Wunderbar kuriose Texte

Kaum jemand hierzulande kennt Julio Cortázar und sein Werk besser als Michi Strausfeld, die profunde Kennerin und Vermittlerin der lateinamerikanischen Literatur in Deutschland. Nicht verwunderlich also, dass sie jetzt „Unerwartete Nachrichten“ herausgibt, eine Auswahl von zum Teil bislang unbekannten Artikeln, Skizzen, Briefen und Erzählungen des Autors, und das fast ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen der gesammelten Erzählungen, der letzten deutschsprachigen Publikation mit Werken Cortázars. Der Großmeister des lateinamerikanischen Cuento, der tiefsinnige Romancier, der politisch engagierte Autor, Vorbild für unzählige jüngere Autor*innen, „der Argentinier, der es fertig brachte, dass alle ihn liebten“ (García Márquez) – er hatte diese Neuerscheinung mit seinen bislang unbekannten Texten längst verdient.

Strausfeld lernte Julio Cortázar Anfang der 1970er-Jahre kennen. Damals war dessen 1963 erschienener Roman „Rayuela“ bereits in vielen europäischen Sprachen erschienen, doch die deutsche Ausgabe ließ auf sich warten bis 1981. Zuvor erschienen mehrere seiner Erzählbände, etwa die „Geschichten der Cronopien und Famen“ (1965) oder das „Feuer aller Feuer“ (1976). In ihrer Literatur- und Rezeptionsgeschichte der lateinamerikanischen Literatur in Deutschland, „Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren“ (2019), zugleich Nachschlage- und Referenzwerk sowie ein sehr persönliches und höchst lesenswertes Erinnerungsbuch, schildert Strausfeld die quälende Geburt der deutschen Übersetzung von „Rayuela“. Sie berichtet auch über ihre Freundschaft zu Julio Cortázar, der 1914 in Brüssel geboren wurde, 1918 mit den Eltern nach Argentinien kam und seit 1951 im Exil in Paris lebte, wo er 1984 starb. Cortázar war ihr „ein wunderbarer, verlässlicher Freund, der Anteil am Alltag des anderen nahm“.

Im Nachwort der „Unerwarteten Nachrichten“ gibt Strausfeld detailliert Auskunft über die Herkunft der zusammengetragenen Texte. Die „Cronopien“, also jene „nassgrünen Dingerchen“, die sich seit 1951, als Cortázar ein Konzert im Pariser Théâtre des Champs-Elysées besuchte, „leitmotivisch durch seine Korrespondenz, seine Freundschaften, sein Werk“ ziehen, als „vitale Alter Egos des Autors“, kannte man schon seit Jahrzehnten. 25 Jahre nach dem Tod Cortázars tauchten jedoch in seinem Pariser Haus neue, nachgelassene Cuentos, Aufsätze, Briefe, kurze Texte, auch drei „Cronopios“ auf, die 2010 unter dem Titel „Papeles inesperados“ (Unerwartete Papiere) von seiner Ex-Frau und Nachlassverwalterin Aurora Bernárdez herausgegeben wurden. Jene bemerkenswerte Sammlung war damals ein verlegerisches Ereignis, bot sie den Leser*innen doch die Möglichkeit, durch diese liebenswerten, wunderbar kuriosen Texte einen ganz neuen Cortázar zu erleben. Erstaunlich, dass sie nicht früher auf Deutsch übersetzt wurde.

Aus den Texten dieser Sammlung sowie aus in Spanien und Lateinamerika publizierten Briefwechseln, Presseartikeln, Texten zu den Romanen „Rayuela“ und „Album für Manuel“ bediente sich Strausfeld bei der Zusammenstellung des Buches, das Christian Hansen, laut Verlag „einer der kenntnisreichsten Fans Cortázars“, vorzüglich ins Deutsche übersetzt hat. Wie das Gesamtwerk sind auch die „Unerwarteten Nachrichten“ vielseitig, unüberschaubar, anregend, manchmal heiter und ausgelassen, dann wieder anspruchsvoll, fantastisch, philosophisch.

