Die Proteste gegen das herrschende Modell in Politik und Wirtschaft haben seit Laura Chinchillas Regierungsübernahme vor vier Jahren stark zugenommen. Allein im Jahr 2011 wurden 632 Protestmärsche gezählt, so viele wie seit 1995 nicht mehr, Tendenz steigend. Dabei ging es allerdings nicht um ein politisches Superthema wie in den Jahren 2000/2001, als gegen die Privatisierung des öffentlichen Konzerns für Telekommunikation und Elektrizität (ICE) oder 2006/2007 gegen das CAFTA-Freihandelsabkommen mit den USA gekämpft wurde, sondern um unzählige kleine Anliegen: MotorradfahrerInnen gegen die geplante Erhöhung der jährlichen Zulassungsgebühr um 50 Prozent, KleinbäuerInnen gegen genveränderten Mais, BürgerInnen im ganzen Land für den Erhalt und den Ausbau der öffentlichen Sozialversicherung oder gegen die zunehmende Annäherung der Regierung an den Vatikan und die LGTB-Organisationen für das Recht auf sexuelle Diversität. Obwohl eine bewusste Koordinierung dieser Proteste fehlt, haben die sozialen Bewegungen Costa Ricas in den vergangenen vier Jahren entscheidende Erfolge erzielt.
Der erste große Erfolg war der Konflikt um die geplante Goldtagebaumine, die der kanadische Bergbaukonzern Infinito Gold in Las Crucitas errichten wollte. Während Laura Chinchillas politischer Ziehvater, der zweifache Präsident von Costa Rica und Friedensnobelpreisträger Oscar Árias dieses Vorhaben 2008 noch zu einem „nationalen Anliegen” erklärt hatte, bestätigte der Oberste Gerichtshof im November 2011 die Entscheidung von Chinchilla, die Pläne des Konzerns zu stoppen. Die Pläne des Konzerns scheiterten am Druck von unten. Denn seit mehr als zwanzig Jahren wehrten sich die Menschen, die in dem betroffenen Gebiet am Río San Juan in der Nähe der Grenze zu Nicaragua wohnen, gegen das Ansinnen des Konzerns. Aus dem lokalen Protest entstand eine landesweite Umweltbewegung. Schließlich kippte die öffentliche Meinung. Gegen Árias läuft jetzt in diesem Zusammenhang ein Ermittlungsverfahren wegen des Anfangsverdachts auf Korruption.
Der Plan der Regierung, der brasilianischen Firma OAS[fn]Zu den Eigentümern des brasilianischen Konzerns, der auch in Bolivien im Kontext des umstrittenen TIPNIS-Projekts tätig gewesen ist, gehört der brasilianische Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva[/fn] die Konzession für eine Verlängerung der Landstraße von San José nach San Ramón im Norden des Landes zu übertragen, wurde mit Massenprotesten, Streiks und Brandanschlägen auf Firmengebäude durchkreuzt. Für die KritikerInnen bedeutet diese Konzession Korruption und illegitime Privatisierung öffentlichen Eigentums. Am 22. April trat Präsidentin Chinchilla vor die Fernsehkameras, um zu verkünden, dass die Konzession vom Tisch sei. Offen ist indes die Zukunft eines Energiegewinnungsprojekts in der gleichen Region, das eine Kooperation des costaricanischen Energiekonzerns ICE und der Firma OAS beim Bau des Staudamms „Balsa Inferior” vorsieht.
Ein weiterer Durchbruch ist die am 7. Mai in erster Lesung erfolgte Weiterleitung des Gesetzentwurfs zum Schutz der Gemeinschaften der Küstengebiete (bekannt als Ley TECOCOS) an die zuständigen Ausschüsse des costaricanischen Parlaments. Dieses Gesetz soll die mehr als 50 000 KüstenbewohnerInnen schützen, die von Vertreibung bedroht sind. Aus Wut gegen die Vertreibung zugunsten internationaler InvestorInnen unter dem Deckmantel des Umweltschutzes organisierten sich AktivistInnen, vor allem an der Pazifikküste, und entwickelten diesen Gesetzentwurf. TECOCOS sieht vor, in Küstenregionen Konzessionen in ansässigen Fischfanggemeinden für eine nachhaltige Nutzung zu vergeben, wie zum Beispiel für nichtindustrielle Fischerei, kleine Handwerksbetriebe oder ländliche, gemeindebasierte Tourismusfirmen, auch wenn diese unter das Naturschutzgesetz fallen und dort nicht existieren dürften. In ihrer Kritik erinnern die AnwohnerInnen daran, dass ihr Lebensraum bei der Verabschiedung des Naturschutzgesetzes vor über 30 Jahren ignoriert worden war und die Regierung heute vor allem dort Küstengemeinden vertreibe, wo später internationale Tourismuskonzerne investieren wollen. Das Gesetz ist für die Basiskomitees, in denen vor allem die Fischerinnen politische Führungsaufgaben übernommen haben, ein Instrument im Prozess der Selbstorganisation der Gemeinden.
