Zutiefst würdelos

Aufgrund unserer Erfahrungen in den Gefängnissen seit der Gründung des CSPP hat sich gezeigt, dass eine der wichtigsten Formen von Ausschluss und Marginalisierung in der kolumbianischen Gesellschaft von der Justiz betrieben wird. Die Zahl der Häftlinge steigt. Grund dafür ist die Ausweitung der Strafverfolgung durch den Staat, da immer mehr Taten als strafbar klassifiziert und mit Freiheitsentzug geahndet werden. Darunter fallen auch zahlreiche Aktivitäten des individuellen und kollektiven sozialen Widerstands. Die Verantwortlichen sind sich dessen bewusst, dass eine Strafausweitung nicht zu einem Rückgang der als Delikte gekennzeichneten Taten führt. Zudem werden mit jedem weiteren Anstieg der Armut viele Menschen dazu getrieben, Aktionen „am Rande der Legalität“ zu begehen, die im Grunde lediglich Ausdruck einer Suche nach Überlebensalternativen sind.

Die Lebensumstände der Menschen, die ungleich behandelt, ausgeschlossen, marginalisiert oder festgenommen werden, interessieren weder die Medien noch die öffentliche Meinung. 60 Prozent der Inhaftierten sind junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren. Die Mehrheit kommt aus den Armenvierteln der großen Städte oder stammt aus Familien intern Vertriebener mit einer schwachen Verwurzelung in den urbanen Zentren. In den Gefängnissen und Strafvollzugsanstalten befinden sich also die sozial benachteiligten Gruppen: mit geringen ökonomischen Ressourcen, ohne Arbeit oder prekär und informell beschäftigt sowie mit einem niedrigen Bildungsstand. Doch anstatt die sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen mit den ihnen rechtmäßig zustehenden staatlichen Leistungen zu versorgen, werden sie systematisch marginalisiert und vom Rest der Gesellschaft unter unwürdigen Bedingungen abgetrennt, sobald sie gesetzliche Normen zu übertreten scheinen. Deshalb stellen wir das existierende Modell der Strafgerichtsbarkeit in Frage, das Menschen einsperrt, um sie angeblich zu resozialisieren. Unseres Erachtens dient es vielmehr der Kontrolle der Besitzlosen in einer hochgradig ausschließenden und diskriminierenden Gesellschaft.
Die Bestrafung der Armut und dieses Rechtssystem führen zu einer Überfüllung der Gefängnisse, die wiederum Grundlage für die Verletzung der elementaren Rechte und der Würde der Inhaftierten ist. Die Folgen sind Gesundheitsprobleme, Gewalt und eine mangelnde Befriedigung der grundlegenden Lebensbedürfnisse.

Das Büro des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte in Kolumbien und die Defensoría del Pueblo (Ombudsstelle für Bürgerrechte) haben sich während einer Mission zur Beobachtung und Verifizierung der Menschenrechtssituation in kolumbianischen Gefängnissen über das Ausmaß der existierenden Probleme geäußert. Neben vielen anderen Aspekten bekräftigte die Mission, dass die Überfüllung in den Gefängnissen die Hauptursache für die Verletzung der Grundrechte der Häftlinge ist. Der Bericht stellt fest: „In der Folge entstehen schwere Gesundheitsprobleme, Gewalt, Ungehorsam, Mangel an Dienstleistungen (Arbeit, Bildung, Sozialfürsorge, Sport, Verwandtenbesuche, medizinische Versorgung etc.) mit einer eindeutigen Verletzung ihrer körperlichen und mentalen Integrität, ihres Selbstwertgefühls und ihrer Menschenwürde. Beim Überschreiten des kritischen Niveaus wird die Überfüllung gleichermaßen zu einer grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Strafe. Für die Kommission ist klar, dass überfüllte Haftanstalten die Lebensqualität der Häftlinge stark beeinträchtigen. Sie sind weder für die Internierten noch für das Gefängnispersonal ein sicherer Ort.“

