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Zeit, die Alarmglocke zu schlagen

Interview mit Reinel García Martínez, Direktor der kolumbianischen Kinderrechtsorganisation Creciendo Unidos

Du bist augenblicklich auf Rundreise in Deutschland. Welche Anliegen vertrittst du?

Ich wurde von „Brot für die Welt“ eingeladen und habe versucht, bei Veranstaltungen und Begegnungen die Probleme, aber auch die Alternativen vorzustellen, die meine und andere Organisationen in Kolumbien für arbeitende Kinder und für Kinder, die vom Krieg betroffen sind, anbieten. Ich bin auch auf Verletzungen der Kinderrechte und die Politik des Staates für Kinder eingegangen. 

Deine Organisation, Creciendo Unidos („Gemeinsam wachsen“), kümmert sich vor allem um arbeitende Kinder. Gibt es Kinder unter sechs Jahren, die arbeiten müssen? 

Natürlich, es gibt vierjährige Kinder, die auf der Straße arbeiten. Viele Kinder begleiten ihre Mütter, die auf der Straße arbeiten. Wenn sie keine andere Möglichkeit finden, müssen sie ihre Kinder mitnehmen, auch ganz kleine Kinder und Säuglinge. Die Kinder sagen manchmal: „Wir helfen den Großen bei der Arbeit!“ 

Was tun sie konkret?

Sie verrichten Tätigkeiten, die zum Überleben der Familie beitragen, meist in der informellen Ökonomie, zum Beispiel im Straßenverkauf. Die größte Zahl der Kinder findet man auf den Marktplätzen. Sie verkaufen Obst und Gemüse oder Süßigkeiten und Zigaretten. Häufig stehen Mütter mit ihren Kindern an den Ampeln und verkaufen Musik-CDs oder Film-DVDs. 

Auch mit ganz kleinen Kindern?

Ja, oft bleiben die Kleinen auf dem Bürgersteig zurück, während die Mütter ihr Glück mit dem Verkauf versuchen. Diese Frauen sind in einer schwierigen Situation. Die Behörden drohen ihnen oft an, ihnen die Kinder wegzunehmen, wenn sie weiter mit ihnen auf der Straße arbeiten. Es gibt Fälle, in denen das geschehen ist. Die zuständige Familienbehörde, das Instituto Colombiano de Bienestar Familiar, ICBF, hat Müttern die Kinder weggenommen und sie zur Adoption freigegeben. Es ist wirklich schade, dass Politik und Gesetze für Kinder und Mütter oft abträglich sind. Der Staat greift repressiv ein, bietet aber keine Alternativen an. Einrichtungen für Klein- und Vorschulkinder müssten her, die einerseits Schutz für die Kinder sind, aber auch den Müttern helfen, die arbeiten gehen und folglich ihre Kinder unterbringen müssen! 

Welche Möglichkeiten hat denn eine Mutter in einem Armenviertel in Bogotá, ihre Kinder im Vorschulalter unterzubringen? Viele Frauen arbeiten ja weit weg in anderen Stadtteilen.

Eine Möglichkeit ist ein öffentlicher Kindergarten, inklusive der sog. Hobis, der Familienhorte der Madres Comunitarias. Aber die haben zu wenige Plätze. (Vgl. Beitrag in diesem Heft) Dann gibt es die Option, einen privaten Kindergarten zu bezahlen. Dafür muss eine Mutter circa die Hälfte ihrer Tageseinkünfte investieren. Dann bleibt noch die Möglichkeit, die Kinder zu Hause zu lassen und sie einzuschließen. Oder die Kinder halten sich draußen auf. Das hat in den Armenvierteln stark zugenommen. Die Kinder sind den ganzen Tag auf der Straße, bis ihre Mütter wiederkommen, auch wenn das sehr spät am Abend ist. 

Welche Rolle spielt die Familie? Oft passen doch auch die älteren Geschwister, vor allem die Mädchen, auf die Kleineren auf. 

Ja, das kann auch der Fall sein. Aber in Bogotá leben viele Familien, die vertrieben wurden, also Binnenflüchtlinge sind. Sie haben meist keine Angehörigen in der Stadt. Vom Land kommt nur die Kernfamilie. Vertreibung und unfreiwillige Zuwanderung haben in den letzten Jahren sehr zugenommen. Die meisten der vier Millionen Binnenflüchtlinge sind Frauen und Kinder. Die Kinder sind von dieser Situation am meisten betroffen.

