Zwischen Schmerz und Hoffnung

Diese Stimme. An irgendjemanden erinnert sie. Inbrünstig, wehklagend. Beim letzten Auftritt von Riosentí stellt sich dieser musikalische Déjà-vu-Effekt ein. Es ist ein kleiner, intimer Gig im Kölner Allerweltshaus im Herbst 2018. Initiativen, die zum Thema Ernährungssouveränität arbeiten, haben sich an dem Tag zur Vernetzung getroffen, Referenten aus Mexiko sind zu Gast. Dann treten Josué Avalos und Aline Novaro auf, der zweistimmige Gesang lediglich begleitet von Gitarre und Jarana Jarocha (einer kleinen mexikanischen Gitarre, die aus der Region Veracruz stammt). Der 40 Jahre alte Josué Avalos ist als Musiker in Köln und darüber hinaus mittlerweile eine feste Größe: In den 2000-er-Jahren war der ursprünglich aus dem mexikanischen Morelia stammende Musiker bei der Mestizo-Formation „La Papa Verde“, später bei der Latino-Hiphop-Band „Los Chupacabras“ aktiv; als Solokünstler hat er zwei Alben herausgebracht (siehe Interviews in ila 286 und ila 357 sowie CD-Rezension in ila 372).

Die 29-jährige Aline Novaro aus Buenos Aires ist seit drei Jahren seine musikalische Partnerin. Zusammen bilden sie Riosentí, „ein musikalisches Projekt auf Reisen“, so die Selbstbezeichnung. Nun haben die beiden Anfang 2019 ihr zweites Album veröffentlicht: „Raíz de Viento“ (ihr erstes, das zwei Jahre zuvor erschien, war mit „Vertrauen“ betitelt). Im Vergleich zu früheren Aufnahmen ist Alines Gesang im Lauf der Zeit stärker in den Vordergrund gerückt und hat eine frappante Entwicklung durchgemacht. Wenn die zierliche, auf den ersten Blick schüchtern wirkende Frau zu singen beginnt, wird das Publikum vom Volumen und Ausdruck ihrer Stimme überrascht. „Ich habe in den letzten Jahren viel gelernt, bei den verschiedensten Leuten Unterricht genommen“, erzählt sie nach dem Konzert.

Beim Hören von „Raíz de Viento“ verstärkt sich der Eindruck. Diese Stimme. An wen erinnert sie noch mal? Da gab es dieses Album vor 20 Jahren. Ende der 90er-Jahre sorgte „La Llorona“ von der kanadisch-mexikanischen Sängerin Lhasa für Begeisterung, auch weit über die Kreise der Fans von „Worldmusic“1 hinaus. Einprägsame, melancholiegesättigte Melodien, elektronikfreies akustisches Arrangement, das dennoch groovt. Und diese Stimme. Klagend, ondulierend, mitunter rauchig-kehlig rezitierend.

Aline Novaro hat sich anscheinend von diesem Gesangsstil inspirieren lassen. Im ersten Stück „Alué“, einem Song, der zwischen Moll und Dur hin- und hergleitet, ist Aline für den melancholischen Strophenpart, Josué für den hoffnungsvolleren Refrain zuständig. Ein schönes Zusammenspiel in dem Titel, der übrigens nach dem Namen ihres gemeinsamen Sohnes benannt ist.

„A BsAs“ ist eine verträumte, innige Liebeserklärung, in der Josué mit seinem klaren Gesang den Leadpart übernimmt. Das dritte Stück auf dem Album, „Carnavalito“, klingt, wie es der Titel bereits ankündigt: wie Musik aus dem peruanischen oder bolivianischen Altiplano, begleitet von Bombo und Charango, der weibliche Gesangspart – typischerweise – recht hoch. In „Primeras Lluvias“ sinniert Josué, poetisch verpackt, über die Themen Herkunft und Diaspora. Auch „El huerto“ kreist um Ankommen (in Gestalt des Gemüsegartens, des huerto) und Wanderschaft, getragen von Alines intensivem Gesang, das musikalische Arrangement hier wieder andin. Mit „Los Jarritos“ kehren die beiden im Duett musikalisch nach Mexiko zurück, Josués virtuoses Gitarrenspiel kann sich hier hervorragend entfalten. Die letzten drei Stücke des Albums spielen verstärkt auf der melancholischen Klaviatur: „Árbol“, „En tu mirada“ und „Raíz de Viento“ sind musikalisch eher abgründig, die Inhalte von Schmerz und Nostalgie geprägt. „En tu mirada“ ist zwar wieder ein Liebeslied, allerdings dieses Mal mit einer tragischen Grundierung; „Raíz de viento“ schließlich ein zweistimmiges A-Capella-Stück.

Fans von Songwriting, von Folkloretraditionen aus den unterschiedlichsten lateinamerikanischen Regionen kommen bei „Raíz de Viento“ auf jeden Fall auf ihre Kosten, wobei insgesamt die erste Hälfte des Albums stärker mitnimmt und auch gefälliger, weil sie weniger sperrig ist. Und live ist das Duo unbedingt empfehlenswert! Zurzeit touren Riosentí ausgiebig mit ihrem neuen Album, im Moment treten sie in Mexiko auf, aber auch in Europa sind sie schon viel herumgekommen.