Last der Moderne

Die monatelange rassistische Hetze der etablierten Parteien gegen Flüchtlinge, vor allem die unsägliche Asyldebatte, mit der nicht zuletzt von der Schuld und den Schuldigen an den sich rapide verschlechternden Verhältnissen im Osten der Republik abgelenkt werden soll, trägt ihre furchtbaren Früchte: Der unzufriedene Mob folgt nur allzu gerne den Faschisten, um Sündenböcke zu lynchen. Die „Hüter von Recht und Ordnung“ sind erstmal überhaupt nicht aufgetaucht. Scheinheilige und verständnisseibernde Politiker treiben einem dann – zusätzlich zu dem Grauen – Tränen der Wut in die Augen.

Wie man sich angesichts dieser Ereignisse und der weiterhin stattfindenden feigen und widerwärtigen Angriffe auf AusländerInnen und Flüchtlingsheime mit Kunst und Kultur in Mexico beschäftigen kann?? Jenseits der Barbarei zwischen Plattenbauten und Kanzleramt gibt es den Widerstand an den Wurzeln der Kultur; mancherorts seit 500 Jahren und auch gegen jene, die Kultur nationalisieren wollen. Flüchtlinge mit und ohne Erfahrung im Widerstand bringen Kulturen mit, die manchmal schwerer zu verstehen sind als die Come-together-Werbung von Stuyvesant – reicher sind sie allemal.

Am 12. Oktober, dem aktionsreichen Gedenktag an die 500jährige fremdbestimmte Entwicklung Lateinamerikas und an die ebenso lange währenden Bemühungen Europas, die Welt mit ihrem Modernitätsschleier zu überziehen, wird auch Mexico – neben anderen lateinamerikanischen Metropolen wie Managua, Bogotá, Quito und Santo Domingo – Schauplatz wichtiger kontinentaler Treffen sein. Auf diesen werden sich die fortschrittlichen, nicht unbedingt die „modernsten“ Vertreter des Kontinents versammeln, um gegen die Verharmloser und Beschöniger einer nun schon 500 Jahre dauernden Beschädigung dortiger Kulturen und Lebensweisen zu protestieren. Mexico, als unmittelbares Nachbarland der USA, ist im doppelten Wortsinn Schwellenland: Die mexicanisch-nordamerikanische Grenze bildet immer noch eine Schwelle zwischen nördlicher und südlicher Hemisphäre, die täglich Tausende von LateinamerikanerInnen zu überwinden suchen; zum anderen gibt Mexico sich selbst gern das Image eines Landes, das sich an der Schwelle des Eintritts in die Moderne befindet. Mit den hier abgedruckten Artikeln versuchen wir, die Widersprüchlichkeiten des Umbruchprozesses, in dem sich das Land befindet, zum Ausdruck zu bringen.

„Mexico 1992, ein offenes Buch“ lautet der Titel der Hauptausstellung, die im Rahmen der diesjährigen 44. Frankfurter Buchmesse (29.9. bis 5.10.) in der Kongreßhalle zu sehen sein wird. „Dabei wird von der Vorstellung ausgegangen, daß Geschichte, Überlieferung und Gegenwart Mexicos ein den Zeiten und der Moderne zugewandtes, offenes Buch bilden“, heißt es in dem Text der AusstellungsmacherInnen. Mit der beabsichtigten Ratifizierung des Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada schreibt die gegenwärtige mexikanische Regierung eine neue Seite in diesem „der Moderne zugewandten Buch“. Ob es damit leserlicher wird, bleibt abzuwarten.

P.S. In den nächsten Wochen wird die 5. Ausgabe der ila-latina, der spanisch- bzw. portugiesischsprachigen Beilage der ila erscheinen. Die ila-latina wird der nächsten ila-Ausgabe nicht mehr wie in der Vergangenheit beiliegen. ila-AbonnentInnen können die ila-latina weiterhin kostenlos erhalten, wenn sie kurz schriftlich (Postkarte genügt) erklären, daß sie die ila-latina weiterhin beziehen möchten.