Die Schwäche der Regierung Chinchilla ist ein Grund dafür, dass diese Erfolge möglich waren. Die derzeitigen sozialen Bewegungen in Costa Rica sind auch ohne starke Koordination und ohne eine nennenswerte linke Partei, die sich auf eine Massenbasis stützen kann, das Ergebnis eines langjährigen Aufbauprozesses. Sie verfügen über Kraft und Schlagfertigkeit. Die derzeitigen politischen Erfolge wären ohne die soliden Basisstrukturen nicht möglich, die in den Auseinandersetzungen der Jahre 2001/2002 und 2007/2008 aufgebaut worden sind. Das organisatorische Rückgrat der Anti-CAFTA-Bewegung waren sogenannte „Patriotische Komitees”, deren Gründungsstruktur im Jahr 2007 auf der Zellenstruktur der kommunistischen Partei Vanguardia Popular aufbaute. Diese Partei wurde 1930 als eine der ersten KPen Lateinamerikas gegründet und konnte bis zum Verbot nach dem Bürgerkrieg von 1948, in dem mehr als 3000 kommunistische MilizionärInnen kämpften, wichtige Erfolge feiern. Nachdem die FührerInnen des costaricanischen Kommunismus ermordet und vertrieben worden waren, begann Vanguardia mit dem Aufbau einer Untergrundstruktur, die sich bis heute in der erwähnten Zellenstruktur weiterentwickelt hat. In den 80er-Jahren wurde die Partei wieder zugelassen, aber es ist ihr nie gelungen, eine eigene Massenbasis aufzubauen oder ernsthaften Einfluss auf den herrschenden Diskurs im antikommunistisch geprägten Costa Rica zu gewinnen. Die überalterte Vanguardia-Führung kann diesen Widerspruch nicht aufheben.
Die Krise der Regierung Chinchilla ist auch die Krise der Partido de Liberación Nacional (PLN), auch wenn das führende ParteivertreterInnen zu bestreiten versuchen. 1951 war José Figueres Ferrer der entscheidende Mitbegründer dieser der Sozialistischen Internationalen (SI) angeschlossenen Partei, nachdem er 1948/49 im Anschluss an den Bürgerkrieg von 1948 die Gründungsjunta der Zweiten Republik geleitet hatte. Als „Sozialdemokrat“ verankerte „Don Pepe“, wie er auch genannt wird, die zuvor von der katholisch-kommunistischen Allianz beschlossene Sozialgesetzgebung in der Verfassung und schaffte das Militär ab. Wie in vielen Ländern Lateinamerikas hatte diese „sozialdemokratische Partei” aber nie einen Bezug zum Marxismus oder auch nur einen linken Flügel. Wirtschaftspolitisch steht die PLN fest auf dem Boden des Neoliberalismus.
Der 18. Bericht zur Lage der Nation zeigt anschaulich, wie das relative Wirtschaftswachstum Costa Ricas 2010 und 2011 keineswegs gleiche Möglichkeiten für die Bevölkerung geschaffen hat, sondern zur weiteren Bereicherung einer kleinen, wohlhabenden Minderheit führte, während die Armut unter den GeringverdienerInnen zunahm. Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse blieben auf hohem Niveau. Der Bericht präsentiert die schlechtesten Zahlen seit 1990: „Fast 290 000 Haushalte leben in Armut (1 140 435 Personen) und etwas mehr als 85 000 Haushalte in extremer Armut“, das entspricht 336 305 Personen. Das sind ernstzunehmende Größen; die Gesamtbevölkerungszahl beläuft sich auf knapp 4,5 Millionen. Der Bericht weist zudem darauf hin, dass die Regierung Chinchilla im Jahr 2011 die staatlichen Sozialinvestitionen im Vorjahresvergleich um 0,5 Prozent zurückgefahren hat. Die Kürzungen betreffen vor allem öffentliche Bildung und Armutsbekämpfung. Auch von dem Ziel, die erste CO2-neutrale Nation der Welt zu werden, hat sich Costa Rica offenbar verabschiedet, denn der Ausstoß hat in den vergangenen Jahren wieder zugenommen.
