Viele jüdische RegisseurInnen haben eine besondere Sensibilität für die Aufarbeitung von Diktaturen und Gewaltverhältnissen, auch wenn es dabei nicht immer um Antisemitismus geht. David Blaustein recherchiert in seinem Dokumentarfilm Botín de guerra (Kriegsbeute, 1999) die Kindesverschleppungen während der argentinischen Militärdiktatur. Der Spielfilm Hermanas (Schwestern, 2005) von Julia Solomonoff kreist um die persönliche Mitverantwortung einer jungen Frau am „Verschwindenlassen“ von Oppositionellen während der Diktatur und um die Spätfolgen der Wunden, die diese Zeit gerissen hat. Der Brasilianer Cao Hamburger wählt für seinen autobiographisch geprägten Spielfilm O ano em que meus pais saíram de férias (Das Jahr, als meine Eltern im Urlaub waren, 2006), der im Jahre 1970 spielt, die Perspektive eines Zwölfjährigen, dessen Eltern von einem Tag auf den anderen ohne nähere Erklärung in die „Ferien“ fahren. Der Junge kommt zunächst bei seinem jüdischen Großvater in São Paulo unter. Als auch mit diesem etwas Unvorhergesehenes passiert, nimmt ihn ein älterer Mann unter seine Fittiche, der in einer Synagoge arbeitet.
Die Filme des Mexikaners Arturo Ripstein, eines der bedeutendsten Regisseure Lateinamerikas, stellen eine bittere Kritik an gesellschaftlichen und individuellen Gewaltverhältnissen dar. Seine zumeist vor einem diffusen, archetypischen Hintergrund spielenden Filme sind von faschistoiden Charakteren, Zwangsneurotikern und Tyrannen bevölkert. In El castillo de la pureza (Das Schloss der Reinheit, 1972) sperrt ein Mann seine Familie 18 Jahre lang im Haus ein. Frau und Kinder werden nicht nur körperlich malträtiert, sondern müssen sich auch Hasstiraden gegen Ratten und anderes Ungeziefer anhören, das angeblich die Außenwelt unbewohnbar macht. In seinem nächsten Film wird Ripstein historisch explizit: El Santo Oficio (Die Inquisition, 1973) spielt im Mexiko des 16. Jahrhunderts, als den Juden die Schuld am Ausbruch einer Epidemie zugeschoben wurde. Ein zum Christentum übergetretener Jude denunziert als Dominikanermönch seine eigene Familie, jüdische Riten zu praktizieren. Alle werden verhaftet und von der Inquisition gefoltert.
Einige lateinamerikanische RegisseurInnen, die von europäischen Juden abstammen, leben seit Jahren in Europa, drehen aber ihre Filme vorwiegend in Lateinamerika. Der 1929 in Berlin geborene Peter Lilienthal emigrierte 1939 mit seiner jüdischen Familie nach Uruguay. In den 50er Jahren kehrte er nach Deutschland zurück, um zu studieren. Lilienthal, einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films der 70er Jahre, realisierte zahlreiche Filme, die sich mit der Repression und den Diktaturen in Lateinamerika auseinandersetzen. Der Roman Cuarteles del invierno von Osvaldo Soriano diente Lilienthal als Vorlage für Das Autogramm (1983/84). Die Geschichte spielt in einer südamerikanischen Diktatur, die unschwer als Argentinien zu identifizieren ist. Einen Bandoneonspieler und einen Schwergewichtsboxer verschlägt es in eine Provinzstadt, wo ein Sportspektakel veranstaltet wird.
Die Repression ist auf Schritt und Tritt zu spüren. Man ahnt, dass sich hinter der idyllischen Fassade Furchtbares abspielt. Der einzige, der es wagt, den Mund aufzumachen, ist ein Mann namens Ignatz Zuckermann, den alle für verrückt halten. Er raunt dem Bandoneonspieler zu: „Fast jeder hier hat einen Toten. Als ob eine Epidemie sie umgebracht hätte.“ Die Tatsache, dass Ignatz Zuckermann ein jüdischer Name ist, ist natürlich kein Zufall. In den meisten von Lilienthals Filmen geht es um die alltägliche Gratwanderung zwischen Überlebenskunst und Anpassung in einer Diktatur und um das Entstehen von Solidarität. So dreht sich David (1978/79), der im Berlin der Nazizeit spielt, um einen jüdischen Jungen, der versucht, sich mit diversen Kniffs durchzuschlagen.
