Der Zuckerrohranbau in Nicaragua boomt und die Anbauflächen werden jährlich ausgedehnt. Sowohl auf den Ländereien der Familie Pellas, rund um den Zuckerrohrbetrieb San Antonio bei Chichigalpa, als auch auf den Ländereien der guatemaltekischen Verarbeitungsanlage Sta. Rosa (Grupo Pantaleón) bei El Viejo schlagen Tausende von SaisonarbeiterInnen im Akkord Zuckerrohr. Heute dient es verstärkt als Ausgangsstoff zur Produktion von Bioethanol.

Im Erntezyklus 2009/2010 wurden 850 000 Liter des Treibstoffs pro Tag produziert. Davon sollen nach Angaben von Álvaro Martínez, Handelsdirektor von Nicaragua Sugar Ltd., 80 Millionen Liter in die EU exportiert werden. Mitentscheidend für die steigende Produktion ist die Beimischungsregelung der EU von sogenannten Biokraftstoffen, die aus verschiedenen Agrarprodukten erzeugt werden. Das Zuckerrohr spielt hierbei eine wichtige Rolle, obwohl umstritten ist, wie seine Energieeffizienz einzuschätzen ist. Auch wenn die Produktion Nicaraguas im Vergleich zu Brasilien und Mexiko gering ist, hat sie für das Land doch eine wichtige volkswirtschaftliche Bedeutung. Mit 35 000 Beschäftigten und einem Exportvolumen in Höhe von 80 Mio. Dollar ist die zuckerrohrverarbeitende Industrie in der heißen Pazifikregion der wichtigste und nicht zu ersetzende Arbeitgeber. 

Diese Bedeutung wird teuer erkauft. So drängt der Energiehunger der „entwickelten“ Welt die Grundnahrungsmittelproduktion im globalen Süden zunehmend zurück. Zudem belasten die Anbaumethoden Böden und Grundwasser, Tausende von Arbeitern und Teile der lokalen Bevölkerung leiden an den gesundheitlichen Folgen. An erster Stelle steht die chronische Niereninsuffizienz IRC (Insuficiencia Renal Crónica).

Die Konzentration der Todesfälle in den Regionen León und Chinandega, die zu den Hauptanbaugebieten Nicaraguas zählen, lässt auch nach einer Studie der Boston University School of Public Health 2009 den Schluss zu, dass die Methoden des Zuckerrohranbaus und das verunreinigte Grundwasser dafür mitverantwortlich sind. 

Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache:

• Die Organisation der Opfer ANAIRC spricht von bislang 3500 Todesfällen und 8000 Erkrankten in der Region.
• Die Sterblichkeitsrate mit Ursache Nierenversagen in der Region ist zehnmal so hoch wie im Vergleich zu anderen landwirtschaftlich geprägten Regionen Nicaraguas.
• Auch junge Menschen ohne typische Risikofaktoren und Vorerkrankungen erkranken an IRC.
• In der Klinik El Viejo steht IRC an erster Stelle der erfassten Todesfälle mit sechs bis zehn Toten pro Monat.

Insbesondere der jahrelange Einsatz von Pestiziden, so zum Beispiel von Toxaphen und des auf der Schwarzen Liste stehenden Atrazin, sowie ungenügende Schutzmaßnahmen werden von den Geschädigten für die Erkrankungen verantwortlich gemacht. Die Trinkwasserversorgung der Arbeiter und ihrer Familien mittels einfacher Brunnen inmitten der belasteten Anbauflächen dürfte eine weitere Ursache der Erkrankungen sein.

Die betriebseigenen Labore überprüfen die Blutwerte der Arbeiter inzwischen regelmäßig. Werden erhöhte Werte festgestellt, die eine chronische Schädigung der Niere anzeigen können, so wird der Mitarbeiter entlassen. Durch die sich anschließende prekäre ökonomische Situation der Familien und die kaum zu behandelnde Erkrankung selbst entsteht für die Betroffenen eine alptraumhafte Situation, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Da die Erkrankung meist in einem fortgeschrittenen Stadium festgestellt wird, ist eine Heilung in der Regel ausgeschlossen. Dialyse und Transplantation sind vom lokalen Gesundheitssystem nicht realisierbar. Selbst eine Linderung durch Medikamente ist nur schwer finanzierbar, auch wenn die aktuelle Regierung Ortega den Zugang zur Behandlung erleichtert hat.

Die Situation für die erkrankten und entlassenen Arbeiter und ihre Familien ist bedrückend. Zwei Verbände haben sich gegründet: Die Entlassenen des Betriebes Sta. Rosa schlossen sich in der ASTRAIRC zusammen, die des ingenio San Antonio in der ANAIRC. (weiter auf Seite 54)
Nachdem Hunderte der früheren Zuckerrohrarbeiter über ein Jahr in Managua in einem Lager ganz in der Nähe der Kathedrale und der Nationalversammlung kampierten, sind inzwischen etliche der Protestierer während ihres Aufenthalts im Lager gestorben. Ein Großteil musste aufgrund der Schwere ihrer Krankheit nach Hause zurückkehren und wartet dort auf den schleichenden Tod.

Das Jahr 2010 begann mit der Erneuerung der Forderung nach einem Dialog mit der Nicaraguanischen Zuckerbesitz Ltd. (NSEL). Die Betroffenen fordern eine Entschädigung für ihre Krankheit. Die Unternehmen setzen den protestierenden Arbeitern auf unterschiedliche Weise zu und versuchte deren Organisation unglaubwürdig zu machen. So berichten inzwischen gleich ein Dutzend Internetseiten und Foren über die angeblichen „Wahrheiten der chronischen Niereninsuffizienz“. Gelbe Betriebsgewerkschaften werden benutzt, um die Entlassenen zu diskreditieren. Die monatlichen Lebensmittelpakete an 1800 ehemalige erkrankte Mitarbeiter werden nicht als Entschädigung, schon gar nicht als Schuldeingeständnis gesehen. 

In seinen Kampagnen bestreitet das Konsortium alle Vorwürfe und präsentiert sich als Vorzeigebetrieb, der nahezu ausschließlich biologische Schädlingsbekämpfung betreibe. In der Zwischenzeit hat sich das nicaraguanische Parlament mit dem Skandal beschäftigt und die Arbeitsschutzgesetzgebung für die in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeiter verschärft. Gemäß dem Gesetz 456 wurde IRC als Berufskrankheit zwar anerkannt, allerdings als eine „mit vielfältigen Ursachen“. Eine Formulierung, die Entschädigungsforderungen gegen die Familie Pellas, eine der reichsten und einflussreichsten Unternehmerfamilien in Nicaragua, erschweren dürfte.

Vor diesem Hintergrund scheint die derzeitige Diskussion um die „Biokraftstoffrichtlinie der EU“ und deren Umsetzung in die sogenannte Biokraftstoffquote der Bundesrepublik Deutschland doch sehr verkürzt. Während der Agrotreibstoff bei uns in Punkto seiner Verträglichkeit für Ottomotoren diskutiert wird, sterben in Nicaragua die Menschen an den Folgen der Herstellung. Hierzulande nehmen davon weder der Gesetzgeber noch die VerbraucherInnen Kenntnis. So kann ab 2011 Benzin mit bis zu zehn Prozent Bioethanol angeboten werden. Die Ergänzung der Zertifizierungsrichtlinien der EU für den Import sind mehr als überfällig. Die Formulierung sozialer und umweltrechtlicher Kriterien, die Landgrabbing ausschließen und tödliche Produktionsformen verhindern, stehen auf der politischen Agenda!