Als sich 2008 die politischen Aufbrüche von 1968 zum vierzigsten Male jährten, gab es dazu eine ganze Fülle von Veröffentlichungen. Suhrkamp publizierte eine „Klassiker“-Reihe mit Schriften von Bloch bis Marcuse, andere Verlage veröffentlichten eher anekdotische Rückblicke inzwischen „weise“ gewordener männlicher Veteranen. Fast allen Publikationen gemein war die metropolenzentrierte Sichtweise, die 1968 als europäisches und bestenfalls noch nordamerikanisches Phänomen sah. Einzig das von Jens Kastner und David Mayer herausgegebene Buch „Weltwende 1968 – Ein Jahr aus globalhistorischer Perspektive“ versuchte den Blick über den metropolitanen Tellerrand hinaus (vgl. Besprechung in der ila 319) und war sicherlich die spannendste Veröffentlichung zum Thema „40 Jahre 1968“.
In diesem und im letzten Jahr sind mit etwas Verspätung – oder positiv ausgedrückt unabhängig vom inzwischen das Verlagswesen bestimmenden Gedenkjahre-Hype – zwei weitere Bücher erschienen, die „1968“ nicht auf Europa und die USA reduzieren, sondern einen besonderen Fokus auf Lateinamerika legen: „Kontinent der Befreiung – Auf Spurensuche nach 1968 in Lateinamerika“, herausgegeben von Anne Huffschmid und Markus Rauchecker und „Zwischen Medellín und Paris – 1968 und die Theologie“, herausgegeben von Kuno Füssel und Michael Ramminger.
Das Buch „Kontinent der Befreiung“ entstand aus der Arbeit der Projektgruppe „1968 in Lateinamerika“ am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Die StudentInnen erarbeiteten zusammen mit der Dozentin Anne Huffschmid eine Ausstellung und die vorliegende Buchpublikation. Bei ihren Recherchen beschränken sie sich nicht auf das eine Jahr 1968, sondern spürten den kulturellen und politischen Revolten einer Periode nach, als deren Anfangspunkt der Sieg der cubanischen Revolutionäre über das Batista-Regime im Januar 1959 gelten kann und die mit dem Militärputsch gegen die Unidad-Popular-Regierung Salvador Allendes im September 1973 endete.
Schon diese Eckdaten machen deutlich, dass die lateinamerikanischen Revolten jener Zeit keineswegs eine Nachahmung bzw. eine Reaktion auf europäische und nordamerikanische Entwicklungen waren, wie manche HistorikerInnen oder auch die mexikanische Regierung in ihrer Propaganda gegen die StudentInnenbewegung des Jahres 1968 behaupteten. Die Prozesse in Lateinamerika verliefen eigenständig, wiewohl es natürlich gegenseitige Beeinflussungen zwischen den Protestbewegungen diesseits und jenseits des Atlantiks und nördlich und südlich des Rio Grande gab. Die cubanische Revolution, die guevaristischen Guerillaexperimente oder die „Theologie der Befreiung“ beeinflussten die protestierenden StudentInnen in Europa und den USA. Marcuse und Sartre, der Pariser Mai oder der Rock’n Roll sorgten auch in Lateinamerika für An- und Aufregung. Und hüben wie drüben verfolgte man intensiv die antikolonialen Befreiungskämpfe in Afrika und Indochina, las die Schriften Maos und Frantz Fanons. Und es gab auch einige „BotschafterInnen“ von der jeweils anderen Seite des Atlantiks wie die im Buch vorgestellte Berliner Aktivistin Gisela Richter in Venezuela oder den Chilenen Gaston Salvatore in Westberlin, der 1967/68 eine wichtige Rolle in der dortigen Studentenbewegung spielte und deren Blick auch nach Lateinamerika lenkte.
