Mit der Unabhängigkeit und der Gründung der Nationalstaaten bildete sich zum ersten Mal so etwas wie eine nationale Bildungspolitik heraus, die die Gründung von republikanischen Universitäten förderte. Im 20. Jahrhundert wurde dann mit den Kämpfen um Autonomie und um ein neues Entwicklungsmodell im Rahmen des modernen Staates der Grundstein für die lateinamerikanische Universitätslandschaft gelegt. Die regionale Hochschulpolitik wurde wesentlich von der reformistischen Bewegung von Córdoba 1918 beeinflusst, unter deren Flagge der Kampf um die universitäre Unabhängigkeit in Argentinien die folgenden Jahrzehnte geführt wurde. Die Spannungen zwischen Regierung und Wissenschaft bezüglich der Definition der Bildungspolitik der Länder führten im Laufe der Zeit zur Herausbildung einer gewissen Verwaltungsautonomie der Universitäten, die sich fortan als öffentlich und kostenlos sowie weltlich und berufsorientiert verstanden. Unter Mithilfe studentischer Bewegungen und durch Zweckbündnisse mit politischen Parteien erkämpften die Universitäten ihre akademische Freiheit gegenüber einem zentralistisch ausgerichteten Staat. In fast allen Ländern fand die Autonomie in Form von Gesetzen oder Verfassungen breite politische Anerkennung und wurde zum festen Bestandteil einer sich entwickelnden urbanen Kultur. Die Verankerung dieser Autonomie im Verfassungstext von Venezuela 1999 im Kapitel der Menschenrechte ist ein Verweis auf die lange historische Entwicklungslinie, die das akademische Selbstverständnis im 20. Jahrhundert begleitete.
Einhergehend mit diesen Errungenschaften steuerten die Universitäten selbst einen Großteil der Hochschulpolitik, indem in akademischen Räten und anderen Institutionen über das Fächerspektrum, die finanziellen Ressourcen, die akademischen Qualitätsstandards oder die Leistungsanforderungen für den Universitätszugang und den Abschluss bestimmt wurde. In vielen Fällen, insbesondere Ende der 60er Jahre, kristallisierten sich an den Universitäten alternative Machtstrukturen heraus, die zum Kern kritischer bis hin zu revolutionären Bewegungen gehörten.
In den 70ern wurde den öffentlichen Universitäten mit der Gründung neuer Bildungsinstitutionen ihr Monopol zunehmend von den Regierungen streitig gemacht. Damit setzte ein Staatsinterventionismus im Bildungsbereich ein, der wesentlich für die Diversifizierung des öffentlichen Bildungssektors verantwortlich war und als zweite große Entwicklungswelle in Lateinamerika bezeichnet werden kann. Die Regierungen experimentierten mit verschiedenen Ansätzen. Zu nennen sind beispielsweise die sogenannten experimentellen Universitäten in Venezuela, die Abspaltung regionaler Vertretungen der Zentraluniversitäten in Chile, die später einen eigenen universitären Status erlangten, die Gründung neuer öffentlicher Universitäten im Großraum von Buenos Aires oder die Gründung der Technologischen Universität durch die Abspaltung der Ingenieurswissenschaften in Panamá. Gemeinsam war all diesen Abspaltungen oder Neugründungen, dass sie wesentlich stärker staatlich kontrolliert und als Konkurrenz zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen ins Leben gerufen wurden. Die Politik der Ausweitung des Bildungssektors vollzog sich unabhängig von der Couleur der politischen Regimes in den einzelnen Ländern. Der Trend setzte gleichermaßen unter den Sandinisten in Nicaragua wie unter Pinochet in Chile oder einer demokratischen Regierung in Venezuela ein.
Mit dem demokratischen Übergang der meisten Länder in den 80ern und 90ern leiteten verschiedene Interessengruppen einen Prozess der Regionalisierung und Deregulierung der höheren Bildung ein, der der regionalen Nachfrage besser genügen sollte. Neben dem öffentlichen Bildungssystem entstanden zahlreiche private Universitäten, die ihre Ableger von den urbanen Zentren in die regionale Peripherie verlegten. Mit dieser Dezentralisierung verminderten sich zugleich die studentischen Migrationsströme in die Hauptstädte, die ein markantes Merkmal der vorherigen akademischen Landschaft waren.
