Unabhängig davon, ob es einen gangbaren alternativen Weg aus der Erschöpfung des bis dahin gültigen Wirtschaftsmodells gegeben hätte und unabhängig von den konkreten Ergebnissen im Einzelnen, welche der NAFTA-Vertrag gezeitigt hat, ist Mexiko heute in einem Maße in den Weltmarkt eingebunden, dass jede schwerwiegende Störung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen unmittelbare, tiefgreifende und für die Bevölkerungsmehrheiten sehr negative Folgen hätte. Da auch die heutige Situation nur für eine Minderheit Vorteile bringt, ist damit auch schon das wirtschaftspolitische Dilemma skizziert, vor dem jede politische Kraft steht. Im Vergleich zu anderen großen lateinamerikanischen Ökonomien ist Mexiko die am meisten außenwirtschaftlich verflochtene und in den Weltmarkt integrierte. Das Land exportiert wertmäßig mehr als die anderen wirtschaftsstarken Länder Argentinien, Brasilien, Chile und Venezuela zusammen.
Seit Inkrafttreten des NAFTA-Vertrages verdreifachten sich die Exporte in die USA, auch die Importe aus den USA nahmen in einer ähnlichen Dimension zu. 2005 wurden 85 Prozent der etwa 200 Mrd. US-Dollar Exporterlöse aus industriell verarbeiteten Gütern erlöst, wobei ungefähr die Hälfte der gesamten Exporte in den Lohnveredelungsindustrien, den Maquiladoras, produziert wird. Mexiko ist heute viel weniger von den schwankenden Erlösen der Erdölexporte abhängig als noch in den 70er und 80er Jahren. Agrarprodukte und Lebensmittel belaufen sich auf nur noch fünf Prozent des Außenhandels. Der extrem hohe Beitrag der Fertigwarenexporte in die beiden nördlichen NAFTA-Partner USA (2004: 87,6 Prozent) und Kanada (1,7 Prozent) verweist aber auch auf ein zentrales Problem: Die Wettbewerbsfähigkeit mexikanischer Güter muss immer wieder neu unter Beweis gestellt werden. Wächst die Produktivität langsamer als etwa jene chinesischer Unternehmen, gehen in den USA rasch Marktanteile verloren. Hier deuteten sich seit 2002/2003 einige Probleme an.
Zwei weitere Faktoren kommen hinzu, auf die kritische Wissenschaftler wie Enrique Dussel Peters oder hierzulande Dieter Boris wiederholt hingewiesen haben: Mit der verstärkten Exportorientierung der Wirtschaft nimmt die Bedeutung des Binnenmarktes und binnenmarktorientierter Unternehmen ab. Dies verstärkt die im Inneren ohnehin vorhandenen regionalen und sektorialen Ungleichgewichte. Es bedeutet auch, dass Mexiko in zunehmendem Maße von internationalen Entwicklungen abhängig wird, diese aber – wie etwa die Konjunktur in den USA, die Zinspolitik der Fed, die Gestehungskosten in China etc. – überhaupt nicht beeinflussen kann. Während externe Parameter für die Wirtschaft also immer wichtiger werden, nimmt parallel dazu im Lande selbst der einst übermächtige Einfluss der Politik auf die Wirtschaft ab. Dass dieser Rückzug des Staates aus Wirtschaftsangelegenheiten, den die Privatwirtschaft schon lange fordert, kein Automatismus war, sondern von der Politik selbst, d.h. vor allem von PRI und PAN, betrieben wurde, sei nur am Rande angemerkt.
„Die Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren zunehmend von der Politik abgekoppelt“, fasst die „Bundesagentur für Außenwirtschaft“ (bfai) die Veränderungen zusammen. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass die bevorstehenden Wahlen trotz Kopf-an-Kopf-Rennen und sicherlich fehlender Parlamentsmehrheit des gewählten Präsidenten „das ökonomische Umfeld nicht destabilisieren“, wie die englische Finanzzeitung Economist (24.1.06) feststellt. „Denn die vorsichtige Geld- und Finanzpolitik wird aufrechterhalten werden und so helfen die makroökonomische Stabilität zu konsolidieren“, so der Economist weiter. Jede denkbare linke Politik, ob parlamentarisch oder außerparlamentarisch, muss dies zur Kenntnis nehmen und zum Ausgangspunkt ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Überlegungen machen. Denn der Export/Import-Komplex ist der wirtschaftlich dynamische Sektor der mexikanischen Ökonomie. Hier konzentriert sich die Wirtschaftsmacht, an der keine politische Partei oder Bewegung vorbei kommt.
