An der Zusammenkunft in „La Garrucha“ nahm praktisch die gesamte zapatistische Führungsriege teil. Auch dies sicher mit einem symbolischen und praktischen Aspekt: Immer wieder gestreuten Gerüchten über größere Meinungsverschiedenheiten und Spaltungstendenzen wurde so der Boden entzogen. Im Vorfeld der Vollversammlung gab es sechs Vorbereitungstreffen mit verschiedenen Gruppen der mexikanischen Gesellschaft – linke politische Organisationen, Indígenas, soziale Organisationen, NRO, Gruppen und Kollektive, Einzelpersonen – ebenfalls im zapatistischen Einflussgebiet. Sie dienten in oft endlos langen Sitzungen der Diskussion über die Sechste Erklärung aus dem Lakandonen-Urwald und der Ideensammlung für die „andere Kampagne“. Diese, so der von Subcomandante Marcos ausgedrückte Anspruch, soll Mexiko „von unten her duchschütteln, es auf den Kopf stellen“.
Wesentlicher Bestandteil der Kampagne werden zwei Rundreisen der EZLN durch alle 31 Bundesstaaten und die Hauptstadt sein. In der erste Etappe, die am 1. Januar 2006 in der chiapanekischen Stadt San Cristóbal beginnen und am 25. Juni mit einer Veranstaltung in Mexiko-Stadt enden soll, wird Subcomandante Marcos die zapatistische Delegation anführen. Die Reise fällt genau mit der heißen Phase des Parteien- und KandidatInnenwahlkampfes für die Parlaments- und Präsidentschaftwahlen im Juli 2006 zusammen. Eine bewusste Entscheidung der EZLN, einerseits die politische Konjunktur auszunutzen und sich andererseits von den Parteien in aller Deutlichkeit abzusetzen. Denn grundsätzlich wollen die ZapatistInnen eine Dauerkampagne ins Leben rufen. Teil davon ist eine zweite Rundreise unter anderer zapatistischer Führung, vorgesehen von September 2006 bis März 2007.
Mit ihrem Vorgehen in den zurückliegenden Wochen beschreitet die EZLN alte und neue Wege. Es fängt eine neue Etappe in ihrer inzwischen fast zwölfjährigen öffentlichen Aufstandsgeschichte an, die auf ihre Ausgangskonzepte zurückgreift. Eine neue Etappe, weil sich EZLN und zivile Basis knapp zwei Jahre lang auf den Aufbau von indigenen Selbstverwaltungsstrukturen in ihrem Einflussgebiet konzentrierten. Alle Kraft der Bewegung schien auf die Konsolidierung ihrer fünf autonomen Regionen und die ihnen vorstehenden „Räte der Guten Regierung“ im Bundesstaat Chiapas gerichtet. Zwar blieben die ZapatistInnen für viele Linke im In- und Ausland ein Referenzpunkt. Der Anspruch nationaler und internationaler Präsenz, der die Jahre zuvor bestimmend für die zapatistische Bewegung war, trat jedoch vergleichsweise in den Hintergrund. Dies ist nun wieder anders. Neben der ausführlichen Diskussion mit der mexikanischen Gesellschaft – ausdrücklich nicht mit der gesamten, sondern mit denen „von unten“ – ist ein internationales Treffen anvisiert, das an die von der EZLN initiierten sogenannten intergalaktischen Treffen gegen den Neoliberalismus aus den 90er Jahren anknüpft. Der Anspruch von anderer Kampagne und der „Sechsten“, wie die Sechste Erklärung aus dem Lakandonen-Urwald kurz genannt wird, geht wieder weit über die indigene Frage hinaus. Er umfasst nicht gerade wenig: Eine neue Verfassung, ein anderes Land, eine andere Welt.
