns zu den einzelnen Leuten, und wer so „offiziell“ angesprochen wurde, wollte sich nicht lumpen lassen…
Du sagtest, ihr hattet Kontakt zu Emigranten und zu Argentiniern. Was für Leute waren eure argentinischen Freunde?
Sie stammten zunächst hauptsächlich aus Künstlerkreisen. Später, während des Zweiten Weltkrieges, begannen neben den Emigrantenzeitungen und den linken Blättern auch große Zeitungen, wie die „Nación“, antifaschistische Zeichnungen meines Mannes zu veröffentlichen. Dadurch haben wir dann viele neue Leute kennengelernt, Redakteure usw. Zu dieser Zeit machte Jupp auch Ausstellungen in Buenos Aires.
Ihr habt nicht nur in Buenos Aires gewohnt. Wart ihr nicht auch in Patagonien?
Das war nur Jupp. Er mußte fliehen, als es in Argentinien wieder schwieriger wurde mit den Militärs. Einige Leute im Ministerium – die ihm wohlgesonnen waren – warnten ihn und rieten ihm, eine Zeitlang abzutauchen. Er ging daher für eine gewisse Zeit nach Comodore Rivadavia in Patagonien. Die Kinder und ich lebten währenddessen weiter in Buenos Aires.
Eine Zeitlang lebten wir auch in Uruguay in der Colonia Valdense bei Annemarie Rübens. Später mußte Jupp dann noch einmal verschwinden. Er ging nach Humahuaca, ganz oben in den Anden. Dort begann er zu malen. Vorher hatte er nur gezeichnet und geschnitten. Der Aufenthalt dort war wohl sehr schön, er fühlte sich sehr wohl. Er hatte ein sehr gutes Verhältnis zu den Indios, die in dieser Region lebten. Sie mochten ihn auch sehr gern. Wenn sie z.B. Karneval hatten, trieben sie während dieser Zeit möglichst alle Weißen aus dem Dorf heraus, weil sie unter sich sein wollten. Nur Jupp mußte dableiben.
Ihr hättet nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sturz Hitlers wieder zurückgehen können, seid aber in Argentinien geblieben…
…weil wir so gerne dort waren. Wir waren sehr glücklich in Argentinien. Ich hatte in Argentinien nie Heimweh nach der Schweiz, aber nach unserer Rückkehr in die Schweiz hatte ich sehr wohl Heimweh nach Argentinien. Wir hatten eine wunderbare Beziehung auch zu den Nachbarn, wir hatten keine Schwierigkeiten. Ich hatte Arbeit, Jupp hatte Arbeit. Ich hätte um nichts in der Welt zurückgehen wollen. Es ist mir sehr schwergefallen, wieder zurückzugehen.
Ich war in Argentinien nicht einen Moment lang traurig. Vielleicht ganz am Anfang etwas. Das argentinische Volk, das wir damals kennengelernt haben, war so voll Natürlichkeit, offener Güte und Freundlichkeit, die mich immer wieder bewegten.
Ich muß natürlich auch gestehen, daß mir mein Vater half, wenn es nicht mehr ging. Ich hätte niemals um mehr gebeten, als notwendig war. Aber wenn es wirklich notwendig war, half er mir ohne weiteres. Ich hatte es in dieser Beziehung gut, sehr gut, es wäre mir nie schlecht gegangen.
Nach der Niederlage des deutschen Faschismus begann die allmähliche Rückkehr der EmigrantInnen. War das für euch, für die Dableibenden, nicht traurig, wenn immer mehr Leute weggingen?
Ich weiß nicht. Sicher merkten wir das. Aber wir hatten auch sehr viele argentinische Freunde. Schließlich gehörte man zum ganzen Quartier dazu. Und durch meine Arbeit lernte ich dauernd Leute kennen.
Wir haben ergreifende Sachen erlebt. Einmal war Tina krank und hatte Ohrenschmerzen. Unser Kinderarzt sagte, ich müsse sie unbedingt zu einem Ohrenarzt bringen, er könne nicht helfen. Das hat sich dann schnell herumgesprochen. Zwei Tage später läutete es bei uns. An der Tür stand ein Mann und sagte, er käme wegen der Ohrenschmerzen meines Kindes. Er sei Professor für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten. Er behandelte Tina, doch als er wegging, wollte er kein Geld. Das koste nichts, sagte er, das sei doch selbstverständlich. Und dann kam heraus, daß es sich um einen ganz berühmten österreichischen Ohrenspezialisten handelte, der nach Argentinien geflohen war. Solche Sachen haben wir da dauernd erlebt. In der Schweiz wäre das nicht passiert.