Einige Zahlen aus der Region Valle del Cauca illustrieren diese Situation: Das Gefängnis Villahermosa im Stadtkern von Cali hat eine Kapazität für 1667 Personen, zählte im September 2015 allerdings 6241 Häftlinge. Auch die Haftanstalten Palmira und Tuluá sind zu 130 beziehungsweise zu 68 Prozent überbelegt. Zudem sind sowohl deren Infrastruktur wie Beleuchtung, Belüftung, Abwasserentsorgung, elektrische und sanitäre Einrichtungen sowie die Gebäude in schlechtem Zustand, mit gesundheitlichen Konsequenzen für die Häftlinge. Auch wenn das Hochsicherheitsgefängnis ERON in Jamundí keine Überbelegung aufweist, bestehen dort seit dem Bau viele Probleme: So fehlen etwa Tische und Essensräume, sodass die Häftlinge auf dem Boden essen müssen. In den drei Quadratmeter großen Zellen leben zwischen vier und sechs Personen, die sich ein Waschbecken und eine Toilette teilen, ohne abgeteilte Räumlichkeiten, was das Recht auf Intimsphäre verletzt. Bei Regen tritt Wasser in die Zellen ein, weil der Regenschutz an den Fenstern fehlt.
Das Phänomen der Überbelegung ist nicht einfach durch die Ausweitung des Kontingents zu beheben, vielmehr müssten die Haftanstalten internationale Mindeststandards zur Unterbringung von Inhaftierten erfüllen. Darüber hinaus benötigen sie Einrichtungen zur Umsetzung von Bildungs-, Arbeits- und Freizeitprogrammen.

Die Überbelegung ist auch ein Risikofaktor für die Gesundheit, weil dadurch die Verbreitung von Epidemien begünstigt wird. Die Gründe liegen auf der Hand: Erstens führt die unzureichende Anzahl an Toiletten zu einer Überbenutzung, wodurch Geschlechts- und Darmkrankheiten sowie andere Infektionen übertragen werden. Zweitens breiten sich aufgrund der massenhaften Nutzung sanitärer Einrichtungen Parasiten, Infektionen, Pilze, Bakterien und Viren aus. Aufgrund fehlender Räume für Intimbesuche, die zudem nur in sehr kurzer Zeit und meist ohne Belüftung stattfinden müssen, können drittens notwendige Hygienevorschriften nicht eingehalten werden. Daraus folgt eine Verbreitung von Infektionen und sexuell übertragbaren Krankheiten. Viertens wird bei der Essenszubereitung in großen Mengen gegen Nahrungsmittelstandards verstoßen. Fünftens erschwert die Überbelegung das Zusammenleben und schürt durch physische und verbale Aggressionen Unsicherheit unter den Häftlingen, was die mentale Gesundheit der Häftlinge stark beeinträchtigt. Schließlich verbreiten sich in den Haftanstalten hochinfektiöse Krankheiten wie u.a. Tuberkulose, Windpocken, Mumps und Hepatitis.

Laut Bericht der Defensoría del Pueblo verfügen zwar alle Haftanstalten im Südwesten Kolumbiens über Gesundheitseinrichtungen, allerdings mangelt es an Hygienestandards bei der Behandlung der PatientInnen. Deshalb sind sie bis heute nicht vom Gesundheitsministerium zertifiziert. Die Anzahl an ausgebildetem Gesundheitspersonal ist gemessen an der Überbelegung unzureichend, so dass keine ausreichende Gesundheitsversorgung in den Gefängnissen im Departement Valle del Cauca möglich ist. In Cartago, Tuluá, Buga und Palmira gibt es weder nachts noch an Wochenenden Bereitschaftsdienst von NotärztInnen. Das zeigt, dass das Abkommen zwischen der staatlichen Krankenkasse Caprecom und der nationalen Gefängnisverwaltung INPEC die Gesundheitsversorgung in den Gefängnissen nicht gewährleistet.

