Das Lateinamerika-Magazin

Zwei adlige Biografien

Die schwulen Publizisten Hans-Adalbert von Maltzahn und Wolf von Harder in Deutschland und Argentinien

Andrej Seuss, 1966 in Frankfurt geboren, Lehrer im Wetteraukreis, leitet ehrenamtlich das Henry-Benrath-Archiv (HBA) in Friedberg. Henry Benrath, mit bürgerlichem Namen Albert H. Rausch (1882 – 1949), Schriftsteller und Journalist aus Friedberg, schwul, Autor homoerotischer Werke wie „Ephebische Elegie“ und mehrerer Kaiserinnenromane (Galla Placidia, Theophano), stand zunächst dem Kreis um Stefan George nahe. Bald ging er ins tolerante Paris, wo er Pressechef des Internationalen Roten Kreuzes wurde. Sein früh verstorbener Freund, der Schweizer Maler Andreas Walser (1908-1930), wurde in den 1980er-Jahren wiederentdeckt. Über Rauschs Pariser Bekanntschaften, Cocteau, Klaus Mann, Picasso, de Chirico, werde weiterhin gesprochen, nicht aber über ihn, so Seuss. Den Krieg verbrachte Rausch am Comer See, wo er zwei Dörfer vor der Vernichtung durch die SS bewahrte, weshalb er dort noch heute verehrt würde.

Im Henry-Benrath-Archiv stieß Seuss auf Rauschs Briefwechsel mit Hans-Adalbert von Maltzahn (1894-1934) und Wolf von Harder (1897-1962). Nie gehört? Beide waren Adlige, liberale Literaten, vergessene Kulturjournalisten, die dichteten und Zeitschriften herausgaben, schwule Intellektuelle, die eine Vorliebe für das tolerante Paris entwickelten, Deutschland verließen und nach Südamerika gingen. Beide hat Seuss dem Vergessen entrissen und verfasste spannende Biografien, die im Vergangenheitsverlag erschienen sind. Die Anmerkungsapparate beider Bücher sind beträchtlich, ebenso die Personenverzeichnisse und gelisteten Archive, Quellen und Literaturangaben. Die Harder-Biografie liefert zudem Texte und Gedichte des Autors, auch aus seiner Zeit in Argentinien.

Ich verabrede mich mit Andrej Seuss in Frankfurt, will mehr wissen über Motivation, Recherchearbeiten und Genese der Bücher. Wie wurde er fündig, was interessierte ihn an den beiden Journalisten und was interessierte diese an Lateinamerika? Zunächst Maltzahn, der eng mit Else Lasker-Schüler befreundet war, die ihn (in Anlehnung an den „Malik“, ihren Briefroman in Erinnerung an den vor Verdun gefallenen Franz Marc) Vice-Malik taufte. Die Suche nach Informationen über die beiden Adligen sei wie eine Sucht gewesen, so Seuss. Immer wieder fanden sie in Büchern Erwähnung, im Internet stand dagegen kaum etwas. Dafür in Nachlässen und Archiven, etwa im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, wo es eine Extraakte über Maltzahn gibt, weil er einer der wenigen Deutschen war, die aus Brasilien ausgewiesen wurden.

Das kam so: Maltzahns Vater war ein stramm konservativer Monarchist, Generalmajor, der seinen „missratenen“ Sohn der Bohème entriss und nach Südamerika abschob. Zunächst verloren sich dort seine Spuren, bis er in Blumenau wieder auftauchte. Dort wurde er Schriftleiter der „Blumenauer Zeitung“. Maltzahn schrieb positiv über die Weimarer Republik, portraitierte demokratische, pazifistische Autor*innen, polemisierte gegen den Hitlerputsch (1923), gegen Antisemitismus und Militarismus. Dabei lieferte er sich scharfe Auseinandersetzungen mit dem deutschnationalen, antisemitischen „Urwaldsboten“, dem Blumenauer Konkurrenzblatt. 1924 kam es zu einem regelrechten Zeitungskrieg, so Seuss. Maltzahns Gegner schreckten auch vor homophoben, faschistischen Diffamierungen nicht zurück. Während eines Streiks wurde er in Florianópolis festgenommen und nach Rio gebracht, wo er drei Wochen in Haft verbrachte. Nachzulesen ist all das im Archiv des Auswärtigen Amts. Seuss vermutet, dass der „Urwaldsbote“ hinter der Ausweisung steckte, dass der Journalist Opfer eines schmutzigen Intrigenspiels wurde. Zurück in Deutschland hielt Maltzahn als Experte Vorträge über Brasilien, etwa im „Sozialwissenschaftlichen Club“ des Harry Graf Kessler.

Anfang 1926 reiste Maltzahn dann nach Buenos Aires. Dort gab er ab Dezember die „Deutschen Blätter“ heraus. Über das, was er sonst in der argentinischen Hauptstadt machte, ob er arbeitete, wie er das Geld für die Zeitung auftrieb, habe er wenig gefunden, sagt Seuss. Die „Deutschen Blätter“ wollten laut ihres Editorials „Fragen … diskutieren, die für die moralischen, geistigen und materiellen Beziehungen des Auslandsdeutschtums zum alten Vaterlande und zur neuen Heimat von Bedeutung sein könnten“. Zwar könnten die Deutschen in Argentinien den Gang der Dinge in Deutschland nicht beeinflussen, ihre Aufgabe liege auf kulturellem Gebiet und Grundlage der Arbeit sei die Weimarer Verfassung, eine ähnliche Agenda also wie in Blumenau. Des Weiteren thematisierte er aktuelle Entwicklungen, Politik, Wirtschaft und Kultur der südamerikanischen Staaten. Kritiken über Theateraufführungen deutscher Stücke in Buenos Aires, Buchbesprechungen und Informationen über die politischen und kulturellen Entwicklungen in Deutschland waren weitere Themen der Zeitung, die Maltzahn allein verantwortete.

