Wenn es einen deutschsprachigen Autor gibt, bei dem die umkämpfte Erinnerung im Zentrum seines Werkes steht, dann ist es der Österreicher Erich Hackl. Drei große Themen durchziehen die meisten seiner literarischen und publizistischen Arbeiten: der Widerstand gegen Austrofaschismus und Nationalsozialismus, der spanische Bürgerkrieg, präziser die Verteidigung der spanischen Republik gegen die Franco-Faschisten und ihre europäischen Unterstützer, sowie die Emanzipationskämpfe im Lateinamerika der siebziger und achtziger Jahre.
In diesem Frühjahr hat Hackl gleich zwei neue Bücher vorgelegt. Unter dem Titel „Im Kältefieber“ ist im Wiener Picus-Verlag eine Anthologie zum 80. Jahrestag des Aufstands der österreichischen Arbeiterbewegung gegen den Austrofaschismus im Februar 1934 erschienen. Der Band, den Hackl zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Evelyne Polt-Heinzl herausgegeben hat, versammelt literarische Texte österreichischer und internationaler AutorInnen zu der ersten bewaffneten Erhebung gegen den Faschismus in Europa – zwei Jahre bevor in Spanien die Linke gegen den Putsch Francos aufstand. Das Buch, auf das ich hier leider nicht weiter eingehen kann, ist eine wahre Fundgruppe für alle diejenigen, die Geschichte und Literatur nicht aus der Perspektive der Herrschenden und ihrer ApologetInnen betrachten wollen.
Im Mai hat Hackl im Züricher Diogenes Verlag den Erzählungsband „Drei tränenlose Geschichten“ veröffentlicht. Eine dieser Erzählungen beschreibt das kurze Leben der wenige Tage vor Kriegsende von den Nazis ermordeten österreichischen Kommunistin Gisela Tschofenig. Eine andere erzählt die Geschichte von Wilhelm Brasse, einem Polen österreichischer Abstammung, der sich 1939 mit seinen Kollegen nach Auschwitz deportieren ließ, obwohl ihm die Gestapo als „Reichsdeutschem“ freies Geleit angeboten hatte. Im Konzentrationslager musste der Fotograf Aufnahmen der neu eintreffenden Häftlinge machen, die Menschenversuche der Nazimediziner dokumentieren und Privatbilder für die SS-Wachmannschaften anfertigen. Die dritte der „tränenlosen Geschichten“ beschäftigt sich mit der jüdischen Familie Klagsbrunn aus Wien. Im dortigen Stadtteil Floridsdorf waren die Ende des 19. Jahrhunderts aus Wadowice in Galizien eingewanderten Klagsbrunns angesehene Leute. Sie betrieben eine Kohlehandlung, Vater Leopold war in den zwanziger Jahren Präsident des Fußballvereins Floridsdorfer Athletiksport-Club und zweiter Vorsitzender der Ersten Liga, der höchsten österreichischen Fußballklasse.
Als am 12. März 1938 deutsche Truppen in Österreich einmarschierten, war es mit der gesicherten Existenz in Wien schlagartig zu Ende. Leo Klagsbrunn reagierte schnell und organisierte für sich und seine Familie Visa für Brasilien, wo bereits sein Schwager lebte. Das Geschäft verkaufte er an die langjährige Mitarbeiterin Maria Pfeiffer.
Die weitere Geschichte erzählt Hackl in zwei Strängen. In dem einen berichtet er über die Schwierigkeiten Maria Pfeiffers mit den NS-Behörden in Wien. Die Nazis misstrauen ihr, weil sie im Gegensatz zu vielen ihrer ZeitgenossInnen jüdische Fluchtwillige beim Kauf ihres Betriebes nicht übervorteilt hat. Deshalb unterstellte man ihr eine Liebschaft mit Leo Klagsbrunn und/oder für diesen als Strohfrau das Geschäft weiter zu betreiben.
Der zweite Strang widmet sich dem weiteren Schicksal der Klagsbrunns in Brasilien, vor allem dem des Sohnes Kurt und des Enkels Victor, die auf ganz unterschiedliche Weise in die politischen Kämpfe des südamerikanischen Landes involviert werden sollten. Leo Klagsbrunn gründete bald nach der Emigration in Rio de Janeiro eine kleine Fabrik für chemische Produkte. Sein Sohn Peter, der in Wien kurz vor dem Abschluss seines Medizinstudiums gestanden hatte, arbeitete als Vertreter. Dessen Bruder Kurt machte sein einstiges Hobby, die Fotografie, zum Beruf. Peter Klagsbrunn starb bereits 1952 an einem Herzinfarkt. Seine Frau Inge, eine aus Berlin emigrierte Jüdin, brachte die beiden Kinder Vera und Victor alleine durch.
