Zuckerrohrschnaps und Zwangsadoptionen

Flucht und Migration, Chaos, Elend, Gewalt und Drogenkriminalität in den Armenvierteln, Auslandsadoptionen, Machtmissbrauch der korrupten Elite – das sind die zentralen Themen von zwei haitianischen Romanen, die nun in deutscher Übersetzung erschienen sind.

In dem Krimi mit dem seltsam anmutenden deutschen Titel „Im Namen des Katers“ von Gary Victor (geboren in Port-au-Prince 1958) ermittelt Inspektor Azémar in gleich mehreren Mordfällen. Die Opfer waren wie Azémar selbst allesamt alkoholabhängig und sprachen fleißig dem Kleren oder Clairin zu. Dieser hochprozentige, klare Zuckerrohrschnaps ist stärker als der herkömmliche Rum, meist schwarz gebrannt und wird nicht in Flaschen abgefüllt, dient also ausschließlich dem einheimischen Konsum. Azémar hingegen ist eher dem aromatisierten Soro (so auch der Titel des zweiten Krimis von Gary Victor) zugetan, eine weitere Variante des Zuckerrohrschnapses. Man merkt schon, ohne Glossar kommen die deutschen Übersetzungen haitianischer Romane nicht aus.

Die Mordopfer haben aber noch etwas gemein: Sie aßen gerne Katzenfleisch, dessen Verzehr den Kleren erst so richtig wirksam machen soll. Die Alkoholexzesse sowie die Bedeutung des Schnapses im Roman überraschen nicht mehr, denn Gary Victors Protagonist Dieuswalwe Azémar und dessen Lebenswandel sind uns schon aus früheren Krimis wie „Schweinezeiten“ oder „Suff und Sühne“ (vgl. Besprechungen in ila 372 und ila 405) bekannt, die im Trierer Verlag Litradukt erschienen sind (vgl. dazu ein Portrait des Verlages in ila 321).

Azémar wird bald von seinem korrupten Vorgesetzten von der Mordserie abgezogen und auf einen anderen „Fall“ angesetzt. Der Kater Georges wird vermisst. Er gehört einer älteren Dame aus der Oberschicht und muss schleunigst wiedergefunden werden, bevor er womöglich den Kleren-Konsumenten zum Opfer fällt. Azémar wirbelt mit seinen Ermittlungen viel Staub auf, und bald gerät er mit der Mafia aneinander. Dem Kater war eine Speicherkarte mit geografischen Koordinaten eingepflanzt worden, so etwas wie eine Schatzkarte von und für Piraten mit Hinweisen zu einem geheimen Ort, wo die Millionen der Drogenmafia gebunkert sind. Nach langem Hin und Her gelingt es Azémar schließlich, Georges zu befreien, ihn seiner Besitzerin unversehrt zurückzubringen und die Millionen in einer Gruft auf einem Friedhof in der Provinz ausfindig zu machen und – zu vernichten. Der unbestechliche Inspektor streicht allein das versprochene fürstliche Honorar der alten Dame, immerhin 30 000 Dollar, ein. Die kann er gut gebrauchen für seinen Schnaps und seine Tochter in den USA.

Auch in Victors neuem Roman geht es also wieder hoch her, der alkoholkranke Azémar übt sich nicht nur in Saufgelagen und Sexorgien. Er übt auch fleißig Selbstjustiz und wird auch wieder Opfer magischer Voodoo-Praktiken. Er gilt trotz allem als der beste Ermittler von Port-au-Prince, der wegen seiner Selbstlosigkeit immer wieder mit seinen Vorgesetzten und Kollegen sowie den Mafiabossen aneinandergerät. Dennoch werden die Leser*innen dem in die Jahre gekommenen, in nüchternen Momenten zu Moralpredigten neigenden Säufer kaum Sympathie entgegenbringen können. Der Antiheld mit dem merkwürdigen Vornamen Dieuswalwe (Gott sei gelobt) wird gleich mehrfach zum Mörder, der seine Taten moralisch zu rechtfertigen versucht: „Wenn Gott mir die Hölle bestimmt, dann kann er mich mal. Meine Zeit auf Erden werde ich benutzen, um dieses Land von so vielen Schuften wie möglich zu befreien.“ Zu einem Mafiaboss sagt er, bevor er ihn ins Jenseits befördert: „Du verdienst den Tod nicht, weil du ein Mörder bist. Das bin ich selber, auch wenn ich Banditen wie dich töte, um zu verhindern, dass gewissenlose Richter sie freilassen, damit sie weiter gegen ehrliche Leute wüten. Aber du musst sterben, weil du diesen Hunden dienst, wegen denen mein Land in dieser Scheiße steckt.“

Azémar (über)lebt eigentlich nur noch für seine Tochter Mireya, die er vor Jahren in ein Heim in den USA, „weit weg von diesem verkommenen Land“, geschafft hat und der er hin und wieder einen Teil seines kargen Lohns und eben die Honorare für Privatermittlungen zukommen lässt.

