Kaum war das von der UNO ausgerufene Internationale Jahr der eingeborenen Völker zu Ende gegangen, fielen die ersten Schüsse, abgefeuert von indianischen Händen aus „weißen“ Gewehren. Die Glocken, die am 1. Januar 1994 den Eintritt Mexicos in eine neue Ära, in die Erste Welt des Nordens, einläuten sollten, wurden übertönt durch Gewehrsalven aus dem Süden des Landes, wo die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee EZLN mit einer sorgfältig vorbereiteten Aktion die Bühne der Geschichte betrat. Wenige Tage nach dem Fest der „Heiligen Drei Könige“ (Los reyes magos) ist in Mexico eine Situation entstanden, in der die ganze Nation wie gebannt auf drei andere Akteure starrt, von deren politischem Verhandlungsgeschick die Zukunft des Landes wesentlich abhängen wird: den Guerillasprecher, den kirchlichen Vermittler und den Regierungsemissär. Noch haben sich diese drei Repräsentanten nicht getroffen, tasten sie sich ab bzw. in konzentrischen Kreisen aufeinander zu. Die Zeit dürfte jedoch in diesem Falle Verbündete der Aufständischen sein, haben diese es mit ihrer Aktion doch geschafft, die Gesellschaft dazu zu bringen, eine längst überfällige Debatte über sich und ihren (Fehl-)Entwicklungsprozeß zu führen. Noch heute, am 1. Februar, herrscht großes Rätselraten darüber, wie es möglich sein konnte, daß sich eine so schlagkräftige Guerilla-Armee ungehindert vom mexicanischen Geheimdienst in der chiapanekischen Selva formieren konnte. Billige Propaganda, nach der die „Transgressoren“ (so die offizielle Terminologie in den ersten Tagen – die „Gesetzesübertreter“) logistische und finanzielle Unterstützung aus dem Ausland – namentlich von der guatemaltekischen URNG und den Restbeständen des peruanischen „Leuchtenden Pfades“ – erhalten haben müssen, erwies sich angesichts der offensichtlich breiten Unterstützung in der Region selbst und im ganzen Land als unhaltbar bzw. als Bumerang für die Regierung, die damit nur ihre Unfähigkeit dokumentierte. Die entscheidende Frage, die die politische Öffentlichkeit sicher auch noch in den nächsten Monaten beschäftigen wird, ist die nach der politisch-sozialen Basis dieser Bewegung. Handelt es sich hierbei um eine autonom agierende ethnische Bewegung, die sich als solche in ihren Zielen und Methoden von gewohnten Politikmustern abgrenzt, zwar auch allgemein-politische Forderungen aufstellt, aber ihre Festigkeit aus einer mehrheitlich indianischen Führung zieht? Oder handelt es sich um eine straff organisierte politisch-militärische Organisation, die es verstanden hat, sich einer breiten, mehrheitlich indianischen sozialen Basis zu versichern, und die angetreten ist, die Politik des Landes mit Blick auf die im Sommer stattfindenden Wahlen insgesamt umzukrempeln? Die derzeitige Regierung jedenfalls steht unter einem Zugzwang, den sich der Ende des Jahres aus dem Amt scheidende, erfolgsgewohnte Präsident Salinas de Gortari nie hat vorstellen können. Auf alle politischen Forderungen nach mehr Demokratie und Partizipation hat die derzeitige Regierungsmannschaft stets mit großartigen Versprechungen und ökonomischen Beschwichtigungs-Maßnahmen reagiert. Das im Eiltempo durchgezogene Programm des „sozialen Liberalismus“ hat zwar formell die Stellung der PRI-Dynastie, und hier insbesondere die Stellung des Präsidenten, zu konsolidieren vermocht, gleichzeitig aber auch anwachsendes Elend in dem informellen Mehrheits-Sektor der Bevölkerung nach sich gezogen. Ausgerechnet aus einem Landesteil und von einer Bevölkerungsgruppe, die am weitesten vom Machtzentrum des Landes entfernt sind und in den untersten Rängen der wirtschaftlichen Erfolgsstatistiken stehen, wurde nun „Basta!“ gerufen, und die aufoktroyierte Statistenrolle in dem auf außenwirtschaftliche und außenpolitische Erfolge ausgerichteten System aufgekündigt. Das hat überrascht, aber auch Hoffnung geweckt – in Mexico, in anderen lateinamerikanischen Ländern und auch hier, weil scheinbar unangreifbare und erdrückende Macht- und Wirtschaftsgefüge wie das mexicanische eben doch erschütterbar sind, wenn die Opfer zu handelnden Subjekten werden. Auch wenn überhaupt nicht absehbar ist, ob und welche positiven gesellschaftlichen Veränderungen diese Bewegung anstoßen kann, tut es gut, daran erinnert zu werden.
P.S. Aufgrund der Ereignisse in Chiapas haben wir die Schwerpunktplanung dieser Nummer etwas geändert. Nach der ursprünglichen Planung sollte der Schwerpunkt Gilberto Bosques gewidmet sein, jenem mexicanischen Diplomaten, der als Generalkonsul seines Landes in Marseille Tausenden von AntifaschistInnen aus allen europäischen Ländern die Flucht vor den Nazis und den Schergen Francos ermöglichte. Die hierfür vorgesehenen Beiträge, insbesondere das Interview mit dem fast 102-Jährigen, erscheinen in der Rubrik „Lebenswege“ in dieser Ausgabe. Gerade heute, da sich die BRD gegen Flüchtlinge abschottet und die Entscheidung, ob ein Flüchtling überhaupt deutschen Boden betreten kann, in die diplomatischen Vertretungen der BRD im Ausland verlegt wird, ist es überaus wichtig, an diesen herausragenden Diplomaten zu erinnern, der zu seiner Zeit wußte, was zu tun war.