Im Norden fließt ein Fluss, der die Stadt von den Vereinigten Staaten trennt und der früher viel Wasser führte. Trotz allem reichte das Wasser lediglich dazu aus, um Kartoffeln, Baumwolle, Zwiebeln, Chilis und Trauben anzubauen. Die Trauben wurden noch vor einem Jahrhundert in Fässern gelagert, aus denen Weine flossen, die sich – wie erzählt wird – qualitativ mit europäischen Weinen messen ließen. Abgesehen davon wächst hier nichts, weder die exotischen Früchte noch Gemüsesorten, die in anderen Teilen des Landes wachsen, wo sogar die Blüten verspeist werden. Dies ist das Land des Weizenmehls und des Rindfleischs, das direkt über dem Feuer zubereitet wird. Hier ist auch der Käse aus Kuhmilch zu Hause sowie alles, was einfach ist und den kargen Wüstensand widerspiegelt. Hier entstand die Küche der Trockenheit, der dehydrierten Lebensmittel, die leicht gelagert und transportiert werden können. Die Wüste, die es zu erobern galt, machte dies erforderlich. Aus diesem Grund trockneten die Menschen das Fleisch und gingen zu Getreide und Mehl über. Und deshalb wurden die Früchte in Sirup eingelegt und schmückten Häuser und Küchen des Nordens.
Die Küche bestand damals aus wenigen Elementen, aber auch hier bewiesen die mexikanischen Frauen das gleiche Geschick, mit dem sie alles zu nutzen vermochten, was ihnen zur Verfügung stand. So entstanden die Weizentortillas, jene großen scheibenförmigen Fladen aus Weizenteig, die direkt auf heißen Platten zubereitet und von flinken Händen am frühen Morgen oder in den späten Nachtstunden kunstvoll geformt werden. Noch im vergangenen Jahrhundert dominierte das Aroma der Weizentortillas die Küchen von Juárez. In den frühen Abendstunden durchströmte der Duft von geröstetem Mehl die Straßen – Zeit zum Abendessen. Zu dieser Stunde versammelte sich die Familie im schwachen Schein einer Lampe, die Teller mit Bohnen beladen und sich lautstark unterhaltend, allen voran die Mutter, die aufpasste, dass alle Kinder brav aufaßen. Damals gab es weder Vollkorn noch ausgewogene Ernährung und man machte sich keine Sorgen um tierische Fette. Tortillas und Bohnen wurden mit Schweineschmalz zubereitet und der Käse aus unbehandelter Milch – direkt von der Kuh – hergestellt.
Milchkaffee, Weizentortillas und in Schmalz gebratene Bohnen wurden zum Frühstück, zum Abendessen und sogar zum Mittagessen. Dann kam jemand auf die Idee, die Bohnen direkt in der Tortilla, wie bei einem großen taco, einzurollen. So entstanden die burritos, ein typisches Gericht aus dem Norden Mexikos, dessen Urheberschaft viele für sich beanspruchen. Die Herkunft der burros oder auch burritos ist jedoch ungewiss. Sicher ist nur, dass sie aus dem Norden stammen und Mitte des 20. Jahrhunderts zur Lieblingsspeise der EinwohnerInnen dieser Stadt wurden. Seitdem werden sie überall als nördliche Version des traditionellen mexikanischen taco verkauft.
Die burritos sind ganz einfach: eine Weizentortilla, die mit etwas Geschmortem gefüllt und eingerollt wird und schließlich die Form eines kleinen Zylinders hat – heiß und schmackhaft. Traditionellerweise werden burritos im Stehen auf der Straße gegessen, wie die Crêpes in Paris, aber sie werden auch in Restaurants und an Orten mit Sitzgelegenheiten serviert. In gewisser Weise stellen sie das Pendant zum französischen Baguette dar: Man kann sie irgendwo im Vorbeigehen auf der Straße kaufen und anschließend auf der Arbeit, im Park oder zu Hause verzehren. Sie sind eine komplette Mahlzeit und von ihrer Größe her kann ein erwachsener Mensch von zweien satt werden, auch wenn es junge Leute gibt, die bis zu fünf Stück verschlingen können und manch eine Frau nicht einmal einen schafft. In einer Stadt von Fleischessern wie Juárez sind die burros mit Fleisch gefüllt, normalerweise mit klein gehacktem Rindfleisch, das mit rotem oder grünem Chili angemacht ist. Natürlich gibt es sie auch mit Bohnen, Chili und Käse oder mit irgendetwas anderem Geschmortem, das die richtige Konsistenz hat, um damit eine Tortilla zu füllen. Da hier ebenso der Käses zuhause ist, werden aus den Tortillas auch quesadillas gemacht – tacos mit geschmolzenem Käse aus dem Norden, der als asadero bekannt ist und in Form von elastischen dünnen Scheiben in einem benachbarten Ort hergestellt wird.
