Von Johannes Kretschmer, der in Rio de Janeiro Literaturwissenschaft lehrt, habe ich erfahren, dass Luis Sergio Krausz in Brasilien seines vornehm-zurückhaltenden Auftretens wegen als Sir bezeichnet wird. Das verwundert einen nicht, wenn man dieses autobiografische Prosastück liest, das sich mehr noch als sein Debütband „Verbannung. Erinnerung in Trümmern“ (2014) durch eine überaus gewählte Sprache, ein immenses historisches Wissen und eine Art erhabene Ironie auszeichnet. Krausz beschreibt in „Deserto“ ein paar Wochen Anfang der achtziger Jahre, die er im Anschluss an einen Arbeitseinsatz in einem Kibbuz mit Verwandtenbesuchen in Israel und – ohne Genehmigung der zionistischen Jugendgruppe, die die Reise finanziert hatte – in England verbracht hat.
London, England, Europa, das ist ihm und seinen Angehörigen in São Paulo die Chiffre für alles, was sie in der Neuen Welt zu vermissen glauben: Salzburger Festspiele (aber auch Nockerln), Wiener Walzer, bestes britisches Kammgarn. Und natürlich die untergegangene, nein: vernichtete jüdische Kultur, von der Luis’ Großmutter in ihren lichten Momenten erzählt. Der Kontinent, nach dem sich die Verbannten immer noch sehnen, auch wenn es ihnen in Brasilien an nichts fehlt, außer an der Freiheit, ihren erworbenen Wohlstand ohne Angst vor Einbrechern oder Straßenräubern zur Schau stellen zu können.
Die erwähnte Ironie gründet zum einen auf dieser rückwärtsgewandten Sehnsucht, zum andern auf Krausz’ Begegnungen mit seinen Großonkeln und deren Freunden, die nicht so recht wissen, wie sie die in Österreich oder Deutschland erworbene Kultur mit dem ihrem Wesen fremden Zionismus verbinden sollen. Die einen, in Tel Aviv, haben erst gar nicht Hebräisch gelernt, weil sie wie der Dramatiker Max Zweig befürchten, die deutsche Sprache zu verlernen; die andern, in London, können sich bestenfalls vorstellen, den Sommer in England und den Winter in Israel zu verbringen und auf diese kommode Weise zu einem Ausgleich zwischen der europäischen Kultur, an der sie hängen, und dem jüdischen Nationalismus, in dessen Schuld sie zu stehen glauben, beizutragen.
Krausz’ Erinnerungen an seine Verwandtenbesuche sind witzig und traurig zugleich. Witzig wegen der Situationskomik seiner Betrachtungen; traurig, weil er Begegnungen schildert, die im Grunde gar keine sind, weil seine Verwandten und er in unterschiedlichen Welten leben. Schon die rudimentäre Verständigung gelingt nur durch ein Kauderwelsch aus jiddischen und deutschen Sprachbrocken. Krausz denkt nicht daran, die Schärfe seiner Beobachtungen zurückzunehmen; ihm geht es eben nicht um Nostalgie, sondern um das Verschwinden von Erfahrung. Deshalb schont er auch nicht den Jungen, der er einmal war, und benennt dessen Neid auf Felicity, eine weitläufige Verwandte in der britischen Provinz, weil sie frei war von „wehmutsvollen Erinnerungen an eine vertraute Erde, die man hatte zurücklassen müssen. Felicity war es gegeben, einfach zu existieren, wie Bäume, Felsen und die grünen Hügel. Die bange Frage nach dem Woher gab es in ihrer Existenz nicht.“
Der Sir aus São Paulo hat bei aller Ironie ein nüchternes, erkenntnisreiches Buch geschrieben; Manfred von Conta, der in der Zwischenzeit verstorben ist, hat es meisterhaft übersetzt.