Ganz am Anfang, als wir nach Argentinien kamen, waren Jupp und ich einfach ganz begeistert von Buenos Aires, dieser Stadt, die die ganze Nacht lebt. Wir sind nächtelang herumgelaufen, haben alles gesehen, haben miterlebt, wie die Zeitungen vertrieben und auf der Straße verkauft wurden. Erst morgens um zwei, drei Uhr nahmen wir den großen Omnibus nach Saavedra, wo wir damals wohnten. Es waren nicht sehr viel Leute im Bus, wir saßen hinten und schliefen ein. Der Chauffeur beobachtete uns im Spiegel und fragte plötzlich: „Wo wohnen Sie eigentlich?“ Mein Mann sagte: „In Saavedra.“ Der Chauffeur fragte: „Welche Straße, welche Nummer?“ – „Warum wollen Sie das wissen?“, fragte mein Mann zurück. Da sagte der Chauffeur: „Ihre Frau ist so müde, ich fahre Sie nach Hause.“ Er tat es wirklich! Das gibt es hier in der Schweiz auch nicht.
Einmal waren wir im Chaco im Zug. Das war wunderbar. Mit dem Zug durch den Chaco zu fahren, das ist etwas Unheimliches. Die Eisenbahn fährt eigentlich nur auf Pfählen, die Gleise sind auf Pfählen befestigt. Man fährt mitten durch den Urwald. Es war sehr heiß, und wir tranken Coca Cola. Uns fiel auf, daß dauernd kleine Jungs durch den Zug rasten. Ich schnappte mir einen von ihnen und sagte: „Du, willst du nicht auch eine Cola trinken? Ich schenk’ dir eine.“ „Ich habe keine Zeit, keine Zeit“, war die Antwort. Kurze Zeit später raste ein zweiter vorbei, und ich fragte ihn: „Warum rennt ihr eigentlich?“ Da sagte er: „Ja, wissen Sie, wir sind fünf Jungens und haben nur zwei Billets. Da müssen wir immer schnell machen, daß uns der Schaffner nicht erwischt.“ Irgendwann kam der Schaffner bei uns vorbei, und wir plauderten ein wenig. Plötzlich fragte er: „Stören Sie die Jungs nicht?“ „Nein, nein, gar nicht“, sagten wir, „die sind doch herzig.“ „Ja, wissen Sie“, sagte er, „das sind fünf Jungs, und die haben nur zwei Billets, und wir spielen jetzt ein bißchen Indianer.“ Solche Geschichten erlebte man dauernd.
Es war damals eine gute Zeit in Argentinien, trotz der vielen Nazis. Insbesondere Buenos Aires war eine Agglomeration von verschiedenen Nationen und Sprachen. In der Eisenbahn, beim Zuhören, wie die Leute miteinander sprachen, konnte man leicht am Tonfall die entsprechende Nation erkennen.
Ihr habt später aus politischen Gründen das Land verlassen?
Ja, nach dem Militärputsch von 1962 wurde es einfach zu gefährlich für Jupp. Es waren sehr viele deutsche Generäle in Argentinien, die den Faschismus wieder hochgebracht hatten. Diese Deutschen waren sehr mächtig in Argentinien.
Seid ihr geflohen oder ganz offiziell ausgereist?
Wir sind offiziell ausgereist. Wir sind 1962 und 1964 zurückgekommen. Jupp ist dann nach Deutschland gefahren und ist wieder Deutscher geworden. Das Schweizer Bürgerrecht hat er auch bekommen.
Du hast sehr lange in der Weltstadt Buenos Aires gelebt und kamst dann zurück in das kleine St. Gallen. War das nicht schwierig für dich?
Für mich war es nicht so schwierig. Ich war St. Gallerin. Von meiner Familie war zwar niemand mehr am Leben, und nach dreißig Jahren Abwesenheit war man eigentlich wieder fremd in der Stadt. Aber ich hatte das ganz große Glück, daß ich meine in Buenos Aires gelernte Arbeit in St. Gallen weiterführen konnte. Ich habe dort noch zwanzig Jahre mit Kindern gearbeitet, bis ich 82 Jahre alt war.
Mein Mann kannte viele Leute in Zürich. Er arbeitete eine Zeitlang im Schauspielhaus als Zeichner, später an der Kunstgewerbeschule in St. Gallen. Langsam wurde seine Arbeit, die er in Argentinien geleistet hatte, bekannt in Deutschland und der Schweiz. Leider starb er 1989. Er würde sich sicher sehr freuen, wenn er mitbekäme, daß er noch immer nicht vergessen ist.
Hast du dich nach der Rückkehr in die Schweiz weiter politisch betätigt?
Leider nicht. Ich habe hauptsächlich gearbeitet, zehn Stunden am Tag, und hatte daher nicht soviel Zeit. Aber ich habe die Entwicklung weiter verfolgt, viel gelesen und war bei Anlässen und Demonstrationen dabei. Wir gehörten auch zu der Ärztevereinigung gegen den Atomkrieg, IPPNW. Mit denen haben wir viel gearbeitet, und ich kenne sehr viele Leute von denen. Ich lese natürlich immer noch die sozialistischen Zeitungen. Aber politisch tätig war ich eigentlich nicht.
Warst du nach eurer Rückkehr noch mal in Argentinien?
Nein, ich wollte nicht mehr hin: Es hat sich auch dort sehr vieles verändert. Aber unser Argentinien ist mein Heimwehland geblieben.
Hast du noch Kontakt zu Argentiniern?
Ja, ich hatte noch lange Kontakt zu Coppolas, auch zu anderen, aber dann sind sie alle gestorben. Es werden ja nicht alle 90 Jahre alt.