Diejenigen, die in Venezuela ihr Geld mit dem Bedrucken von Mützen, T-Shirts und großformatigen Plakaten verdienen, dürften sich über volle Auftragsbücher freuen. Seit vor drei Jahren Hugo Chávez seine AnhängerInnen dazu aufrief, das Land hin zum Sozialismus zu entwickeln, ist der Begriff allgegenwärtig. Ob in den Barrios der Randbezirke oder im hektischen Zentrum der venezolanischen Metropole Caracas, irgendwie ist alles Sozialismus. Hier ein Markt von ehemaligen StraßenhändlerInnen, der sich via Großtransparent als sozialistisch ausweist, dort ein Infrastruktur- oder Stadtsanierungsprojekt, das laut Bautafel zur Entwicklung des neuen Gesellschaftsmodells beiträgt. Und schließlich die Vielzahl bedruckter roter Kleidungsstücke, die davon künden, das Land befinde sich – rumbo al socialismo – auf dem Weg zum Sozialismus.
Dabei ist es schon bemerkenswert, dass der Begriff „Sozialismus“ Teil der öffentlichen Diskussion geworden ist. Spätestens seit den 1980er Jahren war auch in Venezuela ein zutiefst antikommunistischer Diskurs hegemonial geworden, der auch dazu führte, dass bis vor wenigen Jahren selbst AktivistInmen des „bolivarianischen Prozesses“ offen ihre Abgrenzung von sozialistischen Gesellschaftsentwürfen formulierten. Dieser kulturelle Wandel kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Debatte über den „Sozialismus“ bislang mit wenig greifbaren Inhalten geführt wird – oder anders herum, dass dieser Wandel vielleicht auch nur mit einem unverbindlichen Sozialismusbegriff bewerkstelligt wurde.
Zwar veröffentlichte im September 2007 das Präsidialbüro das Proyecto Nacional Simón Bolivar, den „ersten sozialistischen Plan der Nation“, in dem die Ziele der ökonomischen und sozialen Entwicklung Venezuelas bis 2013 definiert werden, doch ist auch dieses zentrale Dokument weniger eine Diskussionsvorlage über notwendige konkrete Schritte denn eine allgemeine Absichtserklärung. Interessant ist das Dokument dahingehend, dass der Plan den Rahmen der Sozialismusdiskussion widerspiegelt. So werden einerseits durchaus zentrale Punkte einer sozialistischen Perspektive genannt – allen voran die Notwendigkeit der Entwicklung eines alternativen Repräsentations- und Wirtschaftsmodells – andererseits wird versucht, die bestehenden Strukturen (explizit das Privatkapital) in das Modell einzubinden, die Institutionen des bürgerlichen Staats bleiben jenseits einer allgemeinen Korruptionskritik weitestgehend außen vor. Damit ist der Plan weniger ein Dokument einer sozialistischen Perspektive als zuallererst ein Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche und Erfahrungen des „bolivarianischen Prozesses“ der vergangenen zehn Jahre.
Der wichtigste Erfolg des gesellschaftlichen Prozesses seit 1999 – und vielleicht auch sein wesentliches Charakteris-tikum – ist die Integration breiter Gesellschaftsschichten, die zuvor aus dem politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen waren. Interessant dabei ist, dass diese Integration über Strukturen geschaffen wurde, die vom bürgerlichen Staat verwaltet (und bezahlt) wurden, aber keinen traditionellen Formen entsprachen. Zentrales Moment war dabei die Selbstorganisierung. Viele der sogenannten Misiones (staatliche Sozialprogramme) – zumindest die, die erfolgreich waren und sind – haben sich auf Komitees in den Barrios gestützt. Ohne Gesundheitsarbeitskreise oder BildungsaktivistInnen wäre es weder gelungen, die medizinische Versorgung in großem Stil zu verbessern, noch den Analphabetismus zu beseitigen. Mittlerweile ist dieser Selbstorganisierungsprozess so weit gediehen, dass sich in vielen (wenn auch nicht in allen und nicht immer problemlos) Barrios und ländlichen Gemeinden in den vergangenen drei Jahren über 25 000 kommunale Räte gebildet haben, die auf unterster Ebene eine basisdemokratische Form von unmittelbarer Verwaltung ausüben.