Die AutorInnen von „Kontinent der Befreiung“ untersuchen bei ihrer Spurensuche die Bewegungskultur der sechziger Jahre anhand verschiedener Aspekte, als da wären das Repertoire („gemeinsame Bezugspunkte der Jugend- und Studentenproteste diesseits und jenseits des Atlantiks“), die Bewegung, die Repression der Herrschenden und die Gegengewalt der Bewegungen. Weiter die Themen Alltagskultur und Kulturproduktion, Erinnerung & Deutung und schließlich die Frage der „Globalität“ des lateinamerikanischen 1968. Unter diesen Kapitelüberschriften wird anhand der Entwicklung in verschiedenen Ländern über Kämpfe, aber auch über Kulturphänomene der Bewegung von der Mode über die Musik bis zum offeneren Umgang mit Sexualität berichtet. Zusätzlich werden in eigenen Beiträgen wichtige ProtagonistInnen der jeweiligen Proteste vorgestellt. Ein beträchlicher Teil von ihnen schloss sich bewaffneten Organisationen an und verlor dabei das Leben, wie etwa Camillo Torres in Kolumbien, Carlos Marighella in Brasilien oder Mario Roberto Santucho in Argentinien. Andere der portraitierten Guerilleros retteten sich ins Exil oder verbrachten lange Zeit in den Kerkern der Diktaturen. Einige machten später (zeitweilig) politische Karrieren, wie die NicaraguanerInnen Michele Najlis, Gioconda Belli und Ernesto Cardenal, der Brasilianer Vladimir Palmeira und schließlich Pepe Mujíca, der gegenwärtige Präsident Uruguays.
Etwas schade finde ich, dass zwei karibische Orte kollektiven Aufbruchs keine Erwähnung finden: Zum einen die Aprilrevolution 1965 in der Dominikanischen Republik. Im monatelangem Widerstand gegen die US-Intervention spielten studentische AktivistInnen eine herausragende Rolle (vgl. ila 284, April 2005), ein Moment, das die Rebellion in anderen lateinamerikanischen Ländern zweifellos befördert und inspiriert hat. Zum anderen die Rodney Riots im Oktober 1968 in Jamaica, die an der University of the West Indies (UWI) als Proteste gegen die Absetzung des kritischen Dozenten Walter Rodney begannen, dann aber in kürzester Zeit auf ganz Kingston und später auch auf die anderen Standorte der UWI in Trinidad und Barbados übergriffen. (vgl. ila 319, Okt. 2008). Die Rodney Riots bedeuteten die Genese der Black-Power-Bewegung in der englischsprachigen Karibik.
Anne Huffschmid weist in ihrem Vorwort ausdrücklich daraufhin, dass die Darstellung in einem solchen „Büchlein“ keineswegs umfassend flächendeckend sein könne, es würde „nichts anderes als Fragmente versammeln und Schlaglichter werfen – subjektiv, selektiv“. Das ist sicherlich etwas tiefgestapelt. „Kontinent der Befreiung“ ist ein höchst informatives und anregendes Lesebuch über eine Zeit, die unendlich weit entfernt zu liegen scheint, weniger wegen der inzwischen vergangenen gut 40 Jahre, sondern wegen der damaligen Aufbruchstimmung und sozialen Energie, die heute nur schwer vorstellbar sind. Besonders reizvoll finde ich, dass das Buch von heutigen Studierenden erarbeitet wurde, die sich mit ihrem Blickwinkel, ihren Fragestellungen und ihren moralischen Kriterien den lateinamerikanischen 68er angenähert haben.
Mit Ausnahme des Herausgebers Michael Ramminger (geb. 1960) und des brasilianischen Theologen und Religionswissenschaftlers Alberto da Silva Moreira (geb. 1955) sind die AutorInnen des Sammelbands „Zwischen Medellín und Paris – 1968 und die Theologie“ zwei Generationen älter. Sie sind allesamt „68er“, das heißt, sie haben das besagte Jahr als StudentInnen, Universitätsangehörige oder Pfarrer sehr bewusst erlebt und wurden dadurch für ihr weiteres Leben geprägt. Als kirchliche AktivistInnen gehörten sie allerdings – zumindest gilt das für die europäischen AutorInnen – zu einer kleinen Minderheit in der Protestbewegung. Anders als „Kontinent der Befreiung“ ist „Zwischen Medellín und Paris“ kein explizites Buch über Lateinamerika, es zeigt vielmehr, wie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die eurozentrierten Strukturen in den Kirchen aufgebrochen wurden und der Süden sich Gehör verschaffte. In der katholischen Kirche kam hierbei der lateinamerikanischen Bischofskonferenz vom 24. August bis zum 6. September 1968 im kolumbianischen Medellín eine herausragende Rolle zu.
