Im Jahr 2000 haben sie eine Tante entführt. Das war ein Schock für unsere Familie. Wir hatten in einem früher so gemeinschaftlichen Territorium ohne Gewalt nie so etwas erlebt. Die wenigen Konflikte in der Gemeinde hatten wir unter uns gelöst. Doch mit dem Erscheinen bewaffneter Gruppen kam permanente Angst. Unsere Großmutter ließ uns kaum noch aus dem Haus, denn die Bewaffneten rekrutierten Kinder. Die afrokolumbianischen Kinder sind recht kräftig. Wir waren damals noch zu klein, um die Gründe zu verstehen. Wir durften nur noch mit Familienangehörigen reden. Wenn sie nach einem Huhn oder etwas anderem fragten, musste man es ihnen geben. Aber immer nur die Erwachsenen. Meine Großmutter hat elf Enkelkinder aufgezogen, die meisten davon Jungen. Und so wie sie unsere Cousins mitgenommen haben, hätten sie auch uns mitnehmen können.
Die Bewaffneten hatten meine Tante verwechselt und haben sie deshalb später freigelassen. Sie ließen sie aber nicht auf ihr Land zurück. Wir waren inzwischen schon nach Pereira geflohen. Acht Jahre lang konnten wir nicht in unser Dorf zurück. Alles haben wir verloren, um unser Leben zu retten, das Haus, die Ernte, die Tiere…
Erst in Pereira wurde mir bewusst, dass ich schwarz bin. In meinem Dorf hatte mich niemand wegen meiner Hautfarbe schlecht angesehen. Doch in Pereira gab es viel Diskriminierung. Von einer unter vielen schwarzen Mädchen war ich zur einzigen Schwarzen im Klassenzimmer geworden. Die „kleine Schwarze“, hieß es immer. Ich hasste den Frauentag in der Schule, wenn wir eine Blume überreicht bekamen. Denn das war begleitet von Witzen und Lachen. Ich stellte mich lieber krank, wenn es Feiern gab. Die Beschimpfungen deprimierten mich. Ich war diejenige in der Familie, die am längsten brauchte, um mich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Es gab keinen Tag, an dem ich mir nicht gewünscht hätte, zurück in meinem Dorf zu sein. Ich wollte die neue Situation einfach nicht wahrhaben. Ich war das rebellische Mädchen, das an nichts teilnehmen wollte. Der Rat und die Begleitung meiner Familie haben mir aber die Kraft gegeben, trotzdem weiter zu machen. Vor allem meine Großmutter sagte immer: Egal was sie von dir denken, du selbst musst dich lieben. Egal, was sie sagen, du bist eine hübsche Schwarze. Egal, wo du hinkommst, beweise allen, dass du ehrlich bist und ein reines Herz hast. Innerlich war ich zerstört, doch weil ich mich an meine Großmutter geklammert habe, habe ich den Glauben bewahrt.
Wir hatten in einer Mietwohnung gelebt, aber die Familie war sehr gewachsen. So haben wir uns an einer Landbesetzung beteiligt, haben uns dort eine Hütte gebaut. Es gab Proteste, Streiks … Wir waren immer in der Sorge, dass die Polizei kommt und uns wieder vertreibt. Ich ging zur Schule, ohne zu wissen, ob es mein Zuhause nach dem Unterricht noch geben würde. Mir fehlte Schulmaterial und sie beschwerten sich, dass ich es nicht dabeihatte, so als hätten alle die gleichen Bedingungen zu Hause. Aber manche Lehrpersonen fragten auch nach. Woher kommst du? Warum hast du keine Hefte? Warum machst du nicht mit?
