Uwe Bennholdt-Thomsen, Schriftsteller und nebenbei Redaktionsmitglied der ila, liebt Mexiko, vor allem dessen südlichen Bundesstaat Oaxaca. So ist es kein Zufall, dass er die Handlung seines ersten Romans „Wenn Bolivar weinen könnte“ dort angesiedelt hat. Im Ort Santa María in der Urwaldregion zwischen Oaxaca und Chiapas entfaltet er ein Panorama des Lebens und der Konflikte in dieser Region und reflektiert die Rolle europäischer Aussteiger, die dort anders und besser leben wollen.
Die wichtigsten ProtagonistInnen der Geschichte, die irgendwann in den siebziger Jahren spielt, sind der deutsche Einwanderer Jorge, Juanita, die ein kleines privates Restaurant im Ort betreibt, der lokale Kazike Don Pedro und der Indígena Carlos, ein Mitarbeiter und Vertrauter Jorges. Zwischen diesen vier Persönlichkeiten besteht ein kompliziertes Beziehungsgeflecht, das von gegenseitiger Achtung und Zuneigung, aber auch von Misstrauen und Unverständnis geprägt ist.
Der Zeitraum der Kernhandlung des Buches umfasst nicht einmal 48 Stunden. Doch über Rückblenden erfahren wir die Vorgeschichte der einzelnen Personen. Jorge hatte als blutjunger Kadett an Bord eines U-Bootes den 2. Weltkrieg mitgemacht. Seine Kriegserfahrungen und –traumata sowie seine skeptische Grundhaltung ließen ihn in der jungen Bundesrepublik keinen Fuß fassen. Das Verdrängen der faschistischen Gräuel und die Ärmel-hoch-Mentalität der Wirtschaftswunderzeit stießen ihn ab. Seine Antwort blieb jedoch individuell: Er wanderte aus, kam nach Mexiko und schließlich in den Süden Oaxacas, wo er mit einigen Angestellten etwas Land bewirtschaftet und Viehzucht betreibt. Als an Organisation und Planung gewohnter Deutscher hält er die Wirtschaftsweise der DorfbewohnerInnen für individualistisch und lethargisch und wirft ihnen vor, Überschwemmungen und Bodenerosion als gegeben hinzunehmen. Er möchte, dass die Leute sich organisieren und durch den gemeinsamen Bau von Kanälen und Wasserspeichern ein System zur Be- und Entwässerung und der Energieerzeugung errichten. Doch die Reaktionen auf seine Vorschläge sind verhalten, die Leute misstrauen dem Fremden. Selbst seine engsten Bezugspersonen Juanita und Carlos wollen ihm nicht ohne weiteres folgen. Carlos, der zwar des Spanischen nur beschränkt mächtig ist, aber sehr viel von den Menschen und der Natur versteht, kommentiert Jorges Agitation der Dorfautoritäten ironisch, er sei ein großer Vogel, der den Fröschen predige und dann böse sei, wenn sie nicht fliegen könnten.
Juanita hat eine Beziehung und einen gemeinsamen Sohn mit Jorge, möchte aber nicht seine Frau und von ihm abhängig sein. Sie hegt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber seinen Initiativen, nicht weil sie die Projekte für falsch hielte, sondern weil sie dahinter eine kolonialistische Mentalität sieht. „Hier kommen immer Leute her und wollen uns helfen, erklären, wie wir alles machen sollen. Gibt es das bei euch auch, dass Leute von anderen Kontinenten kommen und euch sagen, was ihr anbauen und wie ihr leben sollt? – Warum bist du nicht dageblieben, um das wiederaufzubauen, was du zerstört hast?“ Sie wirft ihm vor, die Leute in Santa María zu Objekten seiner Ideen zu machen: „Warum schafft ihr euch eure Träume immer in anderen? Warum wisst ihr immer besser, wie die Welt zu retten ist? Wer hat sie denn dazu gemacht? So rettungslos? Warum könnt ihr euch nur beweisen, indem ihr erschafft? Wer gibt euch das Recht, euch in den anderen und auf ihre Kosten zu verwirklichen?“
Doch Jorge ist nicht der einzige, der in Santa María etwas verändern möchte. Auch der reiche Holzhändler Don Pedro hat Pläne. Er war einst der Geschäftspartner von Juanitas Vater und hatte immer ein Auge auf die attraktive selbstbewusste Frau geworfen. Er möchte in Santa Maria ein Sägewerk bauen und den Holzreichtum der Selva ausbeuten. Er schätzt die Tatkraft Jorges und würde ihn gerne als Bündnispartner gewinnen. Darüber hinaus mag er den Deutschen aber nicht besonders, sowohl wegen dessen Ideen, als auch wegen seiner Beziehung zu Juanita. Letztlich stehen sich mit Jorge und Don Pedro zwei Alphatiere gegenüber, die die Vorherrschaft im Ort anstreben. Für beide ist Santa María zu klein. Auf einer Gemeindeversammlung und einem anschließenden Hochzeitsfest kommt es schließlich zum Showdown. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.
Uwe hat sich mit seinem zwischen 1989 und 1991 entstandenen Buch auf schwieriges Terrain begeben, in dem viele Gefahren lauern. Da wäre zunächst die Versuchung, deutschen LeserInnen in einem Roman Mexiko erklären zu wollen. Dann die Gefahr, den weißen Europäer platt als verkappten Kolonialisten (oder gar als „guten Kolonialisten“, die nach Sartre die schlimmsten sind) darzustellen und umgekehrt die mexikanischen ProtagonistInnen positiv zu diskriminieren. Uwe hat sich diesen Herausforderungen gestellt und es meines Erachtens geschafft, die Personen lebensecht, das heißt differenziert mit zahlreichen Grautönen zu zeichnen. Lediglich die Figur des Carlos ist für meinen Geschmack etwas zu edel und weise geraten. Etwas über die Region zu vermitteln, über die man schreibt, sollte nicht das Hauptanliegen eines Romans sein, es schadet aber überhaupt nichts, wenn er das auch leistet. Im Gegenteil! „Wenn Bolivar weinen könnte“ ist da höchst aufschlussreich, etwa um die Konflikte zu verstehen, die in den letzten Jahren in Oaxaca ausgetragen werden. Übrigens, Bolivar ist nicht etwa der gleichnamige Liberador, sondern ein blindes weißes Pferd.
Uwe Bennholdt-Thomsen: Wenn Bolivar weinen könnte, Kulturinitiative „Theater Deutzer Freiheit“, ISBN 9783939272083, Köln 2010, 211 Seiten, 14,90 Euro; im Internet zu beziehen über www.syntropia.de