Unter Umgehung der klassischen Gemeindeverwaltung organisieren die BewohnerInnen ihre Comunidad selbst – mittels Arbeitskreisen beispielsweise zur Wasserversorgung, Müllentsorgung, Gesundheitsaufklärung bis hin zu Ansätzen der Entwicklung eines nachbarschaftlichen Kreditsystems. Die Mittel stellt weiterhin der Zentralstaat, Planung, Umsetzung und Kontrolle obliegen aber den Räten. Dabei ist festzustellen, dass in dem Maße, in dem diese neuen Strukturen erfolgreich arbeiten, auch das Bedürfnis wächst, dieses Modell auf größere Verwaltungseinheiten auszuweiten. Daraus aber eine Dynamik herauszulesen, die früher oder später die Grundfesten der staatlichen Verfasstheit in Venezuela zwangsläufig erschüttern wird, ignoriert die Tatsache, dass sich diese Prozesse im Rahmen eines vollkommen intakten bürgerlichen Staates vollziehen.
Zwar haben in den letzten Jahren alle Ministerien den Zusatz poder popular (Volksmacht) erhalten (was die oben genannten Druckbetriebe gefreut haben dürfte), in ihrer Struktur hat sich nur in Ausnahmefällen etwas verändert. Auch andere Bereiche des Staates, die Justiz, die Zentralbank sind weit davon entfernt, irgendeiner unmittelbaren demokratischen Kontrolle durch die Bevölkerung unterworfen zu werden. Der Polizeiapparat beispielsweise hat noch dieselbe Struktur, die vor über 70 Jahren unter der Gómez-Diktatur entwickelt wurde (zumindest wurde in diesem Jahr ein Rahmengesetz verabschiedet, das diesen Apparat in einem bürgerlichen Sinne modernisiert). Dabei ist anzumerken, dass sich die Stabilität des bürgerlichen Staates nicht nur aus dem Eigeninteresse des Apparats erklärt, vielmehr ist auch die Kritik an seinen Strukturen – abgesehen von ExponentInnen der radikalen Linken – zumeist nur an bestimmte Erscheinungen wie Korruption und Ineffizienz geknüpft.
Dieselbe Widersprüchlichkeit zwischen Selbstorganisie-rung und Dominanz, wie sie in der politischen Sphäre anzutreffen ist, findet sich auch im Bereich der Ökonomie. Venezuela ist – und das bestreitet niemand – ein kapitalis-tisches Land. Knapp zwei Drittel des Bruttosozialprodukts werden privatwirtschaftlich produziert. Wenn es eine grundlegende Änderung in den vergangenen zehn Jahren im Bereich der Ökonomie gegeben hat, so war dies die Rückkehr des Staates als bewusster wirtschaftlicher Akteur. Was 2003 mit der Rückgewinnung der politischen Kontrolle über den – formal bereits im Staatsbesitz befindlichen – Ölkonzern PDVSA begonnen hat, setzte sich in den vergangenen Jahren mittels Nationalisierung (d.h. die Firmen wurden dem Privatkapital abgekauft) in Teilbereichen der Telekommunikation, des Bankenwesens, der Zementproduktion und – von den Beschäftigten eingefordert – in der Stahlproduktion fort. Mit der Rückgewinnung dieser wirtschaftlichen Ressourcen hat sich der venezolanische Staat in die Lage versetzt, zum einen als selbständiger wirtschaftlicher Akteur seine eigenen Entwicklungsvorhaben unabhängiger umzusetzen, zum anderen (das gilt natürlich zuallererst für den Erdölbereich) über Abschöpfung von Profiten die Sozial- und Entwicklungsprojekte zu finanzieren. Dabei ist aber wichtig festzustellen, dass in der Regel diese Nationalisierungen nicht mit der Einführung eines neuen Systems demokratischer Kontrolle der Produktion durch die Belegschaft oder die Bevölkerung einhergegangen sind. Im Gegenteil, gerade PDVSA ist ein Beispiel dafür, wie der venezolanische Staat in von ihm als strategisch wichtig erachteten Bereichen jede Form von demokratischen Kontrolle der Produktion ausschließt.
