Mittwoch, d. 12. Oktober 1892: Auf den Tag genau waren es 400 Jahre, daß Christoph Columbus für Europas Herrscher Amerika entdeckte. Nach 400 Jahren feudaler Ausplünderung, Versklavung Amerikas und Afrikas sowie schrittweiser Ausweitung des damaligen Weltmarktes hatten das europäische und das US-amerikanische Bürgertum definitiv die Führung bei der Ausbeutung der technologisch weniger modernen Welt übernommen.
Imperialismus hieß das Zauberwort jener Zeit. Das britische, französische und holländische Weltkapital hatten riesige Gebiete und zahllose Völker unter ihre politische und wirtschaftliche Gewalt gebracht. Anders als mit direkter Gewalt aus Europa waren die „unmodernen“ Gesellschaften zu jener Zeit nicht für‘s Moderne zu „gewinnen“.
Macht Euch die Erde untertan! Macht möglich viele untertan! Macht Geld, wo und wie auch immer! Der bürgerliche Macho als Eroberer, Entdecker, Missionar, und Philantrop hatte auf allen Ebenen obsiegt. Columbus wurde so wie von selbst zum großen Vorbild im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die „ruhmreichen Thaten“ des erfolgreichen Entdeckers forderten zur Nachahmung auf.
Für die Deutschen stellte sich das so dar: dank der Geldzuflüsse aus dem siegreichen Feldzug Preußen-Deutschlands gegen Frankreich und dank großen Ehrgeizes der politischen und wirtschaftlichen Führer des damals erstmalig „wiedervereinigten“ Deutschlands expandierte das schwarzweißrote Kapital mit mächtigen Schritten. Leider mußte es sich zunächst damit abfinden, daß „schnellere“ Kapitalien fast überall vor den schwarzweißroten Geldern präsent waren.
Das Stimmungsbarometer der Wirtschaft im deutschen Reich stand auf Expansion. Der Arbeiterbewegung im Reich war das in jenen Tagen noch egal, ihr Hauptproblem im Oktober ‘92 war die Choleraepidemie in Hamburg, die Hunderte von ProletarierInnen hinwegraffte. Dementsprechend gab es in den „einschlägigen“ Arbeitermedien kaum Äußerungen zum Entdeckerjubiläum. Die Expansion nach außen befand sich noch im Stadium der Vorbereitung und die Träume der Großmacht zur See wurden noch nicht in den Kruppschen Stahlschmieden umgesetzt.
Ganz anders die bürgerlichen Medien: Sie bereiteten das Terrain für die kommende wirtschaftliche, politische und militärische Expansion. Ihre Berichte reichten von liberal und kritisch gegenüber den feudalkolonialen Exzessen bis zum ungenierten Bejubeln der Taten des Columbus. Manche versuchten gar, den Genuesen als „rothaarig und sommersprossig“ zu germanisieren. Selbst die Kritiker der kolonialen Missetaten konnten sich nicht verkneifen, die Deutschen als potentiell bessere Kolonisatoren zu bestimmen.
Das Jubiläum der Entdeckung Amerikas vor 100 Jahren stand aus deutscher Optik ganz im Zeichen des zu spät gekommenen Neu-Imperialisten. Heute sieht das ein wenig anders aus: Die Zeiten des nackten Besatzungskolonialismus sind (derzeit) vorbei. Die ganze Welt ist bereits für den Zugriff des internationalen Kapitals geöffnet. Die Kraft der nationalen Emanzipation gegen den Kolonialismus – für mehrere Jahrzehnte ein durchaus ernsthafter Gegner der kapitalistischen Durchdringung der Welt – ist gebrochen. Unbehindert kann der Weltmarkt in alle Winkel der Erde vordringen. Die Devise heißt nun Konsolidierung des bestehenden – und tendenziell neue Machtverteilung zuungunsten US-Amerikas.
Vor 100 Jahren wollte der Geist der Zeit den „Mann der That“, den ordinären Eroberer. Die Welt von heute huldigt nicht mehr dem Eroberer, sie würdigt die historischen Ereignisse seiner (un-)Taten, vor allem aber das daraus entstandene „große kulturelle Erbe“ Europas. Die schrecklichen und tödlichen Ereignisse jener Zeit kritisiert man/frau heute sehr wohl auch im bürgerlichen Lager. Mit einer kleinen, indessen höchst bedeutenden Einschränkung: Ausbeutung, Plünderung, Mord und Totschlag gehen in den kritischen Bürgermedien nur auf das Konto individueller Entgleisung. Sie sind keinesfalls immanenter Teil eines Macht- und Ausbeutersystems auf der diesem entsprechenden arbeitsteiligen historischen Stufenleiter.
Die rüden Methoden der Conquista-Individualisten oder der Siedler und Goldsucher in Nord- und Südamerika eignen sich besonders gut zur Herausarbeitung des Bildes von der „Individualschuld“. Und so gesehen verwundert es kaum, daß die Grauen der Sklaverei nur äußerst selten in der bürgerlichen Öffentlichkeit behandelt werden oder daß etwa die Frage der Reparationen der 3. Welt für erlittenes Unrecht (jederzeit noch) einfach übergangen wird.
Und genau bei dieser Frage gibt es deutliche Parallelen und Übereinstimmungen zwischen 1892 und 1992: Fundamentalkritiker wie z.B. Bartolomé de las Casas werden heute wie vor 100 Jahren in den bürgerlichen Medien aufs heftigste angegriffen (siehe auch ila 158). Das veröffentlichte Bild Europas will anders scheinen.