Victor begann nach dem Abitur 1965 ein Studium an der Universität von Rio de Janeiro. Dort machte er im engagierten Studententheater Teatro Universitario Carioca mit. Initiiert worden war diese Truppe von der linken Acao Popular (Volksaktion), in der Victor und seine Freundin Marta Maria Saavedra dos Anjos bald auch aktiv wurden. Unter den Bedingungen der Militärdiktatur wurde diese politische Arbeit jedoch immer gefährlicher, vor allem als mit der Machtübernahme des Generals Garrastazu Médici im August 1969 die Diktatur in ihre härteste Phase eintrat. Wie später in Argentinien und Chile gingen die Militärs mit äußerster Härte gegen die oppositionellen Kräfte vor, die sie der „Subversion“ zurechneten.
Am 2. September 1969 stürmten Polizeikräfte die Wohnung, in der Victor Klagsbrunn, seine Frau Marta und einige weitere GenossInnen lebten, und nahmen alle BewohnerInnen fest. Man brachte sie zunächst zum Sitz der Politischen Polizei, von dort zu einem Marinestützpunkt auf der Rio vorgelagerten Insel Ilha das Flores. Dort wurden sie mehrere Monate ohne Gerichtsverfahren festgehalten. Durch Folter, Essensentzug, Demütigungen, permanente Verhöre und die Unsicherheit über ihr weiteres Schicksal versuchten die Militärs, die Gefangenen zu zermürben und Informationen aus ihnen herauszupressen. Nach mehreren Monaten kam Marta frei. Da sie keine legalen Papiere mehr hatte und jederzeit wieder verhaftet oder von den mit den Militärs verbändelten Todesschwadronen entführt werden konnte, flüchtete sie in die Botschaft Chiles, wo in diesen Tagen – in Chile regierte inzwischen die Volksfront unter Präsident Salvador Allende – viele verfolgte BrasilianerInnen Zuflucht suchten. Zunächst verweigerten die brasilianischen Behörden den Botschaftsflüchtlingen die Ausreise, doch am 12. Januar 1971 konnten sie schließlich nach Chile ausgeflogen werden.
Victor Klagsbrunn wurde drei Monate später freigelassen. Da auch er keine Papiere hatte, machte er sich auf dem Landweg über Bolivien nach Chile auf. Die Flucht gelang und einen Monat später traf er seine Frau in Santiago wieder. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, auch weil sie noch stark unter den Folgen der ihnen in der Haft zugefügten Verletzungen litten, konnten Victor und Marta Klagsbrunn in Chile beruflich und an der Universität Fuß fassen und auch Beziehungen zu ChilenInnen aufbauen.
Der Militärputsch vom 11. September 1973 brachte sie erneut in große Gefahr. Bereits in den ersten Tagen nach dem Staatsstreich begannen die Militärs, neben den linken ChilenInnen auch AusländerInnen zu verfolgen, die in Chile im Exil lebten. Victor und Marta flohen in die argentinische Botschaft. Von dort konnten sie nach Argentinien ausfliegen, wo sie aber zunächst von argentinischen, brasilianischen und US-amerikanischen Geheimdienstleuten verhört wurden. Anschließend teilten ihnen die argentinischen Behörden mit, sie hätten das Land innerhalb einer Woche zu verlassen. Weil Victor in Chile österreichische Pässe beantragt hatte, konnte das Paar nach Italien reisen. Durch die Vermittlung eines Stipendiums kamen sie zwei Jahre später nach Westberlin. Als sie Deutsch gelernt hatten, gelang es beiden, sich dort beruflich zu qualifizieren und über Wasser zu halten.