In der Weiterentwicklung der auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zwischen 1962 und 1965 beschlossenen theologischen Neuerungen definierten die lateinamerikanischen Bischöfe die Rolle der Kirche in der Gesellschaft neu und stellten dabei den Gedanken der Befreiung und die Option für die Armen ins Zentrum kirchlicher Aufmerksamkeit. Während also in der katholischen Kirche die progressiven Impulse aus Lateinamerika kamen, waren es im Protestantismus vor allem die antikolonialen und antirassistischen Bewegungen Afrikas (1968 wurde in Südafrika unter starker Beteiligung christlicher AktivistInnen die Black-Consciousness-Bewegung gegründet) und teilweise auch Asiens, die das bisherige Kirchenverständnis radikal in Frage stellten. Allerdings blieb im Katholizismus das Machtzentrum, sprich der Vatikan, unter der Kontrolle rechter europäischer Männer, die spätestens ab Anfang der achtziger Jahre systematisch gegen jegliche befreiende kirchliche Praxis konspirierten und agierten. Dagegen kamen in den demokratischeren Strukturen des internationalen Protestantismus fortschrittliche Theologinnen und Theologen aus dem Süden auch in Spitzenpositionen, am bekanntesten sicherlich der Südafrikaner Philip Potter als langjähriger Präsident des Weltkirchenrates.
Das Buch „Zwischen Medellín und Paris“ enthält sowohl biographische als auch theoretische Beiträge. Dabei gehen auch die persönlichen Rückblicke über Anekdotisches weit hinaus, beschreiben teilweise sehr spannend, etwa im Text des Niederländers Ton Veerkamp, wie es auch an den theologischen Ausbildungsstätten gärte und, als die Revolte dann ausbrach, sich die AktivistInnen innerhalb weniger Tage radikalisierten und entsprechende Forderungen artikulierten. Hochinteressant fand ich sowohl in diesem als auch in weiteren Beträgen die Darstellung der „Gegenseite“, sprich des konservativen kirchlichen Establishments, das durch die Bewegung völlig überrascht und verunsichert wurde.
Die eher theoretischen Texte beschreiben, wie sich die Theologie weiterentwickelte, wie sie Impulse und methodische Ansätze des Neomarxismus, des Strukturalismus und des Feminismus aufnahm und auf die Neulektüre und Interpretation der Bibel anwendete. Teilweise gelang es den kritischen TheologInnen damit, theoretische Standards zu setzen, deren Aushebelung der kirchlichen Rechten bis heute nicht vollständig gelungen ist.
Während die Befreiungstheologie die gesellschaftspolitischen Forderungen der 68er-Bewegungen aufnahm und vielfach zu ihrer Sache machte, blieb sie bei einem anderen zentralen Thema der Bewegung, nämlich der Überwindung der sexuellen Zwangsmoral und in deren Folge der Forderung nach Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und der Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Orientierungen, sehr zurückhaltend. Das gilt auch für die Texte des vorliegenden Buches. Einzig der schwule Theologe und Publizist Christian Modehn spricht das Thema kritisch an und resümiert bitter: „Geärgert hat mich seit der Zeit, dass auch die Theologie der Befreiung keine Ansätze macht, um sich mit den Schwulen zu solidarisieren. Sie werden im Rahmen des Machismo-Wahns in vielen Ländern des angeblich katholischen Lateinamerika verfolgt und erniedrigt. Ich habe nie gehört, dass sich ein Befreiungstheologe oder ein berühmter katholischer politischer Theologe für die Schwulen und Lesben eingesetzt hat.“ (S. 23). Während die Befeiungstheologie linkskatholischen AktivistInnen offensichtlich einen Bezugsrahmen gab, sich weiter in kirchlichen Strukturen zu engagieren, drängt das auch von den kritischen TheologInnen kaum in Frage gestellte päpstliche Definitionsmonopol in der Sexualmoral bis heute Menschen aus dieser Kirche hinaus.
Insgesamt bietet das Buch „Zwischen Medellín und Paris“ ein intellektuell äußerst anregendes Lesevergnügen für all diejenigen, die mit den Herausgebern der Meinung sind, dass „in den Aufbrüchen dieser Zeit etwas Unabgegoltenes liegt, dass wir dem ‚Projekt Menschheit’, um das es ging, nicht näher gekommen sind, sondern ganz im Gegenteil uns zunehmend von ihm entfernen – und die Herausforderungen deshalb nach wie vor Gültigkeit besitzen.“
Anne Huffschmid/Markus Rauchecker (Hg.): Kontinent der Befreiung? Auf Spurensuche nach 1968 in Lateinamerika, Verlag Assoziation-A, Berlin/Hamburg 2010, 256 S., 16,00 Euro
Kuno Füssel/Michael Ramminger (Hg.): Zwischen Medellín und Paris. 1968 und die Theologie, Edition Exodus und Edition ITP-Kompass, Luzern/Münster 2009, 260 S., 23,00 Euro