Dieser Lyrikband ist etwas Besonderes. Zusammen­gestellt wurde er von der Lyrikerin Luciana A. Mellado, die auch selbst in dem Band vertreten ist. Sie stützte sich dabei auf ein Netzwerk von Lyriktreffpunkten, -werkstätten und literarischen Zeitschriften in Patagonien, in denen Lyrik diskutiert und vorgestellt wird. Sie sagt: „Der Süden ist so hart wie die Wirklichkeit, aber er reift nur in Beziehungen, im Dialog, in Spannungen, im Übergang.“ Mindestens zwei Buchveröffentlichungen machte sie zur Voraussetzung, um in die Anthologie aufgenommen zu werden. Außerdem teilt sie die 51 ausgewählten Autor*innen aus dem argentinischen Patagonien in zwei Generationen ein: Diejenigen, die zur ersten Generation zählen, wurden zwischen 1900 und 1960 geboren und kommen teilweise aus nicht-patagonischen Regionen und Ländern, viele waren nach Patagonien ins Exil gegangen. Damals wurde die Poesie Patagoniens zu „der besten Argentiniens“, zitiert Mellado den Literaturkritiker Christian Aliaga. Die neue Generation besteht aus den ab 1970 Geborenen. Bei ihnen spielt die ökonomische Krise Argentiniens 2001 eine große Rolle, die alle kulturellen und literarischen Aktivitäten lahmlegte. Sie brechen mit der regionalistischen Ästhetik, den importierten Bildern und Träumen, sind „Vandalen und Menschenfresser“, stellen alles in Frage und erfinden neue Inhalte, Formate und Distributionsformen. Was das bedeutet, zeigen am besten Beispiele aus der Anthologie selbst. Die ausgewählten Ausschnitte behandeln die Frage, was es bedeutet, zu dichten, ein*e Lyriker*in zu sein. Diese Poesie zeichnet sich durch eine klare Alltagssprache aus und zugleich durch einen unbedingten Anspruch, sie hadert mit der eigenen Wirkungslosigkeit und hält trotzig dagegen. Sie sind in erster Linie Lyriker*innen, viele zugleich Lehrer*innen, manche Bäuer*innen, kaum jemand kann von der Lyrik leben. Es sind genauso viele Frauen wie Männer. Auch mehrere Mapuche sind darunter, einige schreiben auf Mapudungun.

Christian Aliaga, geboren 1962 in Buenos Aires, Schriftsteller, Journalist und Dozent in Patagonien, schreibt in seinem Gedicht „Arte, poética“: „Ein Dichter – ein Wolf ohne Revier -/deckt seine Karten nicht auf / … Er ist ein wildes Tier / das nicht aus dem Fenster schaut / sondern viel weiter als die Gitter sieht / ein stummes Gespenst / das seine Last nicht tragen kann / und sich ihr ergibt. / Ein Dichter – ein blauer Punkt auf dem Tisch – / schaut nicht, um zu sehen / sondern um die Augen zu öffnen.“[fn]Übersetzungen von Laura Held[/fn]

Julio José Leite, geboren 1957 in Ushuaia, Feuerland, wo er auch lebt, erklärt in seinem „Manifiesto“: „Ich glaube nicht / an die Großgrundbesitzer der Poesie / an die Latifundistas der Tinte. / Ich glaube / an die Schäfer der Buchstaben, / die mit ihren unerbittlichen Hunden/ der alltäglichen Situationen / die Weiden wechseln / mit ihrer Herde von Ideen / die mit dem Leder in der Luft / das Wort / bekämpfen, / um uns Schutz zu geben. / Sie wissen / dass es nicht darum geht / auf die Hoffnung zu warten, / sondern sie zu gewinnen. /….Wir – ausdauernde Peones- / konstruieren / mit der Kraft der Bilder / das richtige Haus des Menschen.“

Anahí Lazzaroni, geboren 1957, lebt seit ihrer Kindheit in Ushuaia. Sie schreibt über die Schwierigkeiten zu dichten in „Sequía Poética“ (Poetische Dürre): „Die Worte haften nicht auf dem Papier / sie fliegen durcheinander, lösen sich in der Luft auf. / Sie laufen völlig verrückt herum / wie die Novizinnen / in der Epoche der Klöster. / Sie leiden an Demenz. / Weigern sich. / Bis sie eines schönen Tages / plötzlich stehenbleiben.“ Und in „Bajando decibeles“ (Lautstärke herunterdrehen) fordert sie genau das von den Dichter*innen: leise Töne: „Meine Damen und Herren Poeten // Das Insekt, das sich über den Boden schiebt / ignoriert uns. // Die Großgrundbesitzer auch. // Deshalb sollte unsere Vorstellung von der Poesie/ nie zu großartig sein. // Für sie reicht / was in einen Schuhkarton / mittlerer Größe / passt.“