Die Privatisierungspolitik wurde in Chile, El Salvador, Uruguay und Peru noch unter der Diktatur eingeleitet, jedoch später nach der Demokratisierung nicht mehr zurückgenommen. Problematisch war, dass diese weitere Reformierung des Hochschulsystems häufig die Gründung von Privatunis beförderte, die weder über die administrative noch akademische Infrastruktur im Vergleich zu den öffentlichen Unis verfügten. In Ländern wie Peru, Venezuela oder Brasilien führte dies dazu, dass sich öffentliche Universitäten als Elitehochschulen im Wettbewerb positionierten und strenge Zulassungsbeschränkungen einführten, um die besten Studierenden des Landes anzuwerben. In den 90er Jahren verfestigte sich die binäre Spaltung des Hochschulsystems in öffentliche und private sowie qualitativ hoch- und minderwertige Universitäten. Damit vollzog sich nach den Autonomiebestrebungen eine weitere Stärkung der Gesellschaft gegenüber staatlichen Einflüssen, dieses Mal allerdings unter dem Vorzeichen ökonomischer und regionaler Interessen. Die Autonomie gegenüber dem Staat wurde nun mit der Intervention des wirtschaftlichen Sektors erkauft.
Diese Entwicklungen sind jedoch nicht nur auf eine Anpassung der Bildungspolitik an die neoliberale Wirtschaftsdoktrin zurückzuführen, sondern auch auf eine Bildungsexpansion in den Regionen fernab der Hauptstädte. In Peru, Argentinien, Bolivien, Venezuela und Brasilien führte der massenhafte Anstieg von Personen mit höheren Schulabschlüssen zu einer Neugründung öffentlicher Universitäten, wohingegen in Mexiko und einigen zentralamerikanischen Ländern die öffentlichen Unis lediglich regionale Außenstellen errichteten. In der Universidad Nacional Autónoma de México sind heutzutage ca. ein Drittel aller Studierenden in den universitären Einheiten außerhalb der Hauptstadt eingeschrieben, ähnlich wie bei der Universidad Autónoma de Santo Domingo. Die öffentlichen Universitäten allein waren allerdings nicht imstande, den Zustrom an neuen Studieninteressierten aufzufangen. Dies hing vor allem damit zusammen, dass die Regierungen die Bildungsetats nicht entsprechend der Nachfrage erhöhten und häufig sogar zusammenstrichen, sodass dem Wachstum des öffentlichen Sektors Grenzen gesetzt waren.
Diese begrenzten Kapazitäten machten die private Hochschulausbildung in Lateinamerika zu einem florieren Geschäftszweig, mit dem sich bisweilen viel Geld verdienen ließ. Waren 1960 lediglich 16 Prozent aller Studierenden an einer privaten Universität eingeschrieben, so erhöhte sich die Zahl 1985 bereits auf 32 Prozent und erreichte 2003 52 Prozent. 2006 studierte in Brasilien und Chile nur noch jeder vierte an einer öffentlichen Universität – Tendenz fallend. Ein überwiegend öffentliches Universitätssystem mit einer Mehrzahl von Studierenden an öffentlichen Unis ist noch in den Ländern Bolivien, Argentinien und Mexiko zu finden.
Legitimiert wurde die neue politische Ausrichtung des Bildungssystems durch die Doktrin der „Freiheit der Lehre“, die sich in zahlreichen postdiktatorischen Verfassungen wiederfand. Im Klartext bedeutete dies eine Rücknahme jeglicher akademischer Auflagen, die vorher von den öffentlichen Universitäten in Eigenregie bestimmt wurden. In der Folge kam es zu einem Wildwuchs an privaten Bildungsinstitutionen und -abschlüssen, weil die Anforderungen an die Eröffnung neuer Unis heruntergeschraubt wurden, obwohl in fast allen Ländern gesetzliche Vorschriften existieren, die die Rahmenbedingungen vorschreiben. Nicht selten hing die Eröffnung neuer Studiengänge oder Universitäten von guten Verbindungen zu Regierungskreisen ab. Mit der „Freiheit der Lehre“ wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, die mit der absoluten Freiheit der Eröffnung/Schließung von Fächern und der Zulassung von minderqualifiziertem Personal einherging. Ebenso konnten Immatrikulationsgebühren beliebig festgelegt werden, obwohl die minimalen Anforderungen an eine adäquate Infrastruktur nicht vorhanden waren.