Der kurzweilige Roman versucht, ein realistisches Bild Haitis zu zeichnen, auch wenn Magie und Voodoo eine größere Rolle spielen als in Gary Victors vorangegangenen Werken. Der Autor hat wieder eine geballte Ladung Sozialkritik in sein Werk gepackt, die sich vorzüglich in die Handlung einfügt und den Spannungsaufbau nicht stört.

Völlig anders, in einer poetischen, bildhaften Sprache schreibt der 1986 in Port-au-Prince geborene und seit 2013 in Paris lebende Autor Néhémy Pierre-Dahomey, auch wenn er in seinem Erstlingswerk ebenfalls die krude Realität Haitis abbildet. In „Die Zurückgekehrten“ ist es Belliqueuse Louissaint, genannt Belli, die sich wegen ihres elenden Lebens gezwungen sieht, gleich beide Töchter zur Adoption freizugeben. Doch zunächst wagt sie Ende der 80er-Jahre mit 40 anderen Boatpeople die Flucht auf einem klapprigen Kutter nach Florida. Als ein Schiffbruch droht, wirft sie in einem Moment geistiger Umnachtung ihren Säugling über Bord. Dem Kapitän „blieb der Anblick einer Mutter nicht erspart, die ihr Kind ins Meer wirft… Nur wenig später beruhigte sich das Meer, der Schiffbruch blieb aus.“ Die US-Küstenwache bringt die Menschen nach Haiti zurück, sie werden in einem Elendsviertel mit dem Namen „Rapatriés“ (die Zurückgekehrten) angesiedelt.

Belli findet später Arbeit als Wäscherin in einer Kinderkrippe in Port-au-Prince. Doch die entpuppt sich bald als eine Art Heim für Kinder aus verarmten Familien, die von korrupten Menschenhändlern zur Auslandsadoption freigegeben werden. Dennoch wird auch dieses Geschäft mit moralischen, menschenfreundlichen Argumenten verteidigt. Die Leiterin des Kinderheimes, Madame Estimé, „verteilte sie an andere Eltern weiter, die sich besser um sie kümmern konnten, meist Weiße ohne Nachwuchs“. Sie stellt ihr Wirken als heiliges Amt dar, das sie angetreten hat, „um Kindern, denen lebenslanges Elend geblüht hätte, eine ungewisse, aber bessere Zukunft zu schenken“. Belli versucht Trost bei einem evangelikalen Pastor zu finden, der ihr auch tatsächlich sagt, dass „die Kinder nun unter den Flügeln des Allmächtigen“ seien. Trotzdem „kehrt sie mit zwei Kieselsteinen anstelle des Herzens nach Hause zurück“.

Das Geschäft boomte, so erklärt der Autor in seinem Roman, „seit Haiti in den achtziger Jahren vor aller Welt als die ärmste, dreckigste und elendste Ecke von ganz Amerika abgestempelt worden war“. Belli wird später ihre beiden Töchter über Madame Estimé zur Adoption freigeben. Luciole wird an ein betagtes Großelternpaar aus Kanada gegeben, Bélial landet im Burgund. Es fehlt ihr in der neuen Familie zwar an nichts, doch sie fühlt sich auch fremd, fühlt, dass sie nicht dazugehört, erlebt Ablehnung. „Ich bin auf der Suche nach mir… Denn ich bin in diesem Dorf, das ich liebe, in dieser Gegend, die ich liebe, in diesem Land, das ich liebe, nicht an meinem Platz. Es ist, als würde ich in meinem Inneren mit jemandem ringen und als wäre dieser Jemand nur ein Schatten meiner Selbst.“

Der Roman ist zwar kein Krimi, aber er ist deshalb nicht weniger spannend als „Im Namen des Katers“. Trotz der Bilder und poetischen Sprache ist „Die Zurückgekehrten“ ein sehr politischer und realistischer Roman und der Autor nimmt kein Blatt vor den Mund. Er denunziert die Staatsmacht, die mit der Drogenmafia gemeinsame Sache macht. Dem Ex-Präsidenten Arisitide verleiht er sozusagen einen indirekten Auftritt, denn ein Mitglied der Chimères, eine Art Miliz im Dienst der Regierung, ein Mafioso und einer der „Großen der Schwerstkriminalität“ erhält auf seinem Mobiltelefon „die zuckersüßen Glückwünsche des Präsidenten der Republik“. Als 2010 das Erdbeben Port-au-Prince in Schutt und Asche legte und wohl über 300 000 Tote zu beklagen waren, verlor auch „Gott der Vater seine majestätische Kathedrale und die Zentralmacht die edelsten ihrer mafiösen Sitze“.

Das Erdbeben ist auch Auslöser für Bélials Rückkehr nach Haiti. Sie begibt sich mit ihrer Adoptivmutter auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter Belli, doch die ist, so der Verlag im Klappentext, „längst in einem Exil der ganz anderen Art“. Belli hat den Verlust der Töchter, die Situation des Landes, Elend und Erdbeben nicht ertragen können. Ähnlich wie Azémar, der Trost im Schnaps findet, flüchtet sie sich in den Wahnsinn, sie verschwindet, verstummt und vergisst.