Ein weiteres Defizit der Gesundheitsversorgung besteht darin, dass es für die inhaftierten Frauen im Gefängnis von Jamundí keinen Gynäkologen gibt. Für in Haft geborene Kinder und für Minderjährige gibt es keinen Kinderarzt. Den Gesundheitsstationen fehlt es an der notwendigen Ausstattung für Notfälle wie z.B. Reanimationsgeräte. Ebenso wenig gibt es Programme für PsychiatriepatientInnen. Sie leben in den Gefängnishöfen mit normalen Häftlingen zusammen, ohne adäquate Behandlung. Die Krankentransporte sind der Situation nicht angemessen – häufig fahren Krankenwagen aufgrund von Benzinmangel oder fehlender Genehmigungen nicht und werden sogar für Kurierdienste eingesetzt. Deshalb passiert es nicht selten, dass Kranke in normalen Kleintransportern in Krankenhäuser verlegt werden müssen.

Im Hinblick auf die juristischen Verfahren und die Vollzugsgerichte lassen sich ebenfalls regelmäßige Versäumnisse feststellen. Bei Beglaubigungen von Zeiten für Fortbildungsmaßnahmen, Arbeit und  Unterricht zur Anrechnung von Straferlässen kommt es immer wieder zu Ungereimtheiten. Neben der Verzögerung bei der Ausstellung der Bescheinigungen kommt es häufig vor, dass die Aussetzung von Haftzeiten für Inhaftierte nicht bescheinigt wird, sodass Gefangene teilweise mehrere Monate länger in Haft sind als nach richterlichem Beschluss festgeschrieben. Zusätzlich verweigern einige Haftanstalten die Ausstellung der Bescheinigungen und ignorieren den richterlichen Beschluss für Straferlässe, weil die Häftlinge nach Meinung der Gefängnisverwaltung noch nicht die notwendige Zeit abgesessen hätten. Den Häftlingen wird systematisch das Recht auf Akteneinsicht und -überprüfung verwehrt, somit werden Informationen über ihre eigene Situation vorenthalten. In vielen Fällen wird somit die Richtigstellung der existierenden Unregelmäßigkeiten bei der Vollstreckung von Straferlässen erschwert. Des Weiteren wird der Schriftwechsel zwischen Häftlingen und Vollzugsgerichten oder Aufsichtsbehörden mit Verzögerung zugestellt. Die juristischen Abteilungen der Haftanstalten, die eigentlich für die Zustellung der Häftlingsanträge zuständig sind, verschleppen in manchen Fällen die Zustellung um Wochen oder sogar Monate, was auch zur unrechtmäßigen Verlängerung des Freiheitsentzugs führen kann. Doch damit nicht genug. Mit dem Argument, dass jeglicher Schriftwechsel über das zuständige Büro der jeweiligen Haftanstalt zu laufen habe, verhindert die Gefängnisverwaltung, dass Häftlinge Anträge an die Verwaltungs- und Kontrollbehörden über Familienangehörige oder BesucherInnen verschicken.

Die Anzahl der Vollzugsgerichte zur Aufsicht der Strafvollstreckung und zur Einhaltung der Rechte der Inhaftierten reicht bei weitem nicht aus. Ende des Jahres 2013 gab es 109 VollzugsrichterInnen für 284 441 Strafurteile. Das bedeutet, dass jedeR RichterIn im Durchschnitt 2600 Fälle zu beaufsichtigen hat. Diese Situation ist besonders in den Gerichtsbezirken kritisch, wo sich die Gefängnisse mit der stärksten Überbelegung befinden. Zudem hat das Verfassungsgericht entschieden, die Verantwortung für Bewährungen und vorzeitige Entlassungen den VollzugsrichterInnen zu übertragen. Allerdings soll eine solche Entscheidung auf Grundlage der Häftlingsführung im Gefängnis und in Sachkenntnis des Einzelfalls begründet sein. Der oben beschriebene Mangel an RichterInnen führt nun dazu, dass sie ihre Aufgabe, die Garantie der Grundrechte der Inhaftierten, nicht erfüllen können.