Ciudad Juárez ist seit dem 19. Jahrhundert Anziehungspunkt für Zuwanderer. Ein allgemeiner Spruch besagt, dass jeder, der hier einmal burritos probiert hat, niemals wieder fortgehen kann. Das ist wohl wahr – denn während die Stadt im Jahre 1900 noch knapp 10 000 EinwohnerInnen zählte, so sind es mittlerweile über eine halbe Million, zum großen Teil ImmigrantInnen, die in der Tat dem Reiz der burritos erlegen zu sein scheinen. Heutzutage ist der Handel mit diesem Lebensmittel schon fast zu einem industriellen Zweig geworden. Burritos werden in den Tiefkühltruhen der Supermärkte verkauft und sind im restlichen Land immer beliebter geworden. Die Verkaufsstände in Juárez haben unterdessen ihr eigenes architektonisches Erscheinungsbild entwickelt. Sie sind eine Art Verkaufstheke unter freiem Himmel mit Sitzbänken, auf denen die KundInnen die Zubereitung ihrer Mahlzeit beobachten können. Es ist eine unverzichtbare Voraussetzung – wie bei den Crêpes –, dass die Tortillas von Hand und vor den Augen aller zubereitet werden. Auch wenn es bereits Maschinen für ihre Herstellung gibt, so erkennen und verschmähen die Juarenses die industriell hergestellten Tortillas sofort. An einem anderen Ort mag man sie vielleicht verzehren, aber nicht hier im Land der burrito-ExpertInnen.
Neben den traditionellen burritos gibt es in dieser Gegend von Fleischessern auch den Brauch, sich gemeinsam um ein Feuer zu versammeln und Fleisch zu grillen. Nichts Kompliziertes. Und genauso schlicht wie der Norden selbst: Das dünn geschnittene Fleisch wird auf die Glut geworfen, während sich die Umstehenden unterhalten und Bier trinken. Im Gegensatz zu den Weizentortillas handelt es sich hierbei um ein patriarchalisches Ritual – die Männer grillen das Fleisch. In der Nähe der Feuerstelle halten sich keine Frauen auf, genauso wenig helfen sie bei der Zubereitung. Sie setzen sich lediglich hin und warten darauf, von den Hohepriestern dieses Rituals bedient zu werden, die inmitten der lärmenden Unterhaltung auch Chilis grillen und Tortillas aufwärmen. Mit dem Geruch, der in die Höhe steigt, wird der Nachbarschaft signalisiert, dass hier ein Festschmaus stattfindet, bei dem massenweise Fleisch verspeist wird. Deshalb riecht die Stadt an den Wochenenden nach gegrilltem Fleisch und aus diesem Grund haben viele Häuser ihre eigenen Grills. Diesem Ritual kann sich niemand entziehen. Es gibt immer einen Anlass, um Fleisch auf den Grill zu legen.
In den cantinas ist das gegrillte Fleisch unterdessen zu einem Appetitanreger, einem Gratissnack für die Gäste geworden. Die kleinen, manchmal ein wenig angebrannten Stückchen Fleisch werden den trinkenden Gästen serviert, um sie zum weiteren Trinken zu animieren. Dabei durchdringen Bierdunst und der Duft von Fett, das auf die Glut tropft und einst einer Kuh entstammte, den Raum. Abgerundet wird dieses Bild von einem Verkäufer, der burritos in Warmhaltetaschen bei sich trägt – eine ideale Ergänzung, wenn der Alkohol anfängt, Wirkung zu zeigen.
Ciudad Juárez – das ist die Heimat der burritos, des gegrillten Fleischs, der Trockenheit und der Hitze, die dazu verleiten, literweise Bier oder aber im Winter auch Tequila zu trinken. Dies ist ein großzügiger Fleck Erde, von der Natur vielleicht nicht reich beschenkt, wo man sich jedoch zu helfen wusste und den größtmöglichen Nutzen aus der Wüste zog. Deshalb sollte man, wenn man Ciudad Juárez besucht, als erstes einen burrito an irgendeiner Ecke im Stehen essen. Alles andere kommt von alleine. Man sagt, die Leute würden bleiben und dann, wenn sie wie viele Hunderttausende dort leben, als nächstes einen Grill kaufen. Dann würden sie beginnen mit lauter Stimme zu sprechen, so wie man im Norden eben spricht, und die Grenzstadt – dieses alte Paso del Norte – weiter wachsen lassen.