Fast 40 Jahre lang hat Michi Strausfeld in den Verlagen Suhrkamp und S. Fischer als Lektorin für lateinamerikanische Literatur gearbeitet. Darüber hinaus hat sie lateinamerikanische Literatur übersetzt und hierzulande bekannt gemacht. Noch immer ist sie als Vermittlerin der Literaturen Lateinamerikas im deutschsprachigen Raum unterwegs. Ihr neuestes Buch (in manchen Rezensionen ist fälschlicherweise auch von ihren Memoiren die Rede) ist ein idealer Führer durch die lateinamerikanische Literaturgeschichte. Darüber hinaus reichert sie die chronologisch strukturierten Kapitel mit eigenen Erlebnissen und Schilderungen ihrer zahlreichen Begegnungen mit lateinamerikanischen Autor*innen wie Gabriel García Márquez, Isabel Allende, Elena Poniatowska, Mario Vargas Llosa, Julio Cortázar oder Juan Rulfo an. Das Buch strotzt vor Anekdoten, biografischen Informationen und Detailwissen.
Elena Poniatowska lernte Strausfeld 1981 in Mexiko kennen. Sie hatte schon viel gehört von der „polnischen Prinzessin, besten Journalistin, unerschrockenen Aktivistin“, die sich für diejenigen eingesetzt habe, „die nicht für sich selbst sprechen konnten“. In ihrem ersten Roman „Jesusa. Ein Leben allem zum Trotz“ (1969) erzählt sie das Leben der Protagonistin in der ersten Person. Das Testimonial verbinde Journalismus und Fiktion, das ihr Erzählte habe sie in einen spannenden Roman verwandelt. Ihr lagen aber auch, so Strausfeld, „die außergewöhnlichen Frauen am Herzen, deren Bedeutung die Macho-Gesellschaft mit Fleiß ignorierte“. Über Tina Modotti und Leonora Carrington schrieb sie großartige Romane und Reportagen über das Massaker von Tlatelolco oder das große Beben von 1985. Ein Denkmal habe sie der engagierten Zivilgesellschaft gesetzt, die Einsatz und Handlungsfähigkeit zeigte, während die Bürokratie zunächst ohnmächtig zu sein schien. Als Poniatowska nach Berlin zum Festival „Horizonte ’82“ kam, war sie auch dank Strausfeld eine bekannte Autorin, von der bereits Bücher in deutscher Übersetzung vorlagen.
Strausfeld nennt die Autor*innen, denen sie begegnete, die besten Lehrer*innen aller Zeiten. Sie waren alle hochgebildet, kannten die europäische Literatur und Geistesgeschichte, während die Europäer*innen kaum etwas von Lateinamerika zu berichten wussten. Carpentiers „leidenschaftliches Thema“ sei „die Begegnung der Alten mit der Neuen Welt, die Unkenntnis der Europäer über die Hochkulturen Amerikas und ihr mangelndes Interesse dafür“ gewesen. Siegfried Unseld habe er erstaunt, „als er ihm die ersten Zeilen (eines) Gedichts von Walther von der Vogelweide … vortrug oder die des Nibelungenliedes … Er begeisterte sich für Wolfram von Eschenbachs Parzival und die deutschen Heldensagen, … liebte die deutschen Romantiker, … war bestens vertraut mit der deutschen Literatur, der Philosophie und der Musik. Mit großer Selbstverständlichkeit erzählte er, wie gerne er Partituren von Beethoven, Bach, Strawinsky, Mahler und anderer Komponisten lese.“ Carpentier habe ihr bei jedem Treffen in der cubanischen Botschaft in Paris „Nachhilfeunterricht de luxe“ erteilt, etwa wenn er ihr vom deutschen Ethnologen Theodor Koch-Grünberg erzählte, der die Mythen und Sitten der Indigenen am Orinoco erforschte und das mehrbändige Werk „Vom Roraima zum Orinoco“ schrieb, das in Brasilien gelesen wurde, von dem aber in den 1970er-Jahren in Deutschland kein Text lieferbar war.
Strausfeld lernte die großen Autor*innen Lateinamerikas früh kennen. Offensichtlich war sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sie konnte Unseld in den 1970er-Jahren davon überzeugen, im spanischen Barcelona für den Suhrkamp Verlag tätig zu sein, also in der Stadt, die neben Paris als Hauptstadt der lateinamerikanischen Literatur in den Jahren des Booms und danach bezeichnet wurde. Schließlich lebten dort viele der bekanntesten Autor*innen des Kontinents. Der Suhrkamp Verlag wurde bald als Verlag für lateinamerikanische Literatur identifiziert, denn aus sechs bis sieben Titeln wurden bald 70, jedes Jahr kamen Bestseller hinzu, und als 1976 Lateinamerika Schwerpunktthema der Frankfurter Buchmesse war, konnte der Verlag gleich mit 19 Titeln aufwarten. All das hatte der Verlag Michi Strausfeld und ihrem Wirken zu verdanken.
In ihrem detaillierten, faktenreichen Buch geht es Strausfeld um die Darstellung lateinamerikanischer Geschichte in der lateinamerikanischen Literatur. „Ich stütze mich dabei ausschließlich auf die literarischen Texte von Lateinamerikanern, auf Essays, Gedichte, und vor allem auf Romane, die Geschichte geschrieben, und Romane, die Geschichte erzählt haben“, heißt es in der Einleitung. Die Darstellung ihrer (Literatur-)Geschichte Lateinamerikas beginnt bei Kolumbus und der Kolonialisierung, führt über Bolívar und den Kampf für die Unabhängigkeit, die Diktatoren im 19. Jahrhundert, die mexikanische, cubanische und nicaraguanische Revolution, die Militärdiktaturen des Cono Sur, die Drogenkriminalität, Gewalt und Migration nach Norden bis zur Mauer von Donald Trump. Strausfeld wirft Schlaglichter auf die Entwicklung des Kontinents und erzählt uns höchst kurzweilig, wie sich die großen Ereignisse und Zeitläufe in den Literaturen des Kontinents widerspiegeln.