Die Merkantilisierung der Bildung drückte sich also u.a. in der Spannbreite der Studiengebühren und der Qualität der Studiengänge aus, sodass Ungleichheiten in der Bildung weiter verstärkt wurden. Die Zugangstests und die Einschreibegebühren benachteiligen besonders Kinder aus ärmeren Haushalten, wobei dies kein ausschließlich lateinamerikanisches Phänomen ist. Die Zahlen in fast allen Ländern belegen deutlich, dass die Bildungslücke zwischen dem oberen Fünftel der Bevölkerung mit dem höchsten Einkommen und dem unteren Fünftel enorm auseinanderklafft. Die Existenz öffentlicher Universitäten ändert daran wenig. In Argentinien, Brasilien oder Peru lässt sich zeigen, dass besonders die reicheren und besser gebildeten Schichten überproportional von den kostenlosen Bildungsangeboten profitieren, weil sie bessere Voraussetzungen für das Bestehen der anspruchsvollen Zulassungstests mitbringen. Die Folge ist ein redistributiver Effekt öffentlicher Ressourcen zugunsten der höheren sozialen Schichten.
Die sozio-ökonomische Marginalisierung der Subalternen in Lateinamerika spiegelt sich somit in der Bildung wider, mit negativen Folgen für die soziale Mobilität. Besonders betroffen sind AfrolateinamerikanerInnen und Indigene, so dass sich soziale Ungleichheiten entlang ethnischer Spaltungen reproduzieren. Leider zeigen sich nur wenige Regierungen sensibel gegenüber diesen nicht sonderlich neuen Tatsachen. In Uruguay gibt es zumindest einen Solidaritätsfonds für sozial benachteiligte SchülerInnen mit guten akademischen Leistungen. Andere Möglichkeiten, wie spezielle Stipendien und Quoten für diese Gruppen, spezielle Zugangsregelungen oder Vorbereitungskurse für die Zugangsprüfungen sind eher eine Seltenheit. In Bolivien und Ecuador haben die Regierungen begonnen, indigene Universitäten aufzubauen, um in multilingualen Studiengängen traditionelle Wissensbestände zu reaktivieren (siehe Artikel von Daniel Mato auf S. 36).
Nach der Periode der Deregulierung und Privatisierung der Bildung setzt in den letzten Jahren wieder ein stärkeres Engagement vieler Regierungen in der Bildungspolitik ein. Die Ausbildung von Fachkräften und die Humanressourcen werden nun als Standortfaktor für die aufkommenden Wissensgesellschaften erkannt. Um qualitativ hochwertige Bildungsstandards zu garantieren, haben eigentlich alle Länder Bildungsgesetze erlassen, die die Hochschulbildung regulieren sollen. Plötzlich ist das Leitbild „Bildung als öffentliches Gut“ in aller Munde, das sich zwischen der vorher propagierten politischen Praxis universitärer Autonomie und privatisierter Bildung bewegt. Dem Staat kommt als Regulierungsinstanz die Aufgabe zu, die Hochschulbildung zu kontrollieren, Rahmenbedingungen zu verbessern und Investitionen in zukunftsträchtigen Forschungsbereichen zu tätigen. Grundlegende Standards in Lehre und Verwaltung der Hochschulen sollen eingehalten werden, um die qualitative Spannweite zu verringern. Der Anteil der staatlichen Investitionen am BIP für die Hochschulbildung ist in der Summe aller lateinamerikanischen Länder in den letzten Jahren stetig gestiegen, mit Venezuela mit Abstand an der Spitze. Seit Beginn der 90er Jahre haben fast alle Länder sogenannte Akkreditierungsverfahren zur Qualitätsprüfung eingeführt, die nach festgelegten Kriterien die Zulassung und Prüfung von Hochschulen kontrollieren sollen. Damit betreten neue Akteure in der Hochschullandschaft die politische Bühne. Über Evaluierungsagenturen oder Regierungsinstitutionen sollen an den Universitäten Prozesse der Fremd- und Selbstevaluation in Gang gesetzt werden. Damit werden z.T. Formen indirekter Steuerung etabliert, die die Fremdbestimmung von vormals autonomen Universitäten verstärken. Die Quantifizierung von Indikatoren zur Qualitätsmessung von Lehre und Forschung ist nicht nur in Lateinamerika umstritten. In der Konsequenz verschiebt sich das Kräfteverhältnis zwischen autonomen Universitäten und Staat sowie zwischen Wettbewerb und Komplementarität innerhalb der Universitätslandschaft erneut, sodass wir uns inmitten der dritten großen Entwicklungsphase des lateinamerikanischen Universitätssystems befinden.
