Bei den Recherchen unseres Heftes „Jüdisches Lateinamerika“ im April 2010 war uns aufgefallen, dass es im deutschsprachigen Raum nur vergleichsweise wenige AutorInnen gibt, die Substantielles zu diesem Gegenstand beitragen konnten. Wer jedoch des Spanischen mächtig ist, bekommt nun bei den Verlagen Vervuert und Iberoamericana ein umfassendes Kompendium mit dem Titel „Zugehörigkeit und Andersartigkeit. Juden in/aus Lateinamerika: Vierzig Jahre des Wandels“ (übersetzt) vorgelegt. Dieses 870 Seiten starke Schwergewicht kann nur auf wenige Vorläufer in der Literatur zurückblicken. Referenzpunkte eines inhaltlich derart umfassenden Anspruchs sind Judith Laikin Elkins „The Jews of Latin America“ (1998), die sechs Bände der Judaica Latinoamericana (1988-2009) oder Kristin Ruggieros The Jewish Diaspora in Latin America and the Caribbean: Fragments Of Memory (2005). Das aktuelle Sammelwerk von 2011 versammelt 31 namhafte AutorInnen des Forschungsfeldes aus unterschiedlichsten Disziplinen und erhebt den Anspruch eines systematischen Überblicks über verschiedene Dimensionen einer ethnisch, religiös und kulturell abgrenzbaren Gruppe für die komplexe Region Lateinamerika.
Bereits im Vorwort gibt das internationale Herausgeberteam mit Herkunft aus Israel, Mexiko und Argentinien zu bedenken, dass dieses Unterfangen nicht ohne eine gewisse Generalisierung zu haben ist. Der Vielfalt der jüdischen Diaspora in den Ländern Lateinamerikas versuchen die AutorInnen habhaft zu werden, indem der Blick verstärkt auf die südamerikanischen Länder gelegt wird, die durch eine starke Zuwanderung aus Europa gekennzeichnet waren und durch eine gewisse wirtschaftliche Prosperität, eine starke Mittelschicht und eine positive Integrationspolitik attraktive Zuwanderungsgesellschaften für jüdische MigrantInnen darstellten. Durch diesen Fokus auf Argentinien, Brasilien, Uruguay und Chile müssen freilich jüdische Gemeinschaften und jüdisches Leben in den indoamerikanischen Ländern wie Bolivien, Peru, Ecuador oder den zentralamerikanischen und karibischen Staaten unterbelichtet bleiben.
Zentraler historischer Referenzpunkt ist das Jahr 1967, von wo aus die letzten vierzig Jahre in ihrer historischen, politischen und soziökonomischen Dynamik unter die Lupe genommen werden. Das Schlüsselereignis des Sechs-Tage-Krieges ist deshalb einschlägig, weil der Staat Israel eine bis dato kaum gekannte Solidarität und Identifikation der jüdischen Diaspora erfahren hat, die sich ihrer Verwundbarkeit und Bedrohung als jüdisches Volk erneut bewusst wurde. Gleichzeitig veränderten sich dadurch das Verhältnis der politisch schwach repräsentierten jüdischen Gemeinden zu den lateinamerikanischen Gesellschaften einerseits und die Außenbeziehungen der Staaten Lateinamerikas zu Israel andererseits. Hatten sich diese durchweg 1948 in der UN für die Gründung des Staates ausgesprochen, so betrachteten diese nun Israels neue Stärke mit zunehmender Skepsis und kritisierten das Verhalten gegenüber den PalästinenserInnen. Dieser Perspektivwechsel und der ausgeprägte Antiamerikanismus hatten Folgen für die jüdischen Gemeinden in den Metropolen Lateinamerikas. Trauriger Höhepunkt eines aufkeimenden Antisemitismus waren die Anschläge auf die israelische Botschaft 1992 und das jüdische Gemeindezentrum 1994 in Buenos Aires, die im Buch immer wieder Erwähnung finden.
Neben den politischen Veränderungsprozessen und dem zentralen Identifikationspunkten Zionismus und Israel samt seiner Außenpolitik gegenüber den Staaten Lateinamerikas thematisiert ein Großteil der Beiträge die Identitäts- und Erinnerungspolitik der 400 000 Juden und Jüdinnen, die bis heute in Lateinamerika leben und diverse Bildungshorizonte, religiöse Sozialisation, Sprachen und Herkunftsländer repräsentieren. Das ständig wechselnde politische und ökonomische Umfeld stellte sowohl die Einzelnen als auch das Kollektiv vor immer neue Herausforderungen zwischen den zu wählenden Alternativen von Assimilation/Integration vs. Segregation/Selbstbestimmung. Damit ist eine stärkere Rückbesinnung auf kulturelle und religiös-orthodoxe Traditionen als Garanten für das Fortleben der Gemeinschaften verbunden, die im Fall Argentiniens detailliert untersucht wird. Ein Großteil der Beiträge beleuchtet die Frage jüdischer Identität in der Diaspora aus institutionellen, religiösen, bildungspolitischen, linguistischen und literarischen Blickwinkeln, immer auch vor dem Hintergrund eines demografischen Wandels der Gemeinden durch vermehrte Abwanderung. Dabei oszillieren die Artikel zwischen lokalen, nationalen und transnationalen Bezugspunkten oder nehmen einzelne Regionen/Metropolen oder ganze Länder in den Blick. Ein weiterer thematischer Block zu Beginn des Werks spiegelt die jüdischen Gemeinden Lateinamerikas mit anderen Gemeinden in Spanien, Südafrika, USA oder Europa. Ein Namensregister und ein sehr hilfreiches Stichwortverzeichnis ermöglichen das Navigieren durch den schier endlosen Fundus an Informationen und Fakten.
Auch wenn das Sammelwerk von den Mitgliedern des Zentrums Liwerant für Studien zu Lateinamerika, Spanien, Portugal und seiner jüdischen Gemeinden an der Hebräischen Universität Jerusalem konzipiert wurde, handelt es sich bei den Beiträgen keineswegs um wissenschaftlich verquaste Fachtexte, sondern um zeithistorisch spannende Dokumente, die jede Menge Kontextinformationen der letzten 50 Jahre lateinamerikanischer Entwicklungen liefern. Hier dürfte jeder fündig werden, der auch unser Heft als bereichernde Lektüre empfunden hat. Die Texte sind allerdings durchweg auf Spanisch, was den LeserInnenkreis hierzulande leider etwas einschränkt. Zu wünschen bleibt, dass auch die deutsche Lateinamerikaforschung auf diesem Feld aktiver wird, die im vorliegenden Band gar nicht vertreten ist.
Avni, Haim; Bokser Liwerant, Judit; DellaPergola, Sergio; Bejarano, Margalit et al. (coords.): Pertenencia y alteridad. Judíos en/de América Latina: cuarenta años de cambio. Iberoamericana / Vervuert, Madrid/Frankfurt 2011, 870 Seiten, 48,- Euro