Diese neue Zuwanderergeneration kann sich also nicht mehr auf ein familiäres Netz für die Kinderbetreuung stützen?

Ja, das ist stark zurückgegangen. Eine Flucht ist ja nicht geplant, die Menschen müssen von einem Moment auf den anderen weg, wenn sie bedroht werden. Wenn sie es nicht tun, verlieren sie ihr Leben. Dieses abrupte Weggehen bedingt ihre Situation in der Stadt. Sie kommen in eine Stadt, die ihnen nichts anbietet. Ganz im Gegenteil, sie werden mit Gleichgültigkeit gestraft und ausgegrenzt, nach dem Motto: Was wollen die denn hier?! Sie gehören nicht hierher! In einigen Armenvierteln gab es sogar öffentliche Proteste, weil Leute aus anderen Landesteilen zugezogen sind. Das ist auch Ausdruck des Rechtsrucks im Land. Die Diskriminierung und Ablehnung betrifft auch die Kinder. Sie fühlen sich nicht zur Stadt zugehörig, also integrieren sie sich kaum. Da die Stadt sie nicht gut aufnimmt, sehnen sie sich nach dem Land zurück, wo sie glücklicher waren. 

Was wird für ihre Betreuung und Integration getan? 

Im Allgemeinen gibt es in den Armenvierteln nicht genug Plätze für vertriebene Kinder, es handelt sich ja auch um kinderreiche Familien. Nur wenige Kinder sind in staatlichen Programmen. Dazu kommt, dass manche Familien Angst haben, zu sagen, dass sie Binnenflüchtlinge sind, sie fühlen sich auch an dem neuen Ort nicht sicher. Deshalb bleiben sie weiter anonym und melden sich nicht bei staatlichen Einrichtungen. 

Also gibt es keine Betreuung für diese Kinder, die oft extrem traumatisiert sind und in sehr frühem Alter Schlimmes erlebt haben? 

Was die psychosoziale Betreuung und eine integrale Förderung dieser Gruppe von Kindern angeht, ist der Staat nicht präsent. Einige private Organisationen arbeiten auf diesem Gebiet.

Die Flüchtlingskinder kommen aus sehr armen Familien, bedingt durch ihre Situation wird häufig Gewalt reproduziert. Landen auch Kinder auf der Straße?

Ja. Es kommt auch vor, dass sie sich kriminellen Zirkeln anschließen, sie müssen ja irgendwie durchkommen. Sie schließen sich zu Gruppen zusammen, um zu stehlen oder jemanden zu überfallen. Die Kinder sind manchmal noch sehr klein. Bei den Programmen von Creciendo Unidos haben wir Jungs mit elf Jahren, die Anführer einer Bande waren. Es liegt doch auf der Hand: Gerade was die frühe Kindheit betrifft, müsste der Staat für eine integrale Betreuung sorgen. Denn was passiert mit diesen Kindern, wenn sie älter werden? Die Betreuung und Versorgung im frühkindlichen Alter spiegelt das Gesicht des Staates wider. 

Tut der Staat denn etwas für die Kinder der Mittelschicht? 

Falls möglich, schickt die Mittelschicht ihre Kinder nicht in die öffentlichen Krippen oder Kitas, da gibt es Vorbehalte. Die Familien haben Angst, dass ihre Kleinen dort schlechten Einflüssen ausgesetzt sein könnten. Es gibt unglaublich viele private Kindergärten. Die sind ziemlich teuer, auch für die mittelständischen Familien ist die Versorgung der Kleinen kostspielig. Bildung ist in Kolumbien eine Geschichte der Privilegierten. 

Und was macht die Oberschicht?

Die hat auch ihre Kindergärten, die sehr gut ausgestattet sind. Aber auch hier sind die Kosten sehr hoch. Es gibt eine Kommerzialisierung, einen Markt der Kinderbetreuung. Klar, viele Leute gehen auch in den privaten Bildungsbereich, weil er eine Einkommensquelle ist und immer Bedarf besteht.

Alle Kinder aus den mittleren und oberen Schichten besuchen einen Kindergarten? 