Trotz heftiger Krisen und herber Rückschläge, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können, haben sich unter dem Strich zwischen 1994 und 2004 einige makroökonomische Daten in bemerkenswerter Weise entwickelt. Es ist hier vor allem die exorbitante Steigerung der Exporte, insbesondere der Fertigwarenexporte zu nennen (2004: Elektrotechnik: 46 Mrd US-Dollar; Maschinen: 29 Mrd; EDV-Maschinen: 11 Mrd; Zugmaschinen/Fahrzeuge: 28 Mrd und PKW: 11 Mrd). Zum Vergleich: Mineralische Brennstoffe: 23,5 Mrd US-Dollar. Außerdem sind die seit einigen Jahren niedrige Inflation von unter fünf Prozent, die stabile Währung, niedrige Zinsen und die insgesamt gestärkte Wirtschaftsleistung erwähnenswert. Dazu kommen noch wachsende Dollarzuflüsse aus den Gastarbeiterüberweisungen (remesas), aktuell etwa 20 Mrd, sowie steigende Öleinnahmen. Hier werden für 2006 etwa 30 Mrd US-Dollar prognostiziert. Die Devisenreserven klettern auf 62 Mrd. Das sind im Großen und Ganzen die Zahlen, welche die Investmentbanker – wieder einmal – jubeln lassen. Die Wertschätzung der Finanzwelt schlägt sich nieder in der guten Länderbonität und diese wiederum in niedrigeren Zinsen, welche Mexiko für Anleihen auf dem internationalen Kapitalmarkt berappen muss
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So weit die Erfolgsstory. Die Probleme: Die Boomregionen im Norden bzw. im Grenzstreifen zu den USA sind enger mit der US-Ökonomie verflochten als mit dem Rest Mexikos. Viele Regionen und Bundesstaaten Mexikos, etwa im Zentrum und Süden, bleiben außen vor bzw. fungieren nur als Hinterland, indem sie billige Arbeitskräfte oder andere lokale Ressourcen liefern, jedoch kaum zur Wertschöpfung beitragen können. Die innermexikanischen Disparitäten zwischen den Regionen/Gruppen, die an den weltmarktorientierten Sektor angegliedert sind, und den Abgekoppelten wachsen. Hier sind insbesondere die AgrarproduzentInnen zu erwähnen, für die der NAFTA-Vetrag die ohnehin schwierige Lage weiter verschlechtert hat. Nahezu alle Agrarsektoren befinden sich in einer tiefen Krise. Am schlechtesten geht es jenen, die Subsistenzlandwirtschaft betreiben. Dabei dürften nach wie vor mehr Menschen von ihrem Einkommen in der Landwirtschaft (über)leben als von Industrielöhnen. Hier gibt es ein Reservoir von vielen Millionen NAFTA-VerliererInnen, für die Freihandel nur den Verlust jedweden staatlichen Schutzes bedeutet.
Der weltmarktintegrierte Teil wiederum hängt vom Wohl und Wehe der US-Konjunktur ab. Denn ein erheblicher Teil der produzierten Güter geht in die USA. Damit diese in Mexiko überhaupt produziert werden können, müssen Vorprodukte und Halbfertigwaren importiert werden, was die beeindruckenden Exportzahlen schon erheblich relativiert. Ein Drittel der gesamten Importe wird auf diese Weise gleich wieder re-exportiert! Sollte in den USA das Dauerwachstum, das seit über zehn Jahren zu verzeichnen ist, etwa wegen der astronomischen Verschuldung der privaten und öffentlichen Haushalte ins Stocken kommen, würde dies, wie schon 2002, voll auf die Maquila-Industrie durchschlagen. Die wirtschaftliche Zukunft Mexikos wird im industrialisierten Grenzgürtel sowie in wenigen Ballungsräumen entschieden. Weite Teile im Zentrum und Süden, Schwerpunkt linken Einflusses, sind von dieser Dynamik abgekoppelt. Die Gastarbeiterüberweisungen sind der Tropf, an dem diese Landstriche hängen. Eine Politik, die nur oder vor allem auf die Ausgeschlossenen setzt, kann lediglich moralisch Druck entfalten. Sie kann prinzipiell nicht an sozioökonomischen und damit letztlich auch politischen Hebeln der Machtverhältnisse ansetzen. Aus diesem Grund ist ein wie auch immer geartetes Bündnis zwischen den Ausgeschlossenen und popularen Sektoren in den dynamischen Zonen zwingende Voraussetzung für ein linkes Projekt, das mehr ist als ein Anprangern des schlechten Status quo.
Makroökonomische Daten 1990 – 2005
1990 1994 1998 2002 2004 2005
BIP % 3,9% 3,5% 4,8% 0,9% 4,4% 3,0%
BIP real 262 377 393 636 675 758
Inflation 29,9% 7,0% 18,6% 5,0% 3,5% 4,3%
Export 40,7 60,8 117,5 160,7 188,6 200
Import 41,5 79,3 125,2 168 197 211
Auslandsschulden 101,9 135,5 164 161 163 166
Schuldendienst 11,3 17,4 29,1 25,7 33,3
Zinsen 28 Tage 34,8% 14,1% 31,2% 7,6% 8,6% 8,7%
Quellen siehe Anmerkung [fn]Quellen für die Makroökonomischen Daten: Dresdner Bank Lateinamerika AG, Perspektiven Lateinamerikas, September 2003; Economist (Country Profile Mexiko); Bundesagentur für Außenwirtschaft 2006 (Datenbank); Lateinamerika-Jahrbücher 1996-2002[/fn]