Irgendwann kam eine Gruppe Jugendlicher in unsere Siedlung. Sie luden uns ein, mit ihnen Theater zu spielen und Musik zu machen. Ich lehnte ab. Aber meine Schwester kam immer zufrieden von dort zurück. Ich fragte sie, warum, denn wir sollten doch besser versuchen, in den Chocó zurückzugehen. Sie antwortete mir, dass wir nun ein anderes Leben hätten. Eines Tages sagte meine Schwester, ich solle einfach mitkommen. Und wenn es mir nicht gefalle, könne ich ja wieder nach Hause gehen. Ich stand am Eingang und beobachtete die Aktivitäten. Sie malten und lachten. Irgendetwas zog mich an. Aber dann dachte ich wieder: Geh besser zurück nach Hause. Eines Tages entschied ich mich dann doch mitzumachen. Ich übernahm eine Rolle und ein Lehrer meinte, ich hätte das gut gemacht. Dass mich endlich jemand beglückwünscht, statt sich zu beschweren, dass ich dies oder jenes nicht tue, hat etwas in mir verändert. Es gab Vertriebene aus Antioquia, aus dem Valle… und wir aus dem Chocó. Alle hatten eine ähnliche Geschichte. Ich integrierte mich in die Gruppe, Freundschaften entstanden. Und Stück für Stück habe ich mich vielleicht nicht angepasst, aber damit abgefunden, dass es einfach nicht möglich war, zurückzukehren, zumindest damals nicht. Und mit der Musik und dem Theater erlebte ich glückliche Momente und fand einen Sinn in meinem Handeln.
2011 bin ich das erste Mal wieder in mein Dorf zurückgekehrt. Das war ein harter Schlag. Mein schönes Dorf mit den bunten Häusern und der heimeligen Atmosphäre war verschwunden. Ein Teil der Häuser war abgebrannt, andere zusammengestürzt. Auf manchen Wänden waren noch Graffiti zu lesen wie „Wir wollen keine Spione“. Das war nicht mehr mein Dorf. Mut machte mir allerdings, dass ein paar Personen widerstanden und das Dorf trotz der bewaffneten Auseinandersetzungen nie verlassen hatten. Eine alte Frau erzählte mir, dass sie ihrer Tochter, die sie in Sicherheit zu bringen versuchte, gesagt habe, sie wolle auf dem Land der Vorfahren, in dem sie aufgewachsen sei, sterben. Sie sei alt und habe nichts mehr zu verlieren. Wir waren geflohen, um unsere Leben zu retten. Aber einige hatten widerstanden, weil sie glaubten, anderswo kein Leben finden zu können. Einzelne von ihnen wurden tatsächlich ermordet.
Heute ist es im Dorf etwas sicherer. Aber es herrscht immer noch Angst. Erst vor drei Wochen gab es eine erneute Vertreibung durch bewaffnete Gruppen in dieser Region. Die neue Regierung macht uns jedoch Hoffnung. Bei den Wahlen habe ich folgendes Lied gesungen: „Petro, Petro, ich werde Petro wählen. Und wenn der Krieg vorbei ist, gehe ich in mein Dorf zurück, um das Land zu bestellen.“ Hoffnung haben wir vor allem in unsere Vizepräsidentin. Sie ist auch schwarz, sie wurde auch vertrieben. Sie kennt die Angst und Beklemmung, wenn man fern seiner Heimat ist. Denn auch wenn wir gelernt haben, in der Stadt zu leben und über eine Ampel zu gehen, so sehnen wir uns doch immer nach der Ruhe und der nicht verschmutzten Luft und auch danach, säen zu können. Es gibt nichts Schöneres, als in seinem Dorf aufzuwachen. Einige haben im Territorium bereits damit begonnen, ihre Häuser wieder aufzubauen. Andere sind aber noch skeptisch, weil sie Angst haben, alles erneut zu verlieren.
