Zurück auf die Schiene

Zwar fehlt den meisten UruguayerInnen Umweltbewusstsein, doch in der letzten Zeit tun sie mehr für eine heilere Welt als Länder mit einflussreichen „grünen Parteien“. So scheint das Land dem Kyoto-Vertrag gerecht werden zu wollen. In fünf Jahren soll der Verbrauch von Erdöl von 54 auf 39 Prozent gesenkt werden, indem stattdessen 15 Prozent des elektrischen Stroms über erneuerbare Energiequellen wie Wind, Sonne und Biomasse bezogen werden sollen. Und jetzt statt LKWs die Eisenbahn.

1877 übergab Oberst Latorre, der sich durch einen Staatsstreich ins Präsidentenamt geputscht hatte, die bis dahin in Uruguay verlegten Schienenstränge der Londoner Baring Bank. So gelangte der gesamte Transport des Rindfleisches, des wichtigsten uruguayischen Exportproduktes, von der Zucht bis zu den Schlachthöfen in Smithfield in die Hände der Briten. Für wenig Geld erhielt das jetzt englische Eisenbahnunternehmen Ferrocarril del Uruguay einzigartige Privilegien: Zoll- und Steuerfreiheit bis 1917, Zuschüsse von 250 000 Pfund Sterling jährlich bis 1910, Tariffreiheit, solange der Gewinn zehn Prozent nicht überstieg (niemand kontrollierte das), und Garantie für einen Gewinn von sieben Prozent auf die Kosten für jeden neuen Kilometer Schienenweg (niemand  kontrollierte die Kosten).

Dank dieser und anderer Maßnahmen blühte die Viehzucht auf. In den vier Jahren der Diktatur Latorres weitete sich der umzäunte Landbesitz um ein Vierfaches, die Rinderherden wuchsen von fünf auf acht Millionen. Auch die Schafzucht erlebte einen Aufschwung, der Wollexport stieg um 66 Prozent. Es war die standesgemäße Hochzeit des Großgrundbesitzes mit dem Imperialismus. Die über 3000 Kilometer Schienenstränge liefen alle konzentrisch von Westen, Norden und Osten auf den Hafen von Montevideo zu. Fast keine Querverbindungen, kein Netz zur inneren Entwicklung des Landes, sondern ein Fächer, dessen Scheitelpunkt am Río de la Plata über den Ozean hinweg nach England wies. Denselben Weg zurück nahmen die Waren, die – aus Mangel einer eigenen Industrie – die Bedürfnisse der UruguayerInnen befriedigten: Textilien aus Manchester, Wein, Cognac und die letzten Moden aus Frankreich. Selbst die Kohle – wichtigste Energiequelle zur Zeit der Dampflokomotive – kam aus England. 

Dieselloks lösten erst 1954 die Rauch und Dampf ausstoßenden schweren eisernen Giganten ab. So verdrängte das Erdöl die Kohle und die USA damit Großbritannien. Ich erinnere mich jedoch, dass bereits 1939 ein Dutzend Dieseltriebwagen für den Passagierverkehr in Betrieb waren. Das war, als die Motocars des ungarischen Unternehmens Ganz in Uruguay an Land gegangen waren.

Ein abenteuerlustiger Deutscher, dem ich in einer Hafenkneipe begegnete, sagte mir: „Ach, du hast in Breslau in einer Lokomotivfabrik die Schlosserlehre gemacht und bist im KZ gewesen, dann geh mal zu Mister Grindley, dem Chef der englischen Eisenbahnen, der hat hier mehr zu sagen als der Präsident der Republik. Der gibt dir in seinen Reparaturwerkstätten bestimmt eine Anstellung.“ Ich hätte es nicht geglaubt, aber tatsächlich stellte mir Mister Grindley ein Empfehlungsschreiben für den Service-Betrieb der gerade gegründeten Staatseisenbahnen aus. Leider sei in der „Railway Company of Uruguay“ die höchstzugelassene Grenze von 20 Prozent für ausländisches Personal überschritten, aber er wünsche mir Erfolg bei der ungarischen Gesellschaft Ganz, die für vier Jahre für die Wartung der gelieferten Lokomotiven sorge. Dort wurde ich angestellt und so lernte ich die ersten Dieseltriebwagen der künftigen Staatseisenbahn und die Geographie des Landes kennen. Die Loks waren starke sechszylindrige Maschinen, ganz auf der technologischen Höhe der Zeit mit elektro-pneumatischer Steuerung. Sie konnten eine Geschwindigkeit von 100 km/h erreichen, dies jedoch nicht auf den uruguayischen Schienen. Deren Schwellen waren aus Lapacho (Hartholz eines Tropenbaumes) und bei den hohen Geschwindigkeiten lockerten sich durch die Vibration die Nägel im Holz und sprangen heraus. Da ich die Gasöltanks der ein- und auslaufenden Wagen zu warten hatte, merkte ich das auch an den kaputten Schwimmern. Die überstanden kaum zwei, drei dieser erschütternden Fahrten und da sie nicht mehr hermetisch das Ventil schlossen, war das Gasöl dann oft übergelaufen, eine Schweinerei!