Neue Formen von Eigentum und Produktionskontrolle sind bislang weitestgehend auf Bereiche beschränkt, die sehr nahe an marginalisierten Bevölkerungsgruppen angebunden sind und auf die unmittelbare Verbesserung der Beschäftigungs- und Versorgungssituation abzielen. Dazu zählen manche Kooperativen ebenso wie die Ansätze, die oben genannten kommunalen Räte als Akteure einer lokalen Produktion zu etablieren. Die Produkte sollen in erster Linie lokal und weitestgehend nicht kommerziell vertrieben werden, was von der Gemeinde oder dem Zentralstaat garantiert wird. Diese Produktionsstrukturen als Keimzelle einer anderen, nichtkapitalistischen Ökonomie zu beschreiben, ist durchaus problematisch. Ihr Charakter ist zunächst der eines produktiven sozialen Projekts und darin besteht auch der primäre Nutzen. Darüber hinaus ist die ökonomische Bedeutung dieses Sektors angesichts der wirtschaftlichen Struktur des Landes gering (Schätzungen gehen von zwei bis drei Prozent der Wirtschaftsleistung aus). Ferner sind die bisherigen Versuche, in Venezuela innerhalb einer kapitalistischen Ökonomie in größerem Stil ein alternatives wirtschaftliches Modell zu etablieren, durchaus widersprüchlich zu werten.
Exemplarisch sind dabei die Erfahrungen, die in den vergangenen vier Jahren beim Aufbau eines Kooperativenwesens gemacht wurden. Zentral war dabei die Misión Vuelvan Caras, die zwei grundlegende Ziele verfolgte. Vorrangig sollte über dieses berufliche Qualifizierungsprogramm – zusammen mit der staatlichen Förderung der Gründung von Kooperativen – eine unmittelbar wirksame Maßnahme gegen die Massenarbeitslosigkeit ergriffen werden, die nach dem Putschversuch und dem so genannten „Erdölstreik“ 2002/2003 fast 25 Prozent der Bevölkerung betraf. Darüber hinaus verfolgte die Misión das Ziel, einen neuen wirtschaftlichen Sektor zu schaffen, der zum Motor einer neuen Ökonomie werden sollte. Rund 700 000 Menschen nahmen an den Kursen teil, viele davon über Stipendien zumindest halbwegs abgesichert. Im Rückblick ist der Erfolg dieses Programms durchaus zwiespältig. Unstrittig ist, dass das erste Ziel, möglichst schnell Arbeitsplätze zu schaffen, erreicht wurde. Was den Aufbau eines alternativen wirtschaftlichen Sektors betrifft, ist die Bilanz eher ernüchternd. Zwar existieren über das ganze Land verteilt durchaus Beispiele funktionierender Kooperativen, in dem Sinne, dass es innerbetriebliche Demokratie, alternative Formen von Vermarktung und Einbindung in basisdemokratische politische Strukturen gibt. Verallgemeinern lassen sich diese Erfahrungen aber nicht – einer staatlichen Erhebung zufolge gibt es heute fast die Hälfte der Abertausende in den letzten Jahren gegründeten Kooperativen nicht mehr oder nur noch auf dem Papier. Und eine Vielzahl der übriggebliebenen hat sich in normale kapitalistische Betriebe verwandelt, die versuchen, auf dem Markt zu überleben.
Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Realität erscheint die Debatte um den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ paradox. Zur Diskussion gestellt wurde der Begriff – wie viele politische Schlüsselbegriffe in den vergangenen Jahren – von der staatlichen Elite des bolivarianischen Venezuela. Aber anders als beispielsweise bei der Umsetzung der Sozialprogramme entsteht der Eindruck, dass die Konkretisierung des Begriffs irgendwie von unten kommen soll, während der Zentralstaat bislang kaum zu strukturellen Änderungen – im Sinne von unmittelbarer Kontrolle durch die Bevölkerung – weder in dem von ihm verantworteten Bereich der Politik noch der Ökonomie bereit war. Das mag durchaus auch ein Ausdruck des gesellschaftlichen Machtverhältnisses sein, vor diesem Hintergrund wirkt aber der Begriff des Sozialismus wie ein austauschbares Label.
Entsprechend genervt winken auch manche VertreterInnen sozialistischer Organisationen ab, wenn sie auf ihre Position zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ angesprochen werden. Einige, wie etwa Carolus Wimmer (Mitglied der Kommunistischen Partei Venezuelas und Abgeordneter des lateinamerikanischen Parlaments), sehen darin sogar perspektivisch eine große Schwierigkeit für die Linke und sprechen von einer Gefahr, dass der Begriff des Sozialismus „prostituiert“ wird.