Die Themen Diktatur, Flucht, Vertreibung und das Hin- und Herpendeln zwischen den Kontinenten prägen auch die Filme von Jeanine Meerapfel, die 1943 als Tochter deutsch-jüdischer Emigranten in Buenos Aires geboren wurde und in den 60er Jahren nach Deutschland kam. In ihrem Dokumentarfilm Im Land meiner Eltern (1981) mischt Meerapfel eigene Gedankengänge mit Interviews von anderen Juden und Jüdinnen, die – wie sie selbst – zu diesem Zeitpunkt in West-Berlin leben. Immer wieder stellt sie sich in laut gesprochenen Gedankengängen, die dem Film unterlegt sind, die Frage, wo sie hingehört. Da die Juden Jahrhunderte lang immer hätten fliehen müssen, hätten sich „die Wurzeln in die Luft entwickelt, weil das die einzige Art ist, zu überleben“. In dem Spielfilm Malou (1980/81) gerät Hannah, die in Argentinien geboren wurde und in Berlin lebt, in eine Beziehungs- und Sinnkrise, die sie veranlasst, nach den Spuren ihrer Mutter Malou zu suchen, einer französischen Animierdame, die während der Nazizeit mit ihrem jüdischen Ehemann nach Buenos Aires emigriert war.
Auch die Menschenrechtsverletzungen während des Militärregimes in Argentinien und die Suche nach den Verschwundenen beschäftigen Meerapfel immer wieder. Ihr Spielfilm La amiga (1987) erzählt die Geschichte zweier Frauen, die während ihrer Jugend in Buenos Aires enge Freundinnen waren und nach dem Ende der Militärdiktatur wieder aufeinandertreffen. Beide sind von den Erfahrungen der Repression gezeichnet: Raquel, eine erfolgreiche Schauspielerin jüdisch-deutscher Abstammung, kehrt aus dem Exil in Deutschland zurück, wo sie nie heimisch geworden ist. María ist auf der Suche nach ihrem Sohn, der von den Militärs verschleppt wurde, und schließt sich den Müttern der Plaza de Mayo an. Meerapfels 1995 gedrehter Spielfilm Amigo mío erzählt von der Flucht eines Vaters und seines Sohnes während der Militärdiktatur. Die Eltern der Hauptperson Carlos sind einst vor den Nazis nach Argentinien geflohen. Nun wird seine Frau verschleppt, und er muss versuchen, sich und ihren gemeinsamen Sohn in Sicherheit zu bringen. Jeanine Meerapfel meint dazu: „Diese Wiederholung der Geschichte hat mich interessiert. Ein Zyklus aus Geschichten von Menschen, die nicht da bleiben können, wo sie gerade ein bisschen Wurzeln geschlagen haben. Das ist heute die Situation von vielen Menschen in der Welt.“
Wenn es um jüdische Themen im lateinamerikanischen Kino der letzten Jahre geht, fällt vielen spontan der uruguayische Film Whisky (2004) von Pablo Stoll und dem mittlerweile verstorbenen Juan Pablo Rebella ein. Interessanterweise war aber keiner der beiden Autoren jüdischer Abstammung. Allerdings arbeiteten einige Juden im Drehteam mit – allen voran der Produzent und Cutter Fernando Epstein sowie der Schauspieler Daniel Hendler und die Schauspielerin und Regisseurin Ana Katz. In Whisky geht es um den Inhaber einer kleinen Strumpffabrik in Montevideo namens Jacobo Köhler, einen älteren Herrn, der ein gleichförmiges, tristes Leben führt. Seine Routine gerät durcheinander, als sein in Brasilien lebender Bruder zu Besuch kommt, um den ersten Todestag der Mutter nach jüdischem Ritual zu begehen. Da es Jacobo peinlich ist, sich dem Bruder als einsamer Junggeselle zu präsentieren, bittet er seine langjährige Angestellte Marta, für ein paar Tage seine Ehefrau zu mimen. Whisky ist ein melancholischer, zuweilen subtil komischer Film der kleinen Gesten. Er zeigt die Lebenslügen seiner Protagonisten, ohne sie bloßzustellen.
