Das Lateinamerika-Magazin

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Lateinamerikanische Literatur aus Deutschland

„Wenn du zehn Lateinamerikaner triffst, schreiben elf davon irgendetwas an Literatur“, bemerkte ein Kollege aus der ila latina, selbst Schriftsteller, einmal schmunzelnd. Grund genug, uns auf eine Reise in die lateinamerikanische Literaturszene in der BRD zu begeben.

Zwei, drei Anrufe genügten und wir pflichtetem unserem ila-latina-Kollegen bei. Unsere Reise wurde keine exotische Exkursion, sondern eine Tour ins Innenleben des hiesigen Literaturbetriebes. Zunächst baten wir LateinamerikanerInnen, die hier leben bzw. gelebt haben, um Beiträge – literarische Texte und Texte über ihr Schreiben. Die meisten sagten sofort zu. Ihre Manuskripte bilden das Herzstück der vorliegenden Ausgabe, die damit fast so etwas wie ein Lesebuch geworden ist – sogar ein allererstes, denn bislang hat noch niemand den Versuch einer solchen (vorläufigen) Anthologie unternommen. Um das Heft noch besser werden zu lassen und die Authentizität der Texte zu erhalten, legen wir alle Texte sowohl im Original als auch in der entsprechenden Übersetzung vor – auch die in Deutsch geschriebenen.

Die lateinamerikanische Literaturszene ist in Deutschland noch viel größer und vielschichtiger, als wir zunächst angenommen hatten: Überall in diesem Land schreiben LateinamerikanerInnen Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Einige nur, um sie mit FreundInnen und KollegInnen auszutauschen und zu diskutieren, andere publizieren ihre Arbeiten bei lateinamerikanischen Verlagen, manche außerdem bei deutschen, und schließlich gibt es AutorInnen, deren Literatur sogar nur in Deutschland erschienen ist.

Für einen Teil der AutorInnen nehmen ihre Erfahrungen in Deutschland einen zentralen Platz in ihrer Literatur ein, während bei anderen dieses Thema keine Rolle spielt und sie sich mit Recht wehren, unter dem Oberbegriff „Ausländerliteratur“ subsumiert zu werden.

Es gab viel zu erfragen. Sind ausländische SchriftstellerInnen mehr als „Edle Wilde“? Wie sehen sie die Deutschen, auch die, die so gerne behaupten, nicht „typisch deutsch“ zu sein? Wie beschreiben sie die hiesige Latino-Szene? Welchen Stellenwert hat die verlassene Heimat? Wie finden die AutorInnen sich im deutschen Literaturbetrieb zurecht? (dieser Gesellschaft mit verschlossenen Türen!) Wollen sie überhaupt dort hinein, welches Publikum sprechen sie an? Ist das Schreiben in der Fremde Chance oder Schicksal, oder ist es ganz egal, wo PC oder Schreibmaschine stehen? Ist die meiste Literatur Lateinamerikas nicht ohnehin außerhalb des jeweiligen Heimatlandes geschrieben? Gibt es Zweisprachigkeit, Sprachwechsel? Haben sich die MigrantInnen ein „drittes Ohr“ bewahrt? Kann man ihnen überhaupt irgendeine Gemeinsamkeit unterstellen?

Natürlich können wir nur einen beschränkten Ausschnitt aus der lateinamerikanischen Literaturszene in Deutschland widerspiegeln; auf viele AutorInnen sind wir zu spät oder noch gar nicht aufmerksam geworden, oder es kam einfach kein Kontakt zustande. 

Wegen der vielen spannenden Texte und dem unumgänglichen Luxus der Zweisprachigkeit hat diese Nummer einen um ein Drittel größeren Umfang als eine Normalausgabe der ila. Für uns wieder einmal ein arbeitsmäßiger und finanzieller Kraftakt, den wir uns eigentlich gar nicht leisten können. Wir haben ihn in Kauf genommen, weil wir überzeugt sind, daß er dazu beitragen kann, Sprachlosigkeiten und Mißverständnisse zwischen Deutschen und LateinamerikanerInnen zu überwinden. (Daß das Loch in unserer Kasse nicht noch größer wurde, verdanken wir einem Druckkostenzuschuß der „Stiftung Umverteilen“ Berlin.)

Wir würden uns sehr freuen, wenn sich der/die eine oder andere LeserIn entschließen könnte, durch eine Spende dazu beizutragen, daß außergewöhnliche Projekte dieser Art auch in Zukunft möglich sind (Gerade in diesen Tagen der 13. Monatsgehälter scheint uns dieser Gedanke ausnahmsweise erlaubt…)

Herzlich bedanken möchten wir uns bei allen, die zum Gelingen beigetragen haben: Neben den AutorInnen und ÜbersetzerInnen gilt unser besonderer Dank Ray-Güde Mertin, Irmgard Ackermann und Peter Seibert für wichtige Hinweise und die Herstellung von Kontakten.

die Redaktionen der ila und der ila-latina


Schwerpunkt

6  Martin Franzbach
Im Schatten der Geschichte(n)
Lateinamerikanische AutorInnen in Deutschland

10  Literatur im Ghetto?
Interview mit Walter Lingán

18  „Ich fühle mich in keiner Herde wohl“
Interview mit Luis Sepúlveda

 

PROSA,  LYRIK,  ESSAYS

22  Esther Andradi
Graswurzeln
oder  Meine Version vom „inneren Rasenfleckchen“ 

24  Carlos  Briones
Das Lied des Flohs
Ein Fragment

28  Carlos Alberto Azevedo
Der Ornithologe

30  Melacio Castro
Lima

34  Lucía Charún-Illescas
Eine falsche Peruanerin

36  María Cano Caunedo
Hommage

38  Jesús Díaz
Berliner Geschichten
Ein Cubaner in Berlin

42  Irma González de Jahn
Gedichte

44  Jorge Guaneme
Erfahrungen und Inspirationen

46  Pedro C. Holz
Asyl

48  Walter Lingán
Die Musikanten der Pokaelypse
Fragment

52  Israel Pérez
Pathétique

54  João Ubaldo Ribeiro
Die Suche nach den Deutschen

56  Sonia Solarte
Besiedlung und Vergessen

58  Omar Saavedra Santis
Die ihn im Exil kannten…

60  Maximiliano La Tessa
Die Schufte und das Gefühl, ein Dummkopf zu sein
Fragment

62  Holger Valqui
Der letzte Geburtstag von Señor Gómez Puente

 

PROJEKTE

66  Gert Eisenbürger / Walter Lingán
Theater mit Untertiteln
Das spanischsprachige  „Teatro Sur“ in Köln

70  Sonia Solarte / Amalia Valenzuela
Projektion unserer Wünsche
Die Berliner Frauen-Schreibwerkstatt „Xochicuicatl“

72  Gert Eisenbürger
Bücher und  mehr…
Spanisch- lateinamerikanische Buchhandlungen in der  BRD

 

BÜCHER UND AUTORiNNEN

76  Buchbesprechungen

88  Die Autorinnen und Autoren
Wissenswertes über ihr Leben und ihr Werk

94  Notizen aus der Bewegung

95  Zeitschriftenschau, Impressum