Der Druck auf die nationale Bildungspolitik wird zusätzlich durch den Eintritt internationaler Bildungsanbieter verstärkt, die zu einer weiteren Diversifizierung beitragen und lokal ansässigen Universitäten Konkurrenz machen. In den letzten Jahren kann Lateinamerika einen rapiden Anstieg ausländischer Institutionen aus den USA und Europa verzeichnen, die Außenposten ihrer Heimatuniversitäten aufbauen, Fernstudien anbieten oder Allianzen eingehen bzw. Abkommen zur Kooperation mit Partnern vor Ort unterzeichnen.
Bei internationalen Studierenden scheint Lateinamerika nicht sonderlich attraktiv zu sein, da in den meisten Ländern nicht einmal zwei Prozent aller Studierenden aus dem Ausland kommen, die zudem noch größtenteils aus den Nachbarländern stammen. Die Zahl derjenigen lateinamerikanischen Studierenden, die ein Studium im Ausland absolvieren, liegt geringfügig darüber, wobei Europa und die USA die primären Ziele sind. Mit Ausnahme einiger karibischer Inseln gehen jedoch laut Zahlen der UNESCO von 2007 kaum mehr als ein Prozent aller Studierenden ins Ausland.
Ähnlich der Vielzahl an Universitäten gibt es auch eine kaum zu überschauende Menge an unterschiedlichen Abschlüssen. War das ursprüngliche Modell des Studiums noch stark an europäische Universitäten angelehnt, bei dem man erst nach fünf bis sechs Jahren einen ordentlichen Abschluss erlangte, so hielt ab den 80ern das konsekutive Modell der USA nach und nach Einzug und sorgte für eine Unmenge verschiedener akademischer Grade. Zuerst absolviert man heutzutage einen allgemeinbildenden Bachelor, der in seiner Laufzeit ungefähr dem früheren deutschen Diplom entspricht, wobei es in manchen Ländern auch den Titel des Diploms (Licenciatura) gibt. Darauf aufbauend kann man seinen zwei- bis dreijährigen Master (Maestría) oder auch Magister machen. Wer diese längere Laufzeit nicht in Kauf nehmen möchte, kann auch eine sogenannte Spezialisierung an den Bachelor hängen, die ungefähr halb so lange dauert wie der Master. Nach alldem gibt es schließlich die Möglichkeit, einen Doktortitel zu erwerben.
Die Bestrebungen regionaler Kooperationen wie dem MERCOSUR zur Vereinheitlichung der universitären Laufbahn stehen erst am Anfang, auch wenn Übereinkünfte bei den Akkreditierungsverfahren erzielt wurden. Zu dieser Komplexität kommen noch die nicht-universitären Institute und Fachschulen hinzu, die überwiegend privat sind und geringere Zulassungsbeschränkungen aufweisen. Sie bilden überwiegend in technischen Berufen aus und ihr Abschluss liegt unter dem Niveau der Universitäten. Sie befinden sich im Verhältnis zu den Universitäten in der Mehrzahl, jedoch sind es meist kleine Institutionen, sodass sie prozentual in allen Ländern weniger Studierenden zum Abschluss verhelfen. In allen Ländern dominiert also der universitäre Abschluss, wobei besonders Mexiko, Chile, Bolivien und Kolumbien hervorzuheben sind, wo mindestens vier von fünf Abschlüssen an einer Universität gemacht werden. Dieses Verhältnis hat einige Autoren dazu veranlasst, von einer „Überakademisierung“ der lateinamerikanischen Bildungslandschaft zu sprechen, weil die technische Berufsausbildung besser an die konkreten Probleme der Regionen und Provinzen der Länder angepasst sei, wohingegen die universitären Abschlüsse für AkademikerInnen in Dienstleistungsberufen dem tatsächlichen Strukturwandel der Wirtschaft vorauseilen. Das Bildungssystem produziere demzufolge eine Diskrepanz zwischen Ausbildungsberufen und tatsächlicher Nachfrage am Arbeitsmarkt. Dennoch verzeichnet Lateinamerika eine steigende Nachfrage nach Universitätsstudiengängen von Seiten der SchulabgängerInnen, und dies zusätzlich zum natürlichen Bevölkerungswachstum.