Pablo Stoll meinte zu seinem Bezug zu der Geschichte: „Eine Zeitlang fragte ich mich, warum wir diesen Film machten. Keiner von uns ist 60 Jahre alt, noch sind wir Juden, noch haben wir eine Fabrik. Als wir das Drehbuch schrieben, merkten wir, dass diese Personen sich vielleicht gar nicht so sehr von uns unterschieden. Dass wir nicht so entfernt waren von diesen drei Formen der Einsamkeit. Das konnte eine Projektion von uns selbst sein, von dem, was wir in 20 oder 30 Jahren sein könnten. Hinter der Maske von Jacobo, Hermán und Marta traten wir mit unseren eigenen Ängsten in Kontakt.“
Niemand in Lateinamerika verkörpert derzeit so sehr den Inbegriff des jüdischen Filmemachers wie der 1973 geborene Argentinier Daniel Burman. Diesen Ruf verdankt er nicht nur den thematischen Bezügen, sondern auch dem ironischen Unterton, der die Mehrheit seiner Filme prägt und der oft als typisch „jüdischer Humor“ etikettiert wird. In seinem Erstlingsfilm Un crisantemo estalla en Cincoesquinas (Eine Chrysanteme explodiert in Cincoesquinas, 1997) taucht eine jüdische Gestalt lediglich am Rande auf. Der Film, der in der Vergangenheit spielt und eine allegorisch-verrätselte Erzählweise hat, ist von karikaturhaft überzeichneten archetypischen Gestalten bevölkert. Eine von ihnen ist ein orthodoxer Jude, den es auf seiner endlosen Wanderschaft nach Argentinien verschlagen hat.
Burmans weitere Filme spielen alle in der Gegenwart und haben einen weitgehend realistischen Touch. In der Triologie Esperando al mesías (Warten auf den Messias, 1999), El abrazo partido (Die geteilte Umarmung, 2004) und Derecho de familia (Familienrecht, 2006) erzählt er vom Universum jüdischer Familien und den Versuchen junger Leute, ihren eigenen Weg zu finden. In allen drei Filmen heißen die Protagonisten Ariel, werden von dem uruguayischen Schauspieler Daniel Hendler verkörpert, leben in Buenos Aires und kommen aus der gegen den sozialen Abstieg kämpfenden Mittelschicht. In El abrazo partido stammt der Protagonist von polnischen Juden ab. Sein Vater ging vor vielen Jahren als Kriegsfreiwilliger nach Israel und kehrte nicht mehr zurück. Die Söhne blieben bei der Mutter, die in einer Einkaufspassage im Stadtteil Once einen Laden für Damenunterwäsche betreibt. Burman, der selbst in diesem Viertel aufgewachsen ist, zeigt einen Mikrokosmos aus hektischer, gleichförmiger Betriebsamkeit. Im fahlen Neonlicht scheinen sich alle in „lebendiges Inventar“ eines Ortes zu verwandeln, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Während sein Bruder es sich in seinem Warenarsenal aus billigen Importartikeln gemütlich gemacht hat, möchte Ariel nichts wie weg von hier.