Noch fehlt viel, damit die staatlichen Institutionen die Menschenrechte schützen. So wie im jüngsten Fall der sexuellen Gewalt gegen ein Embera-Mädchen in Santa Cecilia, das an den Programmen von Taller de Vida teilgenommen hat. Wie kann es sein, dass das Militär, das die Gemeinden schützen soll, in einer derartigen Weise die Rechte verletzt?! Sie treten auch unsere Kultur mit Füßen. Da heißt es, wir seien noch nicht zivilisiert, wir hätten keine Bildung. Weil wir unsere traditionellen Kleider tragen oder barfuß laufen. Aber sie wissen nicht, dass wir eine große Familie, eine Gemeinde und auch Taller de Vida hinter uns haben. Die gehen in die Regionen, um uns stark zu machen. Wir sind eines Tages weg, sagen sie bei Taller de Vida. Aber die Saat bleibt zurück und diejenigen, die die Prozesse weiterführen, die das Wort ergreifen und Unrecht anzeigen, die andere schulen, die die traditionelle Medizin und die Geschichten und Gesänge weitertragen und die dazu lernen wollen.
Ich werde häufiger gefragt, warum ich so viel Wert auf die Wurzeln und die Vorfahren lege. Ich antworte immer: Weil sie präsent sind und Licht auf unseren Weg werfen. Zu den Ahnen gehört Iemanja (Yoruba-Gottheit, Anm. d. Übers.). In der katholischen Kirche ist das die Jungfrau, die Mutter von Jesus. Aber für uns ist sie die Mutter von allem. Wir haben Oshun (Flussgottheit ursprünglich aus Nigeria, Anm. d. Übers.) und viele andere. Aber unsere wichtigste Vorfahrin ist unsere Großmutter. Und danach kommt unsere Mutter. Denn wir Frauen gebären das Leben. Wir sorgen für seine Vermehrung und dass unsere Geschichte weitergeht. Manchmal fragen sie mich, ob ich nicht an Gott glaube, weil ich ständig von den Ahnen rede. Gott steht für mich immer an erster Stelle. Wie sollte die Welt sonst eine Ordnung bekommen? Aber unsere Ahnen verankern uns in unseren Gemeinden, zeigen uns unseren Weg und geben uns die Hoffnung zurück. Deshalb suchen Indigene und wir aus Afrika Stammenden unsere Wurzeln, damit wir zum Wesentlichen zurückkehren und nicht vom Wirtschaftssystem aufgesogen werden. Denn auch ohne das System gibt es Leben. Wir brauchen keine Markenkleidung und allen möglichen Konsum, wenn Mutter Erde uns so viel gibt.
Diese Deysi, die in der Stadt heute so aktiv ist und an Erfahrung gewonnen hat, wird eines Tages in ihr Dorf zurückkehren, um zu säen und zu erzählen. Und dann werden andere denken: Wenn sie das geschafft hat, schaffe ich das auch. Was sind eure Vorbilder, hat Taller de Vida jüngst Mädchen aus einer Gemeinde gefragt. Wen bewundert ihr? Alle sagten: Meine Mutter, meine Tante, meine Großmutter, meine Lehrerin … Das heißt, dass wir in unseren Gemeinden lernen, uns gegenseitig zu schätzen. Ich hatte eine Lehrerin, die ich nie vergessen werde. Wir waren gerade vertrieben worden und meine Mutter konnte mir nichts für das Schulfrühstück mitgeben. 500 Pesos waren für uns damals eine Riesensumme. Jeden Tag bekam ich mein Schulfrühstück, obwohl ich nie bezahlen konnte. Als ich nachfragte, nahm mich meine Lehrerin zur Seite, gab mir Geld und sagte: Damit du selbst dein Schulfrühstück bezahlen kannst. Sie hatte es getan, ohne es an die große Glocke zu hängen. Das hat mich beeindruckt. Und das, obwohl auch ein Nelson Mandela, eine Francia Marquez oder auch Jesus inspirieren. Ich sage mir, die gibt es auch. Ich finde es schön, wenn Idole nicht nur in den Himmel gelobt werden, sondern auch dazu dienen, die Grundlagen für künftige Generationen zu schaffen.
Siehe dazu auch den Beitrag von Peter Strack in Latinorama: https://blogs.taz.de/latinorama/erkennen-wer-man-ist/