Die ZapatistInnen selbst geben zu, mit ihrem erneuten Strategiewechsel ein hohes Risiko einzugehen. Die Versuche, ein landesweites großes außerparlamentarisches Linksbündnis zu schmieden, sind in ihrer Aufstandsgeschichte mehrfach gescheitert. Zu verschieden und sektiererisch waren die Positionen. Sie ließen dem Nationalen Demokratischen Konvent (CND) ebensowenig eine Chance wie später der Bewegung der Nationalen Befreiung (MLN). Nur das 1996 gegründete Zapatistische Bündnis der Nationalen Befreiung (FZLN) überlebte bis heute als Organisation, aber ohne die angestrebte Massenbasis. Es ist noch nicht abzusehen, wie dies diesmal gelingen soll. Andererseits dürften viele dem Anthropologen und Ex-Politiker Gilberto López y Rivas zustimmen, der trotz der nicht durchschlagenden Vorläufer meint: „Zweifellos ist es eine Tatsache, dass der Neozapatismus die einzige nationale Organisation mit der moralischen Autorität und einer fähigen Politik ist, zu einer Herausforderung vom Ausmaß der anderen Kampagne aufzurufen.“
Die „andere Kampagne“ ist bisher auf gute Resonanz gestoßen. Und sie hat unter der mexikanischen Linken – oder denen, die sich zu ihr zählen – eine zum Teil sehr intensive Diskussion ausgelöst. Dabei ist interessant, dass bestimmte zapatistische Positionen auch von denjenigen kritisiert werden, deren grundsätzliche Sympathie für die Bewegung außer Zweifel steht. In diesem Umfang kam das früher nicht vor, kann aber für eine andere Kampagne, die das „Zuhören“ zu einem wesentlichen Bestandteil macht, sehr belebend sein. Auf der anderen Seite kam es auf einem der Vorbereitungstreffen beispielsweise auch zu einer überraschenden Selbstkritik der ZapatistInnen. Die EZLN, die die Gleichberechtigung der Frauen auf ihre Fahnen geschrieben hat, entschuldigte sich bei mehreren feministischen Gruppen dafür, ihnen die Arbeit in ihrem Einflussgebiet verboten zu haben und nahm diesen Beschluss zurück.
Die meiste Kritik richtet sich aber an zwei anderen Punkten aus. So fehlt manchen der theoretische Unterbau für die Umsetzung der zapatistischen Ideen. Denn wie sollen ein anderes Land und eine andere Welt aussehen, wenn nach wie vor nicht einmal theoretisch eine Machtübernahme in Erwägung gezogen wird, alle traditionellen Strukturen der politischen Parteien auf Ablehnung stoßen, Kontakte zu diesen Strukturen nicht vorgesehen sind und die Machtverhältnisse einfach nicht so daher kommen, dass das auf Ebene der autonomen zapatistischen Landkreise offenbar gut funktionierende „gehorchende Regieren“ als landesweites Modell Chancen auf eine Realisierung in absehbarer Zukunft hätte. Und wie sollen eine „wahre Linke“, ein wahres antikapitalistisches Modell aussehen? Noch geben die Diskussionen und Vorbereitungstreffen der vergangenen Wochen dazu nur sehr ungeordnete Hinweise. Marcos spricht davon, die erste Etappe gehe „auf etwas anderes zu, eine noch nicht definierte neue, kollektive Identität, eine andere Sache“. Dieser Diskurs ist nicht neu und verlangt schon Geduld und langfristige Perspektiven. Dies haben die ZapatistInnen auch stets betont.
Die zweite Kritik bezieht sich auf die immer wieder durchbrechende Fixierung der EZLN auf die Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und ihren Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador (vgl. auch ila 288, S.18), die immer wieder heftig attackiert werden. Wenn die andere Kampagne zwar die Wahlkonjunktur ausnutzen will, gleichzeitig aber etwas von Parteistrukturen völlig unterschiedliches aufbauen will, warum verschwendet sie so viele Energien auf die je nach Lesart linksmoderate oder sozialdemokratische PRD und ihren populären Kandidaten? Die EZLN vergleicht den Wahlkampf sicher nicht zu unrecht mit einer “Fernsehverkaufsveranstaltung”, die von “tiefer Verachtung für die Menschen” geprägt ist. Aber sie ruft andererseits bisher nicht zum Wahlboykott auf. Ob die amtierende konservative PAN oder die das Land bis 2000 über 70 Jahre regierende PRI die bessere Regierungsoption sind, ist zumindest fraglich. Die inhaltliche Kritik der Zapatisten an der PRD und ihrem Kandidaten wird von vielen geteilt. Und sollte AMLO, wie er genannt wird, tatsächlich die Wahlen gewinnen, wird es als Verdienst der EZLN angesehen werden, den Blick für seine Defizite unbarmherzig geschärft und einer Enttäuschung à la Lula vorgebeugt zu haben, weil die Erwartungshaltung eine ganz andere ist. Was viele nicht akzptieren wollen, ist die zumindest indirekte Schmähung derjenigen, die an der Basis „aufrichtige politische Bigamie“ betreiben, wie es der Kommentarist Guillermo Almeyra jüngst ironisch nannte. Es gibt eine Menge Menschen, die die ZapatistInnen unterstützen und gleichzeitig dem PRD-Kandidaten ihre Stimme geben wollen. Almeyra warnt davor, ein politisches Reinheitszeugnis ausstellen zu wollen. Es dürfe nicht dazu kommen, dass im Zentrum der anderen Kampagne der Kampf gegen eine bestimmte Kandidatur stehe, sondern die unabhängige Selbstorganisation.