Vor einiger Zeit traf in der ila eine ziemlich dicke und sehr schön gestaltete zweisprachige Ausgabe (Spanisch/Deutsch) mit Gedichten des chilenischen Lyrikers Pablo de Rokha (1895-1968), ergänzt durch eine kleine Auswahl von Arbeiten seiner Ehefrau Winétt de Rokha (1892-1951), ein. Beide Namen hatte ich zuvor noch nicht gehört. Weil ich mehreren anderen, vom Übersetzer Reiner Kornberger herausgegebenen und ins Deutsche übertragenen Texten hierzulande kaum bekannter lateinamerikanischer Autor*innen manches Lesevergnügen verdanke, war ich bereit, mich auf den Band einzulassen, obwohl ich mich sonst mit Lyrik eher schwer tue.
Aus der sehr informativen Einleitung Kornbergers erfuhr ich, dass ich mich meiner bisherigen Unkenntnis von Pablo und Winétt de Rokha nicht zu schämen brauche. Denn das Dichterpaar, mit bürgerlichem Namen Carlos Díaz Loyola und Luisa Anabalón Sanderson, war bis zur Jahrtausendwende auch in seinem Heimatland Chile nur einem vergleichsweise kleinen Publikum bekannt, was maßgeblich daran lag, dass ihre Bücher nicht in größeren Verlagen erschienen, sondern von den beiden selbst verlegt und vertrieben wurden. Erst in den letzten 20 Jahren wurden vor allem die Werke Pablo de Rokhas neu veröffentlicht und seit Kurzem auch in verschiedene Sprachen übersetzt. Seitdem wird der Dichter als einer der wichtigsten Autoren der Moderne in Chile angesehen und mit (seinem Lieblingsfeind) Pablo Neruda auf eine Stufe gestellt.
Beim Lesen der Gedichte fiel mir als Erstes die energische, mit vielen umgangssprachlichen Begriffen und Kraftausdrücken angereicherte Sprache auf. Mit den bis dahin vor allem für die Poesie vorgegebenen Konventionen zu brechen, hatte für Pablo de Rokha eine mehrfache Funktion. Zum einen ging es ihm darum, sich von der damals angesagten schöngeistigen „Salonlyrik“ abzugrenzen. Zudem war es ihm wichtig, die „Sprache des Volkes“ zu verwenden und in die Literatur einzuführen, und schließlich entsprach das mitunter derbe Vokabular wohl auch seinem Naturell.
Pablo de Rokha verstand sich zeitlebens als Kommunist, obwohl er der Kommunistischen Partei Chiles nur relativ kurz angehörte. Er war nicht jemand, der sich einer Parteidisziplin unterwarf. Kommunist zu sein bedeutete für ihn, auf Seiten des „Volkes“ zu stehen, worunter er vor allem Arbeiter (Arbeiterinnen kommen bei ihm nicht vor) und die von den Großgrundbesitzern abhängige Landbevölkerung verstand.
Sein Lebenselixier oder zumindest der Antrieb seines Schreibens scheinen vor allem Zorn und Wut gewesen zu sein. Wut auf die Kapitalisten, die Faschisten, den US-Imperialismus, die Eigentümer der großen Haciendas, die Salonpoeten – und auf Pablo Neruda. Letzterer war zwar auch (parteitreuer) Kommunist, aber Pablo de Rokha sah ihn als bürgerlichen Dichter. Hier spielte neben ästhetischen Differenzen wohl auch Eifersucht auf den populären und ökonomisch erfolgreichen Neruda eine Rolle.
Ein Highlight des vorliegenden Bandes ist das im Original wie in der Übersetzung sechs Buchseiten lange Poem „Imprecación de la bestia fascista/Fluch der faschistischen Bestie“, das de Rokha 1937 unter dem Eindruck der Berichte über die Gräuel der Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg und im nationalsozialistischen Deutschland verfasste. Mein persönliches Lieblingsgedicht ist aber „Oleaje de Eternidades/Ewigkeitswoge“, das er 1961 in Erinnerung an seine zehn Jahre zuvor gestorbene Frau schrieb.
Sind dessen Zeilen von einer außerordentlichen Zärtlichkeit und Traurigkeit geprägt, nervt in manch anderen Gedichten der machistische Gestus des Autors, der seine Gegner oder die Objekte seiner lyrischen Attacken bevorzugt als Schwule und Onanisten beschimpft. Wenn man diesen Quatsch liest, vergisst man fast, dass die Lyrik de Rokhas von kühner Erneuerung und Radikalität geprägt ist.
Letzteres gilt auch für die dichterische Arbeit Winétt de Rokhas. Ihre Gedichte haben eine ganz andere Tonlage, weniger zornig, weniger von Pathos durchdrungen, wenngleich genauso entschieden wie die Texte Pablo de Rohkas. Das gilt insbesondere für ihre antifaschistischen Gedichte wie „Canción de los leales Muertos/Lied für die loyalen Toten“ oder „Madres contra el Facismo/Mütter gegen den Faschismus“. Ihre Liebesgedichte deuten ebenso wie die entsprechenden Poeme Pablo de Rokhas auf eine tiefe menschliche, ästhetische und politische Verbundenheit des Dichterpaares hin.