„Die Vernunft hat Leidenschaften, von denen das Herz nichts weiß.“ Mit dieser Umkehrung eines Satzes des französischen Philosophen Pascal versucht Carlos Ivan Degregori in einem der Beiträge dieser ila die militärisch-politische Organisation Sendero Luminoso zu charakterisieren. Tatsache ist, daß der „leuchtende Pfad“ Eingang in alle sozialen Schichten und Klassen der peruanischen Gesellschaft gefunden hat. Die unteren Führungskader und die Basis von Sendero sind marginalisierte Jugendliche aus den (indianischen) Andendörfern und auch aus den Slums der Städte. Sie haben sozial und sozialpsychologisch allen Grund zur Rebellion. Die Führung kommt dagegen mehrheitlich aus mittelständischen oder auch reichen peruanischen Familien. Welche Gründe auch immer ihr Handeln beflügeln mögen, die Sendero-FührerInnen sind strenge „LinksfundamentalistInnen“ und von ihrer Mission zutiefst überzeugt.

Unter einigermaßen erträglichen Lebensbedingungen wäre Sendero mit seiner militanten Heilsbotschaft kaum beachtet eine Sekte unter anderen Sonderheiten Perus geblieben, wie wir ähnliches ja auch etwa aus der jüngeren Geschichte der BRD kennen. Die katastrophale Entwicklung der peruanischen Wirtschaft und Gesellschaft zusammen mit der gewalttätigen und rassistischen Geschichte des Landes aber hat einen sozialpolitischen Nährboden geschaffen, auf dem auch Heilsbotschaften verzweigte soziale Wurzeln treiben können, wenn sie eine elementare Bedingung erfüllen: in der grauen Trübsal von Armut und Hoffnungslosigkeit wenigstens einen Schimmer realisierbarer Zukunftsperspektive aufzeigen zu können. Wo es Bauern gibt ohne Land und noch mehr ArbeiterInnen ohne Hoffnung, ihre Arbeitskraft verkaufen zu können, bleibt neben der vielbeschworenen Überlebenswirtschaft des sogenannten „informellen Sektors“ nur noch die dumpfe Resignation – oder der Griff zur Waffe.

Es ist eine Binsenwahrheit, daß die männliche Jugend vergleichsweise eher bereit ist, auch gewalttätige Wege zur Lösung sie bedrängender Probleme einzuschlagen. In Peru beteiligen sich darüber hinaus (wie in anderen Guerillaorganisationen auch) relativ viele Frauen am bewaffneten Kampf. Wenn nun eine Organisation in der Lage ist, viele kampfbereite Individuen zu organisieren und zu bewaffnen, ist das – egal wie etwa europäische, US-amerikanische oder andere Intellektuelle dazu stehen mögen – ein Stück Hoffnung für Menschen, die ansonsten wenig zu erhoffen und nichts zu verlieren haben. Zwar entmündigt die senderistische Militärmaschinerie und verlangt jedes Opfer von ihren Gliedern, aber sie erhöht die Entrechteten wenigstens als Kollektiv und sie schützt und ernährt sie. Organisiert von einer formal egalitär auftretenden neuen Elite mit dem Ziel, eine Art machtpolitische tabula rasa herzustellen, werden die Schwachen stark und erhalten Notleidende Schutz. Wo das kontrollierte Chaos von Geld und Dingen die Gesellschaften nicht mehr zu steuern vermag, ist Sendero eine mögliche Alternative für die Opfer des alles zersetzenden Weltmarkts: Mit der Gewalt der Waffen wird regional und für kurze Zeit das unkontrollierbar gewordene Chaos der Dinglichkeit zerschlagen, um sich danach neu entfalten zu können. Daß dabei auch zahllose Menschen geopfert werden, gehört zum Kalkül der bewaffneten Macht (gleich welcher ideologischer Richtung).

Der Einsatz politischer Mittel wird immer vergeblicher angesichts einer politisch nicht mehr kontrollierbaren politökonomischen Macht, deren Interessen ausschließlich auf kurzfristige Gewinnmaximierung orientiert sind – ein Phänomen, das auch in den sogenannten „entwickelten Demokratien“ weidlich bekannt ist. Wo kein Streik mehr nützt, weil es nichts zu bestreiken gibt, wird die Arbeitervertretung zur Ohnmacht verdammt, und wo sozial nichts mehr zu verteilen ist, nützen auch soziale Hilfsorganisationen nicht mehr viel.

Trotz teilweise spektakulärer Erfolge ist Sendero noch lange nicht die einzige Alternative zur mehr und mehr versagenden bürgerlichen Macht in Peru. Ein Grund dafür liegt in der Menschenverachtung dieser Organisation, die zu allen Volksorganisationen ein rein taktisches Verhältnis hat und nur darauf lauert, sie als eigenständiges Gebilde unterzuordnen oder – wenn das nicht durchführbar ist – zu eliminieren. Sendero wird nicht nur von den Herrschenden in Peru gefürchtet, auch die Mehrzahl der Intellektuellen und viele Mitglieder jener Klasse, die Sendero zu vertreten vorgibt, die peruanischen ArbeiterInnen, halten Distanz zum Pfad und sie wissen warum.