Nein, es kann auch sein, dass die Kinder zu Hause bleiben. Die Kindergartenbeiträge sind hoch und auch der Mittelstand ist von Krise und Arbeitslosigkeit betroffen. Familien stellen häufig junge Mädchen als Hausangestellte an. Das Wichtigste dabei ist, dass sie auf die Kleinkinder aufpassen. Vor einigen Jahren hat das Kinderhilfswerk Save the Children in einer Studie herausgefunden, dass zwischen 300 000 und 400 000 Mädchen von neun bis 14 Jahren bei Familien arbeiten, und das unter prekären Bedingungen. 

Werden in den Armenvierteln die Kinder auch gegen Vergütung bei einer Nachbarin gelassen?

Ja, sehr häufig, in Bogotá hat das zugenommen. Die Frauen verdienen zwar nicht viel, aber wenn sie vier oder fünf Kinder am Tag betreuen und für jedes Kind ein oder zwei Euro gezahlt werden, leben die Familien davon. Viele Frauen verdienen mit Kinderhüten ihr Geld, auch wenn sie dafür nicht ausgebildet sind. Im letzten Jahr wurden in Bogotá viele Fälle von sexuellem Missbrauch oder von Unfällen in diesem Zusammenhang bekannt. Die Mütter, die arbeiten gehen müssen, lassen ihre Kleinen manchmal bei Leuten, die sie nicht gut genug kennen. Das läuft informell und fast geheim, oft gibt es gar keinen Hinweis darauf. Manchmal ist es aber in den Armenvierteln an einer Tür oder einem Fenster angeschrieben: „Hier werden Kinder gehütet.“ Die Kleinen bekommen etwas zu essen und sind aufgehoben, dafür zahlen die Mütter. 

Was passiert mit den Kindern von null bis zwei Jahren?

Das ist die Gruppe von Kindern, die am wenigsten versorgt und betreut wird, auch die Gruppe, die am wenigsten geschützt ist. In dieser Altersstufe ist die Situation noch kritischer als bei den Vorschulkindern. Hier treten die größten Ernährungs-, Gesundheits- und Betreuungsprobleme auf. 

Gibt es nicht ein Programm der Familienbehörde namens FAMI für die ganz Kleinen?

Es gibt einige öffentliche Kinderkrippen mit so genannten Madres Gestantes, „Ziehmüttern“, aber bei weitem nicht genug für alle bedürftigen Kinder in diesem Alter. Wir arbeiten zum Beispiel in einem Viertel, in dem es über 200 vertriebene Familien und keine einzige Krippe oder Hort gibt. 

In Kolumbien ist ein obligatorisches Vorschuljahr gesetzlich vorgeschrieben. Wie wird das erfüllt? 

Es gibt eine offizielle Aufteilung in drei Phasen: pre-jardín, „Vor-Kindergarten“ (vorgesehen für Dreijährige – d. Red.); jardín, „Kindergarten“ (für Vierjährige), und transición, „Übergang zur Grundschule“ (für Fünfjährige; dies ist obligatorisch – d. Red.). Wie gesagt sind die öffentlichen Angebote sehr spärlich. In einem Armenviertel gibt es vielleicht einen einzigen öffentlichen Kindergarten, konkret zwischen 80 und 120 Plätze. Die Eltern müssen sich oft ein Jahr vorher einschreiben, um eventuell einen Platz für ihr Kind zu bekommen. Viele Familien müssen deshalb private Dienste in Anspruch nehmen. Auch wenn von einem obligatorischen Vorschuljahr gesprochen wird: Es handelt sich um wenige Kindergärten für viele Kinder. All das stellt die öffentliche Politik für Kinder im Vorschulalter in Frage. Es gibt eine Politik, aber ohne wirkliche Investitionen. 

Was macht eure Organisation, um die Kinder im Vorschulalter zu unterstützen?