Gegenüber den sozialen Bewegungen hat die amtierende Präsidentin die Gangart knallhart verschärft. Während die letzte Regierung Oscar Árias (PLN, 2006-2010) zumindest den Anschein von Dialogbereitschaft mit der außerparlamentarischen Opposition zu wahren versuchte, trägt Chinchillla die politische Verantwortung für gewaltsame Polizeieinsätze, wie es sie in der Geschichte des Landes zuvor selten gegeben hat. Ein Beispiel ist die brutale Niederschlagung einer friedlichen Demonstration für den Erhalt des öffentlichen Gesundheitssystems am 08. November 2012. Internationale Menschenrechtsorganisationen kritisierten die Inhaftierung von 45 DemonstrantInnen. PolizistInnen setzten ihre Knüppel zudem gegen drei Parlamentarier von Oppositionsfraktionen ein. Dazu kommen zahlreich Korruptionsskandale und -vorwürfe. Dramatisch ist die Situation der öffentlichen Kranken- und Rentenversicherung CCSS, Stützpfeiler des heute infrage gestellten sozialstaatlichen „Modells Costa Rica“. Die Versicherung ist seit Monaten wegen hoher finanzieller Verluste und immer schlechter werdender medizinischer Dienstleistungen in die Schlagzeilen geraten. Arzneimittel und medizinisches Gerät werden zu weit überteuerten Preisen eingekauft, ÄrztInnen und Krankenkassenfunktionäre genehmigen sich überhöhte Gehälter, während PatientInnen für dringende Untersuchungen bisweilen monate- oder jahrelang auf einen Termin warten müssen.
Für öffentliche Empörung sorgte auch der Bau der neuen Uferstraße am Río San Juan an der Grenze zu Nicaragua. Per Dekret genehmigte die Präsidentin den Bau der Straße, nachdem der Internationale Gerichtshof in Den Haag entschieden hatte, dass costaricanische GrenzschützerInnen den Fluss nicht mehr bewaffnet befahren dürfen. Der Bau wurde ohne öffentliche Ausschreibung, Planung und Umweltverträglichkeitsprüfung begonnen. Im Sommer 2012 begannen zudem Verfahren wegen Veruntreuung von Wahlkampfgeldern gegen 90 führende PLN-PolitikerInnen, aber auch gegen Mitglieder aller Oppositionsparteien mit Ausnahme der linken Frente Amplio.
Von der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung Chinchilla können die Oppositionsparteien indes nicht so profitieren, wie man annehmen könnte. Das bedeutet, dass es heute nicht unwahrscheinlich erscheint, dass der PLN-Kandidat Johnny Arraya die Wahlen 2014 für sich entscheiden könnte. Denn von den nur 28,7 Prozent der befragten Wahlberechtigten in der eingangs erwähnten Studie der UCR, die eine Wahlabsicht erklärten, würden wiederum 72,1 Prozent für die PLN und ihren Kandidaten stimmen. Am zweitbesten würde danach die christsoziale Partido Unidad Social Cristiana (PUSC) abschneiden.
Dennoch könnte Costa Ricas Linken ein wichtiger Durchbruch gelingen. Bei den vergangenen Wahlen war es der Linken stets nur gelungen, einen einzigen der insgesamt 57 ParlamentarierInnen zu stellen. Nun hofft die Linkspartei Frente Amplio (FA) nicht nur auf eine echte Oppositionsfraktion im nächsten Parlament, in Umfrageergebnissen kam ihr Präsidentschaftskandidat José Maria Villalta sogar auf zweistellige Ergebnisse. Villalta ist der scheidende Abgeordnete der FA und darf aufgrund des Wahlrechts nicht unmittelbar für eine neue Amtszeit kandidieren. In den vergangenen vier Jahren nutzte er das Parlament für zahllose Initiativen gegen Korruption, für einen Mindestlohn und gegen Megaprojekte. Das Verhältnis der Partei zur sozialen Bewegung definierte er auf respektvolle Weise neu und trug entscheidend dazu bei, eine neue Basis für die FA aufzubauen, die augenblicklich im ganzen Land wächst. Das ist eine Neuheit für eine Partei, die sich sozialistisch nennt und sich auf Traditionen der Kommunistischen Partei in dem stark antikommunistisch geprägten Costa Rica beruft, wo Linksparteien von 1948 bis 1975 verboten waren und verfolgt wurden.
Interessant ist auch die Entwicklung in der sozialdemokratisch orientierten „Partei der Bürgeraktion” (PAC), denn dort könnte der Technokrat und Parteigründer Ottón Solís, für den die US-Demokraten ein Vorbild sind, die Kontrolle über die Partei und die Präsidentschaftskandidatur verlieren. Intern gelang es seinem Kritiker Juan Carlos Mendoza, der das CAFTA-Freihandelsabkommen ablehnt und für den der Dialog mit der sozialen Bewegung wichtig ist, seine Movimiento Esperanza zur bestimmenden Strömung in der Partei zu machen. Auch die KonkurrentInnen folgten dem Vorschlag von Mendoza, die Vorwahlen der PAC (Juli 2013) zur Präsidentschaftskandidatur für alle Wahlberechtigten in Costa Rica zu öffnen. Wenn Mendoza gewinnt, wäre auch der Weg für eine Koalition mit der Frente Amplio offen. So könnte ein Wahlsieg der PLN verhindert werden.