Neben diesen Defekten der Gleise nahm ich aber auch die ganze Weite des für mich neuen Landes wahr. Obwohl ich nicht über den Rangierbahnhof hinauskam, kannte ich aus den Fahrplänen bald alle Linien, deren Endstationen, die dazwischen liegenden Bahnhöfe und die Schnittpunkte mit anderen Linien. Die entferntesten Stationen – Artigas und Bella Unión – im Nordwesten an der brasilianischen und argentinischen Grenze sind 600 Kilometer von Montevideo entfernt. Eine andere Linie geht nach Norden, nach Rivera. Zwischen diesen beiden Linien gibt es etwa auf halber Stre-cke die einzige kurze Querverbindung. Sie führt von Tacuarembó nach Paysandú. Drei weitere Linien gehen in nordöstliche Richtung. Eine etwas über Blanquillo hinaus bis an den Stausee des Río Negro, eine andere nach Melo mit Abzweigung nach Río Branco, wo die Brücke über den Yaguarón Anschluss an das brasilianische Schienennetz ermöglicht, was aber nicht genutzt wird. Schließlich gibt es eine Linie nach Rocha und La Paloma, dem einstigen Fischereihafen am Atlantischen Ozean. Alle gehen von Montevideo aus, oder eher, enden da.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges übergaben die Engländer – als Zahlung der für die Fleischlieferungen während des Zweiten Weltkriegs angefallenen Schulden – alle öffentlichen Dienstleistungsbetriebe an Uruguay, also auch die Bahn. Diese wurde dann von der AFE (Administración de Ferrocarriles del Estado) übernommen. Doch wie bei der Straßenbahn und den Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerken war alles in einem ziemlich heruntergekommenen Zustand, was jedoch mit entsprechenden Investitionen sehr gut wieder instand zu setzen gewesen wäre. Die Privatisierung war damals noch nicht erfunden, vor allem, weil alles Kapital zum Wiederaufbau des zerstörten Europa gebraucht wurde. Aber solange noch Kriege geführt wurden – in Korea, in Indochina – hätten die Überschüsse aus dem urugayischen Fleisch- und Wollexport für die notwendigen Reparaturen und Modernisierungen genügt. Nicht aber bei den damaligen Regierungen. Fachleute und qualifizierte Arbeiter wurden überall, wo ein Betrieb in Staatshand überging, entlassen und durch Parteigänger der Colorados und Blancos ersetzt, der beiden traditionellen bürgerlichen Parteien. Denn man stand vor Wahlen und brauchte Stimmen. Auch ich verlor meine Anstellung, war ich doch kein wahlberechtigter Bürger und damit uninteressant für den lokalen Colorado-Caudillo, der auf ein Mandat im Parlament spekulierte.

Das soll nicht heißen, es stünde heute besser um die Eisenbahn, wenn ich geblieben wäre. Aber wie mir ging es ja Tausenden. Der andere Faktor des Verfalls war der Konservativismus. „Konservieren“ heißt eigentlich „bewahren“, im Falle Uruguays jedoch „Ruhe bewahren“. Man investiert nicht, was nicht in ein oder zwei Jahren mit Sicherheit Gewinn bringt. So kam das Jahr 1988 und der Präsident Julio María Sanguinetti zog die simple Konsequenz: Die Bahn macht Defizit, also schließen wir sie. Kein Passagierverkehr mehr auf den noch befahrbaren Strecken (1600 Kilometer), sondern nur noch Frachten über 120 Tonnen Gewicht.