Derecho de familia spielt im Juristenmilieu. Vater Perelman, seines Zeichens Anwalt, reicht es nicht, dass sein Sohn Ariel ebenfalls Jura studiert hat. Er möchte, dass er in seine Praxis einsteigt. Ariel blockt diese Versuche anfangs ab, lässt sich dann aber doch vom Vater breitschlagen, ihn ein paar Tage lang bei seinen alltäglichen Geschäften zu begleiten. Ariel ist mit der Katholikin Sandra verheiratet, aber im Film spielt die Religion kaum eine Rolle. Zwar gibt es eine Szene, wo die Beschneidung ihres neu geborenen Sohnes gefeiert wird. Dreh- und Angelpunkt des Films sind jedoch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn und die ganz profanen alltäglichen Freuden und Probleme einer jungen Kleinfamilie. In Derecho de familia bewegt Burman sich bewusst ein Stück weit aus dem jüdischen Milieu heraus. Offenbar hat der Regisseur keine Lust, in einer selbstfabrizierten Nische zu verharren. Wie er der argentinischen Zeitung Página 12 erklärte, gab es nach El abrazo partido „kleine Ereignisse, die mich dazu brachten, ein bisschen Abstand von der Thematik zu nehmen“. So hätten ihn viele Leute gefragt, warum er die Juden als so „dekadent“ darstelle: „‚Junge’ – warfen sie mir vor – ,warum hast du uns in einer so hässlichen Einkaufspassage angesiedelt?’“. Burman witzelte in besagtem Artikel, der vor der Premiere des Films veröffentlicht wurde: „Wenn ich jetzt eine Geschichte von Anwälten mache, glaube ich nicht, dass 1500 Anwälte ankommen, oder dass sie mich anrufen, oder dass sie mir Briefe schreiben. Das ist eine kleine Unsitte, in die ich mich einbeziehe und die darin besteht, dass man unmittelbar dann, wenn etwas erzählt wird, was mit der jüdischen Kultur in Zusammenhang steht, darüber nachdenkt, ob dies korrekt ist oder nicht.“
In seinem letzten Film El nido vacío (Das leere Nest, 2008) entfernt sich Daniel Burman noch weiter von seinen autobiographischen Bezügen. Erzählt wird die Geschichte von Leonardo und Martha, einem Intellektuellenpaar um die 50, das nach dem Auszug der Kinder sein Leben und seine Beziehung neu sortieren muss. Die religiöse Abstammung der beiden Protagonisten spielt keine Rolle. Trotzdem kommt der Bezug zum Judentum durch den Seiteneingang ins Spiel: Die Tochter Julia hat einen Schriftsteller geheiratet und ist mit ihm in sein Heimatland Israel gezogen. Gegen Ende des Films besuchen Leonardo und Martha das junge Paar am Toten Meer. Daniel Burmann meint dazu: „Ich dachte, dieser Film wäre kein bisschen jüdisch. In Israel zu drehen, ergab sich auf natürliche Art: Ich war kurz zuvor dorthin gereist und als ich die Landschaften sah, sagte ich mir: ‚Hier möchte ich drehen’. Man könnte denken, dass das Jüdische da ist, aber ich denke, es hat mehr etwas mit der Erzählung, mit der Bedeutung des Wortes zu tun. Die Bedeutung des Wortes als Heilung und Erlösung ist ein wichtiges Thema in dem Film und so etwas wie eine Anspielung auf jüdisch-christliche Elemente.“
Diese Aussage Daniel Burmans charakterisiert treffend die unterschwellige Präsenz des Judentums in etlichen Filmen von RegisseurInnen jüdischer Abstammung. Es geht weniger um Religion, sondern vielmehr um Mentalitäten und Lebensphilosophien, säkularisierte Gewohnheiten und Alltagsrituale – und um so etwas wie das kollektive Gedächtnis. Ähnliches ist ja auch bei vielen Filmen jüdischer RegisseurInnen aus Nordamerika oder Europa zu beobachten – man denke nur an Woody Allen. In diesem Sinne verhalten sich die FilmemacherInnen jüdischer Herkunft wenig anders als ihre KollegInnen christlicher Abstammung: Auch wenn viele selbst agnostisch oder atheistisch sind, nehmen sie doch Bezug auf die Traditionen, von denen sie geprägt sind – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne.
Daniel Burman meint zu der Gratwanderung zwischen dem Bezug auf die jüdische Tradition und der Vermeidung, auf diese Rolle festgelegt zu werden: „Wir sind Juden der Diaspora, was bedeutet, dass es für uns aus vielen Gründen notwendig ist, Teil der Gesellschaft zu sein. Für mich ist die Frage, integriert zu sein oder nicht, kein Dilemma. Und nicht alles, was wir Juden tun, muss von unserem Judentum durchdrungen sein.“
Jeanine Meerapfel geht sogar noch einige Schritte weiter. Für sie ist Identität etwas Dynamisches. So meinte sie in einem Interview anlässlich des Filmstarts von Amigo mío: „Wenn es für mich persönlich eine kulturelle Identität gibt, dann in den Filmen, die ich mache. Eine der Fragen, die Amigo mío stellt, ist allerdings auch, ob man eine solche braucht, ob sie sich nicht verändert mit den Erlebnissen, die man hat, mit den Menschen, die man trifft. Ein Freund von mir hat mal gesagt: ‚Ich trage meine Heimat in den Schuhen’. Ein sehr schönes Bild. Die tragen dich irgendwohin.“