Strausfeld bringt es im Nachwort auf den Punkt: „Julio Cortázar war und ist ein Kaleidoskop. Stets kamen und kommen neue Facetten zum Vorschein, sobald man mehr von ihm liest. Denn dieser Autor lässt sich in keine Schublade einordnen, entzieht sich jeder Klassifizierung.“ Da ist zunächst die „Erzählung mit Wasser im Hintergrund“ von 1941, die erstmals in den „Papeles inesperados“ erschien. Sie ist noch ganz in der Tradition der Erzählungen von Horacio Quiroga und Sigmund Freuds „Traumdeutung“ verhaftet. Der Protagonist sieht den Tod des Freundes durch Ertrinken im Fluss voraus, die Perspektive wechselt ständig zwischen Traum und Wirklichkeit. Der Kurztext „Theorie des Krebses“ bricht immer wieder ab, liest sich wie ein Lückentext, schildert die kreativen Mühen des Autors beim Schreiben, Streichen, Umschreiben. Auch die kurzen, heiteren Texte „Der Glaube in der Dritten Welt“ und „Beunruhigende Beobachtungen“ stammen aus den „Papeles inesperados“. Der erste wirkt religions- oder missionskritisch, Patres blasen den Indios irgendwo im Urwald ein Gotteshaus auf, das in sich zusammenfällt, als „ein indianischer Dreikäsehoch“ aus Langeweile mit einem Stück Eisen hineinsticht. Im zweiten lässt Cortázar sich über einen Krümel im Bett aus, der sich „schmerzhaft dort ins Fleisch bohrt, wo der Rücken den Namen ändert“.

In „Das Husten einer deutschen Dame“ geht es um die Aufnahme des 1947 in Berlin von Furtwängler dirigierten und von Yehudi Menuhin gespielten Violinkonzertes op. 61 D-Dur von Beethoven, der Cortázar 30 Jahre später im französischen Radio lauscht. Es geht ihm nicht um die Gründe, warum Menuhin so wunderbar spielte am Ort der Täter, wo vermutlich einige der „Mörder im Parkett saßen und ihm frenetisch applaudierten“. Vielmehr hebt er „einen einzelnen, trockenen, hellen Laut (hervor), der sich nicht wiederholen sollte, ein Frauenhusten, … das man aller Wahrscheinlichkeit nach als das Husten einer deutschen Dame wird bezeichnen dürfen“. Eine Brücke in die Gegenwart. Er fragt sich, lebt diese Frau noch, wo saß sie, wer war sie? Da sage noch einer, „das Wunderbare sei nichts als eine der Spielereien der Einbildungskraft“.

„Immer Gardel“, eine nostalgische Hommage an Carlos Gardel, den Tango und das Buenos Aires der 1930er-Jahre, entnahm Strausfeld der argentinischen Zeitschrift PROA (2010), „Das Gefühl des Fantastischen“, Cortázars letzte Hochschulvorlesung von 1982, fand sie im Internet. Der vorletzte Text der „Unerwarteten Nachrichten“, der erst 2012 in Barcelona erschien und bislang nicht in deutscher Übersetzung vorlag, heißt „Fahnenkorrektur in der Haute Provence“. Im Sommer 1972, gerade als ein palästinensisches Kommando im Münchner Olympischen Dorf Israelis ermordet und als Geiseln nimmt, erhält Julio Cortázar in seinem Sommerhaus in Saignon die Druckfahnen des Buches „Album für Manuel“. Er beschließt, sie fern der Stadt zu korrigieren und begibt sich mit seinem VW-Bus auf einen Roadtrip durch die Provence. Das Ergebnis der Reise ist dieses kleine Meisterwerk, bei dem es keineswegs nur um das korrigierte Buch geht, sondern vor allem auch um die ausschweifenden Überlegungen, die Cortázar auf rund 30 fesselnden Seiten anstellt.

Nach der Lektüre der „Unerwarteten Nachrichten“ versteht man Pablo Nerudas Diktum über seinen argentinischen Kollegen gleich viel besser: „Wer Cortázars Werke nicht liest, ist verloren. Sie nicht zu lesen ist eine schwere, schleichende Krankheit, die mit der Zeit ganz schreckliche Folgen haben kann.“