Ähnlich Aldo Novelli in „ladrido“ (Gebell), der einen Lyriker so beschreibt: „ein hund bellt den mond an / ohne zu verstehen. // in diesem dunklen zimmer / heult jemand über dem papier. // nicht mehr als ein weiteres gebell / am rande einer nacht.“

Clara Vouillat, geboren 1946 und seitdem in Fiske Menuco, Río Negro, lebend, u.a. Kulturjournalistin, ist ähnlich pessimistisch in „fotogramas“: „Manchmal denke ich, jetzt habe ich ihn / dass er mir für immer gehört / aber die Liebhaber / sind niemals treu / und die Verse entkommen mir / fallen ins Vergessen / und ich verliere sie / ich verliere sie / es gibt nichts Schriftliches / das für immer bleibt.“

Maritza Kusanovic, geboren 1965 in Punta Arenas, Chile, hält in einem Gedicht ohne Titel dagegen: „in der Wüste / wohnt das Wort / so wie es sein soll / die Plazenta zerreißen / und geboren werden / weil wir müssen“. Viviana Ayilef, geboren 1981, aus Trelew sieht die Poesie aus Frauensicht in „Arte poética“: „Die Poesie kommt erst später. //Vorher kommen die ewigen Compañeros, /die Blicke der Kinder, /die Reisen der Männer, ausgedehnt / – zwischen ihrem Schatten, /über ihre Körper, /durch ihre anderen Geschichten -. // Und das Wort kommt – immer – danach: / vorher der Regen, das Umherziehen. / Leben wandernd zwischen dem weit entfernten Eigenen: / in den Abwesenheiten, in den Innereien. // Aber wenn sie kommt, wenn auch spät, / kommt jedes Wort / nur deswegen / um uns zu beruhigen. //Vorher der Durst. / Vorher: / das Leben.“

Carolina Biscayart, geboren 1972, Mathematikerin und Astronomin, seziert in „Costumbre“ (Gewohnheit), wie und warum sie Gedichte schreibt: „Ich schreibe in ein Heft von hinten / das war keine Absicht / es gibt etwas in mir / das darauf besteht die Dinge /anders zu machen / so wie die Absicht / die doch ohne Anstrengung gelernte Sprache / zu zerbrechen / Worte säubern entfernen /…etwas in mir besteht darauf / bis zum leisesten Ton vorzudringen / zur Grenze / wo das Leben beginnt / und noch gehört werden kann.“

Jorge Curinao, geboren 1979 in Rio Gallegos, Santa Cruz, schreibt in seinem „Ensayo sobre la poesía“ (Essay über die Poesie): „Vom Knochen zum Gedicht / vom Himmel zur Hölle / vom Himmel zur Hölle / vom Knochen zum Gedicht.“ Oder: „Wenn das Schweigen möglich wird / und die Worte beginnen zu zittern.“

Die in der Anthologie versammelten Dichter*innen schreiben nicht nur über die Poesie. Ich hätte auch den ewig prasselnden Regen oder Vögel, die sich in Tische, Fische oder Sterne verwandeln, die stets präsenten Hunde oder die beinharte Einsamkeit auswählen können. All das wird immer wieder thematisiert. Patagonien ist in jedem Wort, jedem Bild, jedem Gedicht präsent. Da ist der Dichter, der auf einer verlassenen Straße steht, sein Renault hat den Geist aufgegeben. Er wartet in der Einsamkeit, aber es kommt nur die Dunkelheit („Patagonia satori“ von Ricardo Costa). Da ist die Dichterin, die in die Wüste läuft, wo die eingefallenen Brüste der Mutter Erde ihre tausendjährige Milch auf den durstigen Boden spucken. Sie beweint mit ihr die unermessliche Beklemmung (ahogo), das stumme Würgen (nausabundear) ihrer Vögel ohne Mund („Patagonia“ von Ludmila La Manna). Und es sind die Lyriker*innen, die in der Nacht unter Mördern ein Streichholz anzünden („Resentidos, remotos, artistas“, Verärgerte, Entlegene, Künstler, von Cristian Aliaga), denen zwei Morgentöchter geboren werden, mit unzähligen Augen, glänzend, ungeduldig („hijas“, Töchter, von Liliana Ancalao). Es geht um nicht weniger als Verwandlung, Geburt und Neubeginn durch die Poesie.