Auch wenn bis April 1927 nur drei Ausgaben erschienen, so konnte Maltzahn doch „sein Projekt einer republikanischen Zeitschrift, die Kultur und Politik verbindet“, verwirklichen. Seuss hebt hervor, dass die Mehrheit der deutschen Kolonie in Buenos Aires alldeutsch und antidemokratisch eingestellt war, Maltzahn also ein Oppositionsblatt herausgab. Jedenfalls führten Maltzahns Aktivitäten in der argentinischen Hauptstadt dazu, dass im Auswärtigen Amt wieder eine Akte über ihn angelegt wurde. Er verließ Buenos Aires 1927 Richtung Europa und trat in die Pariser „Deutsche Zeitung“ ein. Dort arbeitete er als Theaterkritiker, lernte viele Intellektuelle, darunter auch Wolf von Harder, kennen und wurde zu einer wichtigen Figur in der deutschen Kolonie. Er starb bereits 1934, Magnus Hirschfeld schrieb einen bewegenden Nachruf.

Im gleichen Jahr floh Wolf von Harder nach Argentinien. Harder entstammte dem deutsch-baltischen Adel. Die Familie hatte Verbindungen zur russischen Aristokratie und überall in Europa Verwandtschaft. Der Vater erbte Ende des 19. Jahrhunderts viel Geld und investierte in riesige Ländereien und eine Rinderfarm in der argentinischen Provinz Entre Ríos. Auch Harder war schwul, künstlerisch ambitioniert und süchtig nach dem weltoffenen Paris, wo er Kunstgeschichte studiert hatte, so Seuss. Hier gab es keinen Schwulenparagrafen, homosexuelle Künstler und Intellektuelle verkehrten im Hotel „Liberia“ in der Rue de la Grande-Chaumière. Er schrieb über französische Literatur, hatte Kontakt zu André Gide und bewunderte Marcel Proust. Über dessen Werk verfasste er schon in den 1920er-Jahren begeisterte Rezensionen und Artikel, von denen Seuss Teile in sein Harder-Buch aufgenommen hat, u.a. Interpretationen der Albertine-Romane, in denen Harder über Prousts Beziehung zu seinem Kammerdiener Albert referiert. Harder pendelte zwischen Paris und seinem Schloss Lindenhaus im badischen Sasbach, wo der stets von Gewissensbissen wegen seiner sexuellen Orientierung Geplagte 1931 sogar eine Ehe einging. Die hielt aber nicht lange, 1934 wurde er „schuldig“ geschieden, so Seuss, seine Homosexualität wurde aktenkundig und er musste Sasbach verlassen. Er ging nach Argentinien und kehrte nie mehr nach Europa zurück.

Er kam in Südamerika nicht als armer Emigrant an, sondern war wohlhabend, also weich gebettet, vermisste aber die europäische Kultur. Zwar liebte er sein Gut in Entre Ríos, war aber kein Landwirt und verließ sich auf seinen Verwalter und die Familie, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg nach Argentinien gekommen war. In Buenos Aires, das ihn an Paris erinnerte, fühlte er sich wohl. Dort hatte er – wie die meisten ländlichen Großgrundbesitzer – eine Stadtwohnung, traf Künstler und Intellektuelle. Welche Kontakte er genau in der argentinischen Kunstszene pflegte, ließe sich erst rekonstruieren, wenn sein Nachlass in Argentinien erschlossen wäre, meint Seuss. Dessen Nichte unternahm 2019 eine Lateinamerikareise und war auch in Entre Ríos, wo sie Harders Großneffen Juan Félix Lawrie traf. Säckeweise lagerten im alten Farmhaus Dokumente, Akten, Bücher, einige mit Widmungen argentinischer Autoren. Doch offensichtlich sei die Verwandtschaft vor Ort nicht sehr motiviert, den Nachlass zu sichern. Zudem müssten Archive in Buenos Aires gesichtet werden, um mehr über Harders (schriftstellerisches) Wirken vor Ort in Erfahrung zu bringen. Er publizierte wohl in spanischer Sprache, schrieb sozialkritisch angehauchte Gedichte wie „Der alte Peón“, das ebenfalls in Seuss’ Biografie abgedruckt ist.

Andrej Seuss interessieren jene unbekannten Intellek­tuellen aus der zweiten und dritten Reihe, mit all ihren Widersprüchlichkeiten. Nicht die Einteilung in schwarz und weiß, sondern die Grau- und Zwischenstufen. Hans-Adalbert von Maltzahn, Spross aus altem Adel, war links-republikanisch eingestellt. Dennoch schrieb er in der Blumenauer Zeitung auch seltsame Dinge, etwa über Mussolini. Der liberale Wolf von Harder hegte große künstlerische Ambitionen, scheiterte aber an den politischen Umständen und hatte immer ein schlechtes Gewissen wegen seiner Homosexualität oder seiner gesellschaftlichen Stellung. Archivarbeit und Quellenstudium haben Seuss schon auf die Spur zu einer weiteren Persönlichkeit geführt: Er recherchiert aktuell zu dem „unkonventionellen Linken“ Erhart Löhnberg, der vor den Nazis nach Bolivien floh, dort als Lehrer arbeitete, mit August Siemsen, dem Herausgeber der Zeitschrift „Das Andere Deutschland“, in Buenos Aires verkehrte und eine zweibändige Einführung in „Das Kapital“ von Marx herausgab.