Inzwischen waren parallel zu den Bahngleisen Autostraßen gebaut worden. Die Weltbank hatte Hunderte von Millionen dazu geliehen. Die Autos und LKWs, die die Bahn ersetzten, kamen ebenfalls und mit gutem Gewinn von denselben Staaten, die in der Weltbank das Sagen hatten, und über die verlassenen Gleise wucherten allmählich Gräser und Sträucher.

So konnten wir in den neunziger Jahren auf eben jener Strecke, die von Tacuarembó nach Paysandú führt, im Valle Edén auf dem unter einem grünen Teppich kaum noch sichtbaren Schienenstrang von einer verfallenen Bahnstation hinter Tacuarembó nach Tambores wandern. Doch spät abends dort angekommen, konnten wir in dem Ort nicht übernachten. Es gab keine Pension mehr, geschweige denn ein Hotel. Das Städtchen war zusammen mit der Bahn gestorben. Und so hatte Sanguinettis Dekret vom 1. Januar 1988 unzählige kleine und mittlere Städte langsam verkommen lassen oder ganz ausgelöscht. Waren doch die meisten dieser Ortschaften erst um einen Bahnhof herum entstanden. Ihre einzige Verbindung zur Welt war die Eisenbahn gewesen. Sie waren auf sie angewiesen, sei es zur Versorgung, sei es, um in die Klinik der Provinzhauptstadt zu kommen. Über die billige Bahn schickten die kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Unternehmen ihre Ernte zum Markt oder ihre Rinder zum Schlachthof. Heute künden solche Bahnhofsgebäude wie das hinter Tacuarembó und elende Dörfer wie Tambores – von wenigen Familien bewohnt, oft nur von älteren Leuten – von jenen fast vergessenen besseren Zeiten. Nur die Landwirtschaft – jetzt weniger die Viehzucht als Soja- und Eukalyptuspflanzungen – dehnt sich immer weiter aus.

Staatsangestellte konnten in Uruguay nicht in dem Maße entlassen werden, wie AFE schrumpfte. So wurde ein Teil in Frührente geschickt, ein anderer, auch mit viel Geld, zur Kündigung verlockt und die meisten in andere staatliche Institutionen versetzt, wo das Personal ohnehin schon überzählig war. Von den über 9000 Angestellten in den fünfziger Jahren bleiben heute gerade noch 1100 übrig und auch die sind mit einem Durchschnittsalter von 54 Jahren überaltert.

Immerhin beförderte die Eisenbahn unter der Regierung von Luís Alberto Lacalle (1990 bis 1995) auf einigen Strecken wieder Passagiere, jedoch in Regie privater Gesellschaften. Von Tacuarembó nach Rivera und an den Wochenenden von Montevideo nach einigen nahen Städtchen: Santa Lucía, 25 de Agosto, San José. In seiner zweiten Regierungsperiode (1995-2000) beschnitt Sanguinetti auch diesen kleinen Fortschritt, indem er den Hauptbahnhof von Montevideo – ein prächtiges, neoklassisches und auch funktionales Gebäude – schloss und die Station über einen halben Kilometer weiter nach Norden, von der Stadtmitte weg, verlegte. Der neue Bahnhof liegt schlecht zugänglich an einer versteckten Nebenstraße und seine Bahnsteige sind nur für einen geringen Passagierverkehr ausgelegt.

Im Zuge der Mode gewordenen Privatisierungen wurden dann verschiedene Sektoren von AFE ausgelagert, unter anderem alle Reinigungsarbeiten und die Überwachung. Die Gewerkschaft der Eisenbahner setzte sich zwar für den Erhalt von AFE ein, war aber nach einem 43-tägigen Streik unter Sanguinetti ziemlich geschwächt.

Eine Umkehr dieses schon lange währenden Verfallprozesses sollte erst 2005 die Regierung der Frente Amplio bringen. Nicht aus ökologischen Erwägungen, sondern weil das Erdöl so teuer war. Der Frachtverkehr wurde wieder teilweise von der Straße auf die Schiene verlegt, womit dieselben Tonnen Gewicht mit einem Drittel der Energie, d. h. mit einem Drittel des teuren Treibstoffs, transportiert werden konnten. So gelangte man von 800 000 Tonnen jährlich im Jahr 2004 auf 1,5 Millionen Tonnen im Jahr 2009. Vor allem Holz und Soja für den Export wird heute in größerem Umfang transportiert. Und auch der Passagierverkehr, jetzt wieder in Staatsregie von AFE, funktioniert nun täglich von Montevideo nach Florida (132 km), nach San José (105 km) und Empalme Olmos (36 km). Und trotz der schlechten Gleise ist der Zug auf diesen Strecken noch vor dem Omnibus am Ziel, obwohl er langsamer fährt (60 km/h). Denn die Autostraßen, vor allem in der Stadt und in deren Nähe, sind verstopft, der angestiegene Auto- und LKW-Verkehr produziert Stau auf Stau, während die Schiene freie Fahrt gibt. Trotz der Wachstumraten ist der Frachtfernverkehr keineswegs in einem guten Zustand. Höchstgeschwindigkeit der Güterzüge ist heute 20 km/h, aber es gibt auch Strecken, wo man nicht mehr als 10 km/h fahren kann.