Wir entwickeln gerade ein Programm, das wir Pre-NATS nennen. (NATs, Niños y Adolescentes Trabajadores, ist eine Abkürzung für arbeitende Kinder und Jugendliche, Pre-NATs also eine Vorstufe. – d. Red.). Welche Aktionen unternehmen wir? Vor allem setzen wir auf Spielen und Sport, aber auch auf den Gesundheits- und Ernährungsaspekt. 
Die Kinder leiden häufig an Unter- oder Mangelernährung. Sie haben auch Probleme, weil sie in einer so kontaminierten Stadt wie Bogotá dauernd auf der Straße sind. Das führt unweigerlich zu Atemwegserkrankungen. Integrale Programme sind ziemlich teuer, deshalb konnten wir bisher nur punktuelle Aktionen unternehmen. Wir gehen direkt an die Orte, wo die Mütter arbeiten, reden mit ihnen, nehmen ihre Kinder zwei oder drei Stunden mit und bringen sie dann wieder zurück. Das machen wir einige Tage in der Woche und bieten den Kindern eine Grundversorgung an. Natürlich müsste das eigentlich der Staat leisten. Aber die Sozialbehörden klagen dauernd über Mittelkürzungen. Die Familienbehörde finanziert sich über Unternehmensabgaben. Wegen der Wirtschaftskrise reduzieren sich voraussichtlich diese obligatorischen Abgaben. Das bedeutet, dass Betreuungsprogramme noch weiter schrumpfen oder sogar eingestellt werden. 

Das ist tragisch! 

Ja, das Panorama für die primera infancia, die frühe Kindheit, ist düster. Ich möchte aber noch über einen anderen Aspekt sprechen, der manchmal vergessen wird, nämlich über die Situation der Mütter, die ohne staatliche Unterstützung für ihre Kinder aufkommen müssen. Viele sind schon während der Schwangerschaft in einer sehr schwierigen Lage. Mütter und Kinder haben keine adäquate Versorgung. In einigen Landesteilen, in Departements wie Chocó und Cauca, gehört die Mütter- und Kindersterblichkeitsrate zu den höchsten in Lateinamerika. Wichtig ist auch, das Problem der jugendlichen Mütter im Blick zu haben. Ihre Zahl ist sprunghaft gestiegen – Mädchen, die schon mit 13 oder 14 Jahren Mütter werden. Eigentlich sind sie selbst noch Kinder und ziehen schon Kinder auf. Auch UNICEF hat sich besorgt gezeigt, dass in den großen Städten Kolumbiens schon sehr junge Frauen Mütter werden. Häufig wurden sie sexuell missbraucht, haben Probleme während der Schwangerschaft und bei der Geburt. Ihre Betreuung lässt zu wünschen übrig. 

Sind diese jugendlichen Mütter Alleinerziehende?

Ja, in vielen Fällen. Und häufig arbeiten sie auf der Straße, in der informellen Ökonomie. Aber es gibt auch jugendliche Mütter, die auf der Straße leben. Ich kenne mehrere Fälle. Das ist sehr kompliziert, weil sie viel Verfolgung erfahren. Ihnen werden die Kinder gegen ihren Willen weggenommen, was zu großen Ressentiments führt. Man spürt viel Hass, wenn man mit diesen Frauen redet. Eben wegen der Gewalt, die sie erleben, und weil sie nicht konsultiert wurden, als man ihnen die Kinder wegnahm. 

Diese jugendlichen Frauen und Mütter erfahren nur Gewalt? 

Die Betreuung, die angeboten wird, ist immer von Druck und Angst begleitet. Sie bekommen zu hören: „Wenn du auf der Straße lebst und schwanger wirst, holt die Familienbehörde das Kind!“ Aber vereinzelt gibt es auch Unterstützung von NRO und kirchlichen Organisationen. 

Bogotá hat in den letzten zwei Regierungsperioden linke Bürgermeister gehabt. Hat sich dadurch etwas verändert? 

In Bezug auf die frühe Kindheit nicht so sehr. Egal ob links oder rechts, Kinder haben bei sozialen Investitionen keine Priorität. In Bogotá gab es einige Fortschritte im Bildungsbereich, aber in der Primar- und Sekundarstufe. Die Schulinfrastruktur wurde verbessert. Im frühkindlichen Bereich gab es keine Pilotprogramme und entsprechende Zuweisung von Haushaltsmitteln. Wir brauchen integrale Programme, die über einzelne Hilfsleistungen hinausgehen und in eine pädagogische Strategie eingebettet sind. Für die Kinder unter fünf Jahren muss man wirklich die Alarmglocke schlagen!