„Kolumbianer(in) zu sein, bedeutet auch, Angst haben zu müssen“, schreibt einer der Autoren in unserem Heft. Angst ist ein Mittel der sozialen Kontrolle, und Angst hindert die Menschen, sich frei entfalten zu können. Wie andere Völker, die sich im Krieg befinden, lebt die kolumbianische Bevölkerung, und insbesondere die Menschen, die sich gegen Mißstände auflehnen und sich für ihre eigenen Rechte und die ihrer Mitmenschen einsetzen, mit der Angst.
Als wir den Kolumbien-Schwerpunkt planten, wollten wir kein Heft über Angst machen, deren Synonym – besser: deren Ursache – die Gewalt ist. Denn über Gewalt aus Kolumbien wird in der bundesdeutschen Presse immer berichtet, das ist das einzige, was diese überhaupt über Kolumbien berichtet. Aber wir haben es nicht geschafft. In den Artikeln der AutorInnen, die wir gebeten haben, für diese ila zu schreiben, ist immer wieder die Gewalt angesprochen, auch wenn diese nicht das Thema des Artikels ist. Gewalt und Angst gehören zum Alltag. Von mehreren AutorInnen wußten wir, daß sie, während sie ihren Artikel schrieben, sich mit dem Tod von einem persönlichen oder politischen Freund oder einer Freundin beschäftigen mußten. Wie ist Schreiben dann überhaupt noch möglich?
Wenn deshalb ungewollt auch in dieser ila-Nummer die Gewalt in Kolumbien zum Hauptthema wird, so hoffen wir, daß die Artikel dennoch dazu beitragen, Stereotypen und Klischees von Kolumbien zu verändern. „Alle Gewalt geht vom Staate aus!“ (und eben nicht von der Mafia) ist der polemische Titel eines Artikels, der eine Bilanz von Tätern und Opfern von Menschenrechtsverletzungen zieht. Die strukturelle Gewalt – der Neoliberalismus – zeigt auch in Kolumbien seine Krallen und sanktioniert drastisch die, die sich dagegen auflehnen. Wegen ihres Streiks gegen die Telecom- Privatisierung werden Fernmeldetechniker des Terrorismus angeklagt. (vgl. Interview)
Aus den Beiträgen der kolumbianischen KollegInnen spricht jedoch nicht primär Angst, sondern ein unbändiger Lebenswillen und die Entschlossenheit, sich dem staatlichen Terror nicht zu beugen. Der tägliche, teilweise wenig spektakuläre Widerstand ist allgegenwärtig, sei es im Kampf der Indígenas um Selbstbestimmung und ihre Rechte, im Kampf der Madres Comunitarias für ihre gewerkschaftliche Organisierung, in der mühevollen, oftmals quälenden Arbeit der Menschenrechtsgruppen oder in den Forderungen der Jugendlichen, die ihren Platz und ihre Freiräume in der Gesellschaft einfordern.
Viele wichtige Themen – Kaffee, Linke, Guerilla, Schwarzenbewegung, Kultur usw. – konnten wir in dieser Nummer aus Platz- und Zeitgründen nicht berücksichtigen. Wir versuchen, sie in den nächsten Nummern aufzugreifen.
die Redaktion
P.S. Diese Ausgabe der ila geht auch allen AbonnentInnen des Kolumbien-Rundbriefs zu, sie gilt als Nr. 32 (Herbst 93) des Rundbriefs. Wir begrüßen die LeserInnen des Kolumbien-Rundbriefs und hoffen, daß ihnen die ila gefällt. Wir freuen uns natürlich sehr, wenn LeserInnen des Kolumbien-Rundbriefs sich entschließen, die ila weiterhin zu lesen und ein Abo bestellen, denn nur mit vielen AbonnentInnen kann die ila weiterhin als unabhängige Stimme zu Lateinamerika bestehen. Zum Neugierigmachen: die nächste ila wird das Schwerpunktthema „Lateinamerikanische AutorInnen in der BRD“ haben und neben Berichten und Interviews zahlreiche Kurzgeschichten, Erzählungen und Gedichte enthalten. Der Schwerpunkt wird zweisprachig sein…