Der bescheidene Plan für die zweite Regierungsperiode der Frente Amplio (2010-2015) ist, auf eine Geschwindigkeit von 40 km/h für den Güterverkehr zu kommen. Die Erweiterung des Passagierverkehrs ist erst in einer zweiten Etappe anvisiert. Zurzeit sind 422 Kilometer neuer Schienenstränge auf der Strecke Montevideo – Paso de los Toros (am Río Negro) – Tacuarembó – Rivera (Grenzstadt zu Brasilien) im Bau. Anfang 2011 soll die Strecke fertig sein. Weitere 1000 Kilometer Schienenstränge sind vorgesehen. Ein Stock von Schienen, mit denen Russland einmal seine Schulden für Agrarlieferungen bezahlte, lag seit Jahrzehnten auf Lager und wird jetzt verwendet. Das Lapachoholz für die Schwellen kommt aus Paraguay, doch die Nägel sind nicht mehr glatt, sondern spiralförmig gefertigt. So werden sie nicht mehr wegen der Vibration rausspringen. Die Arbeit wird unter der Regie von AFE ausgeführt. Sie ist nun ein wenig verjüngt und mit neuen Mitarbeitern erweitert.

Die Loks und Wagen werden allerdings noch großer Investitionen bedürfen. Vor allem die Dieselloks sind überlastet und müssen alle paar Monate repariert werden. Nach wie vor geht ein Großteil der Güterzüge vom Norden und Landesinnern an die Häfen. Das ist nun aber nicht mehr allein Montevideo. Auch Fray Bentos und Paysandú haben große Hafenanlagen, letzterer aber nur für die Küstenschifffahrt, den Paraná hinauf bis nach Paraguay und Bolivien. Seit dem 1. Februar dieses Jahres hat die Nordwestlinie nach Salto über die Brücke nach Concordia, also über den Uruguayfluss hinweg, Anschluss an das argentinische Eisenbahnnetz. Hier bildet die Bahn eine Verbindungslinie, die für Autos und LKWs weiter südlich, an der Brücke Fray Bentos – Gualegaychú, wegen der Zellulosefabrik am uruguayischen Ufer, noch gesperrt ist. Transportiert werden vor allem Klinker, Treibstoffe, Reis, Mais, Gerste und Holz. Kleinere, für lokale ProduzentInnen interessante Frachten sind allerdings noch ferne Zukunftsmusik. Die dazu benötigte Infrastruktur, Warenlager, Kräne, Rampen an den vielen kleinen Zwischenstationen sind längst verkommen, oft existieren nicht einmal mehr die landwirtschaftlichen Betriebe. Zwar gibt die am 
1. März angetretene zweite Frente Amplio-Regierung unter dem Präsidenten Mujica der Förderung landwirtschaftlicher Familienbetriebe besondere Priorität und dafür sind auch die 250 000 Hektar vom Instituto Nacional de Colonización zur Neuansiedlung vorgesehen, aber wahrscheinlich werden diese nicht gerade dahin ziehen, wo jede Infrastruktur fehlt. Die Kinder der Landwirte sollen ja auch zur Schule gehen. Aufbauen ist eben doch schwieriger als Abbauen.

Jedenfalls ist Uruguay heute wieder auf dem Rückweg zur Eisenbahn. Schritt für Schritt und sehr schleppend, so wie die meisten Projekte in diesem Land. Der Nebeneffekt – aber das interessiert wohl die wenigsten Uruguayer – ist, dass verglichen mit der entsprechenden Fracht auf LKWs, der Transport mit der Bahn viermal weniger CO2 in die Atmosphäre ausstößt und es siebenmal weniger Tote und sechzig mal weniger Verletzte als auf den Autostraßen gibt.