Warum wird mann zum Mitläufer und Mittäter? Was denkt und fühlt so einer beim Zuschauen oder gar Mitmachen? Aus was für Verhältnissen kommt er? Warum hauen nicht einfach alle ab, wenn sie zum Militärdienst eingezogen werden? Nehmen wir das Jahr 1978, die argentinische Militärdiktatur ist in vollem Gange.
Der Vater weint vor Rührung, als der Sohn das große Los zieht: „Sechshundertvierzig“ wird im Radio durchgesagt. Das bedeutet Heer. Die Familie kauft die Zeitung, um eventuellen Irrtümern vorzubeugen, aber es stimmt, als die Mutter mit dem Lineal die betreffende Zeile entlang fährt: Der Sohn wird bei unentschuldbar brutalen Menschenrechtsverletzern dienen. Aber so sieht das der stolze Vater nicht. Im Gegenteil. Man muss nur ein paar einfache Regeln beherrschen, gibt er dem Sohn mit, dann klappt alles wie am Schnürchen. Regel Nr. eins: „Der Vorgesetzte hat immer Recht, vor allem, wenn er im Unrecht ist.“ Wenn der Sohn das begriffen habe, habe er alles begriffen. Weiter: „Alles was sich bewegt, wird gegrüßt; alles was sich nicht rührt, geht einen nichts an.“ So einfach geht das, will man keine Schwierigkeiten kriegen. Und: „Beim Militär ist es am besten, nie irgend etwas Besonderes zu können.“ Macht nur Ärger. Auf den Punkt gebracht heißt das, „nichts zu tun, aber Hauptsache pünktlich“. Doch aufpassen muss man schon. Wenn etwa der Vorgesetzte die Truppe warnt: „Wer zuviel wichst, dem wachsen Haare auf den Handflächen“, bloß nicht auf die Innenseite der eigenen Hände sehen. Kommt immer wieder vor in der Truppe. Die Ärmsten sind geliefert. Lustig, nicht? Zum Wiehern. Mitnichten.
Wir sind gerade mal auf Seite 22 von „Zweimal Juni“, dem ganz außerordentlichen Roman des argentinischen Autors Martín Kohan, und das Grauen steht jedem/r, der/die diese Anekdoten liest, schon bis zum Hals. Der Rekrut ist Ich-Erzähler und er hadert dort, wo wir angekommen sind, mit der Frage, ob ihn eine heimliche Auflehnung nicht teuer zu stehen kommt. Bei einer Wache fällt sein Blick im Leitfadenheft auf eine Frage: „Ab wie viel Jahren kann man ein Kind folltern?“, steht da. Zwei L. Schrecklich. Der Rekrut malt sie vorsichtig zu einem L um. Puh, sieht besser aus. Ist das Ungehorsam?
Die Korrektur fällt dem Vorgesetzten nicht auf. Feldwebel Torres tritt in die Wachstube ein, sieht sich die Frage im Heft an und holt sich die Meinung des Rekruten ein. Der schlägt nach reiflicher Überlegung vor: „Sobald es für das Vaterland notwendig ist.“ Man kann an dieser Stelle noch nicht ahnen, dass die Episode so etwas wie die Quintessenz des gesamten Romans beinhaltet. Der Rekrut ist dabei beileibe nicht das einzige Kind. Das andere wurde soeben geboren, der Mutter, einer politischen Gefangenen, abgenommen, bevor sie elend starb, und innerhalb der militärischen Seilschaften an ein „bedürftiges“ (sprich kinderloses) Ehepaar weitergegeben. Wir befinden uns, wie gesagt, im Jahr 1978. Es ist Fußballweltmeisterschaft. Bei der nächten Fußballweltmeisterschaft, 1982, wieder im Juni, steht die Militärjunta kurz vor ihrem Untergang. Dem ehemaligen Rekruten, inzwischen Medizinstudent, dämmert es in der gleichen Situation kollektiver Erregung auf den Straßen plötzlich. Damals, vor vier Jahren, war er der Fahrer bei einem dubiosen Transport. Impliziert waren seine direkten Vorgesetzten. Wacht er auf, klagt an, nimmt Abstand?
Martín Kohan hat für die, die das in der Form des Romans so lesen wollten, schon von Anfang an mit Nein geantwortet. Sein Ich-Erzähler, ein „normaler“ Heranwachsender in einem „unpolitischen“ Haushalt, ist, schon als er eingezogen wird, ein Verstörter, Verängstigter, der sich an Regeln und Sicherheiten klammern muss. Foltern ist in Ordnung, Folltern nicht. Was macht so einer in einer komplizierten, vielfältigen Welt? Er unterteilt sie in lauter kleine Kapitel, und da das immer noch keine Ordnung macht, nummeriert er sie. Ein Behelf, der seine Hilflosigkeit herausschreit. Und persönlich? Kann man der Sichtweise dieses Rekruten folgen? Alles was man ahnt, ist auf den Punkt gebracht in diesem Roman. Verstanden hat der Medizinstudent, Rekrut a. D. , na…, nichts? Trotzdem ist er irgendwie sympathisch. Also doch einer von uns, weil er immer half, wenn er gefragt wurde, und nie persönlich folterte? Man muss ihn einfach zweimal lesen, diesen Roman. Übrigens auch, um all die Aspekte zu entdecken, die hier ungenannt bleiben.
Von Martín Kohan ist auch „Sekundenlang“ übersetzt. Das Buch lohnt sich genauso. Ist aber ein Krimi, der ebenfalls in der argentinischen Diktatur spielt. „Zweimal Juni“ demgegenüber ist ein kunstvoller Tatsachenroman, aus der Sicht eines mitlaufenden Mittäters.
Martín Kohan: Zweimal Juni. Roman, Übersetzung: Peter Kultzen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009, 19,80 Euro