Jedes Kapitel ist eine abgeschlossene Darstellung und könnte zu einem eigenen Buch ausgeweitet werden. So die Kapitel über Mexiko und den Revolutionsroman oder über die unzähligen Diktatoren und den Diktatorenroman. Strausfeld schildert die Ursachen der mexikanischen Revolution und die Entstehung der mexikanischen Gattung schlechthin. Sie würdigt das Wirken des Präsidenten Lázaro Cárdenas, das Entstehen eines lebendigen literarischen Lebens und eines neuen Bewusstseins: „Juan Rulfo, José Revueltas, Juan José Arreola, Elena Garro und Rosario Castellanos sind die Namen, die den Durchbruch zur modernen Erzählkunst Mexikos repräsentieren. Sie alle haben sich mit der mexikanischen Revolution beschäftigt“, so Strausfeld.
Dem Diktator, dem „Erzübel Lateinamerikas“, widmeten sich mehrere Autoren in ihren Romanen (Asturias, Carpentier, Roa Bastos, García Márquez, Vargas Llosa u.a.). García Márquez war fasziniert von dem Thema, er sah in der „Figur des Diktators Lateinamerikas Beitrag zur Weltliteratur“, so Strausfeld. In Caracas las er „eine Unmenge Biographien über Diktatoren“ und berichtete jeden Abend beim Essen über seine neuesten Entdeckungen. Vargas Llosa und Fuentes schlugen 1967 sogar vor, so die Autorin, „dass alle befreundeten Autoren einen Roman über ihren nationalen Diktator schreiben sollten. Das Gesamtwerk würde Los padres de la patria heißen.“ Auch wenn dieses Projekt nicht realisiert wurde, war das Thema doch nicht vom Tisch. In den 1970er-Jahren erschienen Carpentiers „Die Methode der Macht“, Roa Bastos‘ „Ich, der Allmächtige“ und „Der Herbst des Patriarchen“ von García Márquez. Vargas Llosa schrieb in seiner langen literarischen Laufbahn gleich zwei Diktatorenromane: In „Gespräch in der Kathedrale“ (1969) setzt er sich mit dem peruanischen Diktator Odría auseinander, Jahrzehnte später in „Das Fest des Ziegenbocks“ (2000) mit dem dominikanischen Diktator Trujillo.
Das Buch endet mit dem Ausblick: „Der schwierige Weg fragiler Demokratien im 21. Jahrhundert“. Zunächst fragt Strausfeld: „Wo steht Lateinamerika heute?“ und thematisiert die Einflussnahme Chinas, in der sie einen „Neokolonialismus mit chinesischer Dominanz“ sieht. Als Beispiele nennt sie den Bau der Atlantik und Pazifik verbindenden Straße Transoceánica oder den grenzenlosen Sojaanbau im Cono Sur. Auch hier geht sie der Frage nach, wie sich die Autor*innen positionieren. Sie geht ein auf die Situation der Indigenen, den Vormarsch der Evangelikalen, die Negativrolle der sozialen Medien. Hoffnung auf Veränderung macht sie bei den „besten Verbündeten der erstarkenden Zivilgesellschaft“ aus, den Chronist*innen, also den Autor*innen der lateinamerikanischen Gattung der crónica. Ihre Texte stehen als Zwitterwesen aus „gründlicher journalistischer Recherche“ und literarischen Erzähltechniken längst neben Kurzgeschichte und Reportage. Die crónica erfreue sich großer Beliebtheit und liefere oftmals gute Vorschläge zur Lösung von Problemen. Ebenso der Kriminalroman, der oftmals nicht nur der Unterhaltung diene, sondern auch der Kritik an sozialen Verhältnissen. Strausfeld nennt als Beispiele die Romane der Argentinierin Claudia Piñeiro und des Cubaners Leonardo Padura.
In den Werken werde deutlich, wie sehr sich die Gesellschaft Lateinamerikas zum Besseren gewandelt habe: Das patriarchale Familiensystem werde in Frage gestellt, die Bedeutung der Frau sei gestiegen, „vermutlich der wichtigste Faktor, um die Länder von Grund auf zu modernisieren“. Die großartige Literatur Lateinamerikas ermögliche einen Blick hinter die Fassaden, denn sie liefere „eine eigene Sicht auf die wunderbare oder schreckliche Wirklichkeit ihres Kontinents“. Sie sei bestens geeignet, unser eurozentristisches Weltbild zu erweitern, zu „entkolonisieren“, und könne zu einem „Dialog auf Augenhöhe“ beitragen.
Ein kenntnisreiches, spannend geschriebenes Buch einer belesenen, bestens informierten Literaturvermittlerin und leidenschaftlichen Überzeugungstäterin. Das Buch erlaubt nicht nur mehrere Lesarten, etwa eine chronologische beziehungsweise eine an Themen oder Autor*innen orientierte Lektüre. Es eignet sich zudem zur Konsultation, zur Vorbereitung einer Lektüre oder Auseinandersetzung mit Autor*innen und ihren Werken. Es bietet Laien einen Einstieg und Fachleuten Referenzen für die weitere Beschäftigung mit dem Thema. Ein wichtiges, hochaktuelles Handbuch und ein aufschlussreiches Nachschlagewerk.