„Impunidad“, das Schwerpunktthema dieser Ausgabe, ist im deutschen nur unzureichend mit „Straffreiheit“ oder „Straflosigkeit“ zu übersetzen. Gemeint ist die Tatsache, daß in den meisten lateinamerikanischen Ländern die Verantwortlichen für staatlichen Terror und schwere Menschenrechtsverletzungen für ihre Taten (bislang?) nicht zur Verantwortung gezogen werden. Gemeint sind aber auch die Folgen für die Opfer, die ihren Peinigern auf der Straße begegnen, sie als Vorgesetzte ertragen müssen oder als akzeptierte Mitglieder der Gesellschaft in den Medien. Angehörige der Opfer sind auf dieselbe Art und Weise den Folterern, Enführern und Mördern ihrer Eltern, Kinder, Geschwister oder auch Freunde ausgesetzt. Das Trauma ihrer Erlebnisse kann so nie ein Ende finden.
Es geht nicht allein um Strafe im eigentlichen Sinne oder nur um Vergeltung, sondern auch, und das ganz entscheidend, um den Sieg über politische Macht und die politisch Mächtigen, denen es in Lateinamerika bislang noch immer über den Weg von Amnestiegesetzen gelungen ist, sowohl sich als auch ihre repressiven Apparate von einer Herrschaftsperiode zur nächsten zu retten und damit jeden Demokratisierungsversuch gleich im Keim zu ersticken.
Seit Jahren kämpfen Menschenrechtsgruppen und Volksorganisationen in vielen Ländern Lateinamerikas gegen die „impunidad“, die nach ihrer Ansicht eine Verhöhnung der Opfer und eine Hypothek für eine echte Demokratisierung darstellt.
Eine Organisation in der Bundesrepublik, die seit Jahren die Bewegung gegen die „impunidad“ unterstützt und begleitet, ist das Nürnberger „Dokumentationszentrum Menschenrechte in Lateinamerika“ (DIML). Die MitarbeiterInnen vom DIML traten mit dem Vorschlag an uns heran, einen diesbezüglichen ila-Schwerpunkt zu gestalten. Das Resultat ist der erste Teil dieses Heftes, den die KollegInnen in eigener redaktioneller Verantwortung erarbeitet haben. Die ila-Redaktion hat zwar auch einige Beiträge beigesteuert bzw. organisiert, aber die letztliche Entscheidung über die Artikel und deren redaktionelle Bearbeitung lag beim DIML. Für uns war es eine positive Erfahrung der Zusammenarbeit, bei der Kräfte gebündelt und gleichzeitig die Diskussion des Themas vertieft werden konnte. Dabei wurde auch weiterer Diskussionsbedarf deutlich, etwa über die Frage, wer Menschenrechtsverletzungen begehen kann (nur Staaten oder z.B. auch bewaffnete Oppositionsgruppen – vgl. den Beitrag „Die Streitkräfte werden solange leben, wie die Republik lebt“), oder darüber, wie bestimmte Entschädigungsleistungen von Zivilregierungen für die Opfer früherer Militärregime einzuschätzen sind (vgl. den Beitrag „Wahrheit und Versöhnung?“).
Bei Gesprächen mit VertreterInnen von Menschenrechtsgruppen und linken Organisationen aus Lateinamerika über die politische Situation in der Bundesrepublik haben wir des öfteren festgestellt, daß die Latinos/as völlig überrascht nachfragten, wenn sie hörten, daß in der Bundesrepublik verschiedene politische Gefangene seit 15 oder sogar 20 Jahren inhaftiert sind. Haftstrafen von einer solchen Dauer waren selbst unter den härtesten Militärdiktaturen in Chile, Argentinien oder Uruguay unvorstellbar. Umso mehr ist es ein Skandal in einem Staat wie der Bundesrepublik, der sich als demokratischer Rechtsstaat bezeichnet und sich auf internationalen Konferenzen als ein Protagonist für die weltweite Durchsetzung der Achtung der Menschenrechte präsentiert. Für uns war dies ein Grund, eine kleine Kampagne zu initiieren, mit der wir auf die Lage der politischen Gefangenen in der Bundesrepublik aufmerksam machen und für ihre Freilassung eintreten wollen.
Die Redaktion