1986 kehrten sie nach 15 Jahren Exil schließlich nach Brasilien zurück. Victor Klagsbrunn fand eine Stelle an der Universidade Federal Fluminense in Rio, wo er bis zu seiner Pensionierung lehrte. Marta ist bei der Academia Brasilera das Letras tätig. Seit ihrer Rückkehr nach Brasilien kümmerten sich Victor und Marta um ihren pflegebedürftigen Onkel Kurt Klagsbrunn. Vor ihrer Verhaftung und ihrer Ausreise hatten sie wenig Kontakt zu ihm gehabt, was vor allem an seiner wenig zugänglichen Art gelegen habe. Wie bereits erwähnt, widmete sich Kurt Klagsbrunn, der wie sein Bruder Leo in Wien ein Medizinstudium begonnen hatte, der Fotografie, genauer gesagt der Pressefotografie. Dabei kam ihm entgegen, dass in den vierziger und fünfziger Jahren in Brasilien mehrere Magazine entstanden, die auf die Zulieferung guter FotografInnen angewiesen waren. Kurt Klagsbrunn wurde ein erfolgreicher Bildjournalist, der bald nicht nur für brasilianische Zeitschriften arbeitete, sondern auch für internationale Medien, vor allem das US-Magazin Life. Seine Fotos kann man auch anschauen, nämlich in einem kürzlich im Bonner Weidle Verlag unter dem Titel „Kurt Klagsbrunn – Fotograf im Land der Zukunft“ erschienenen umfangreichen Bildband, der vor allem Aufnahmen aus den vierziger und fünfziger Jahren enthält.
Da Kurt Klagsbrunn in dieser Zeit vor allem für Magazine und Illustrierte gearbeitet hat, zeigt eine ganze Reihe der in dem Buch versammelten Aufnahmen die „feine Gesellschaft“ Brasiliens, vor allem bei ihren öffentlichen Events. Dabei war Kurt Klagsbrunn aber alles andere als ein moderner Paparazzo. Ihm ging es nicht darum, möglichst private Aufnahmen von Prominenten zu erhaschen, sondern er dokumentierte die brasilianische Oligarchie in ihrer Selbstdarstellung und portraitierte sie damit auch als gesellschaftliche Klasse – und das mit Witz und ironischer Distanz.
Genauso präzise hat er aber auch „einfache Leute“, ArbeiterInnen, Dienstpersonal oder Gläubige portraitiert. Dabei ist aber nur ganz selten Ironie im Spiel. Bei diesen Bildern offenbart sich ein Fotograf, der die Menschen, die er portraitiert, in ihrem jeweiligen Sein achtet und ernst nimmt. Eine weitere Stärke Klagsbrunns war ganz offensichtlich die Architekturfotografie. Seine Ansichten von Gebäuden und Straßenzügen in Rio und São Paulo sind beeindruckend. Ein besonderes Schmankerl des Bandes ist die Serie „Brasília im Bau“, Aufnahmen aus dem Jahr 1959, die die Arbeiten an verschiedenen Gebäuden der neuen brasilianischen Hauptstadt zeigen.
Dass Kurt Klagsbrunn ein guter und erfolgreicher Fotograf war, war allgemein bekannt. Dagegen wußten nicht einmal seinen nächsten Verwandten, dass er in den vierziger Jahren so etwas wie der offizielle Fotograf der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB) war. Gegenüber seinem Neffen Victor, der durch Zufall von einem Historiker davon erfuhr, sagte Kurt Klagsbrunn kurz vor seinem Tod, er sei Sympathisant der KP gewesen, und wenn sie Aufnahmen von etwas brauchten, hätten die Genossen ihn zum Fotografieren geholt. Nach dem zeitweiligen Verbot der KP hätten sie ihm, wenn sie ihn abholten, immer eine schwarze Kapuze über den Kopf gezogen, damit er nicht mitbekam, wo die Treffen stattfanden, die er fotografieren sollte.
Die Familie Klagsbrunn überlebte den Nationalsozialismus, weil sie rechtzeitig nach Brasilien fliehen konnte. Dort holte sie jedoch die politische Realität wieder ein und zwang Victor, einen Repräsentanten der zweiten Generation, erneut zur Flucht, die ihn unter anderem nach Deutschland führte. Einmal mehr hat Erich Hackl in seiner knappen und klaren Sprache europäische und lateinamerikanische Geschichte erzählt, die Menschen hinter den Zahlen von Vertriebenen, Verhafteten, Gefolterten und Exilierten lebendig werden lassen.
Erich Hackl/ Evelyne Polt-Heinzl (Hg.): Im Kältefieber, Februargeschichten 1934, Picus Verlag, Wien 2014, 330 S. geb. 22,90 Euro
Erich Hackl: Drei tränenlose Geschichten, Diogenes Verlag, Zürich 2014, 160 S. geb., 18,90 Euro
Barbara Weidle/ Ursula Seeber (Hg.): Kurt Klagsbrunn – Fotograf im Land der Zukunft, Mit Beiträgen von Erich Hackl, Klaus Honnef, Marta Klagsbrunn, Kurt Klagsbrunn und Luis Krausz, Weidle Verlag, Bonn 2013, 196 S. (A4) geb., 39,00 Euro